Die Geschichte von Kain und Abel ist berühmt und rätselhaft. Sie erzählt vom Urmord, vom Brudermord, sie beschreibt eine vergiftete Nähe, die in Brutalität, in Vernichtung umschlägt, und sie berichtet davon, daß Kain, der Mörder, von Gott mit einem Mal gezeichnet wurde, das ihn zugleich brandmarkte und schützte.
Hermann Hesse überträgt in seinem Roman Demian das Kainszeichen auf eine Gruppe auserwählter, erwachter, jedenfalls besonderer Menschen, die er anders leben, tiefer empfinden und den je eigenen Gott suchen läßt. Das Mal ist dort kein Schandzeichen mehr, und es ist nicht mehr für jeden sichtbar, sondern nur für jene, die einander zu erkennen vermögen. Vom Stamme Kains zu sein bedeutet nun, der Masse aufgrund von Besonderheit, Begabung, natürlichem Adel suspekt und verhaßt zu sein.
Kain hat in der Deutung Hesses zu Recht getan, was er tat, denn er vermochte es, es stand ihm zu, und das Gesetz lag in ihm selbst. Außerdem war er derjenige, der übrigblieb – das schlagende Argument des Täters gegenüber dem Toten. Nachdem ihn Gott gezeichnet hatte, ging er fort und begründete eine Dynastie.
In der Geschlechterfolge nach Kain seien, so Hesse, seither immer wieder solche aufgetreten, die das Mal ererbt und sich ihm würdig erwiesen hätten – die also taten, was sie wollten, und sich nicht um das scherten, was Gott im Dialog mit Kain warnend als gut und böse voneinander schied. (Es ist mehr als interessant zu beobachten, welcher Leser die Vereinnahmung der Kainsgeschichte durch Hesse als Befreiung begreift und wer sie als Überspanntheit ablehnt.)
Jedenfalls: Die warnenden Worte Gottes an Kain, innezuhalten und der Versuchung durch den Dämon zu widerstehen, stehen im Zentrum eines anderen Romans. In John Steinbecks Jenseits von Eden bildet die Geschichte von Kain und Abel überhaupt das Gerüst der Erzählung. Brüderpaare stoßen aufeinander, der eine Sohn wird vom Vater mehr geliebt als der andere – warum, bleibt unergründlich, so wie es unergründlich blieb, daß Gott Abels Opferlamm mit Wohlgefallen betrachtete, während er Kains Gabe keines Blickes würdigte.
Liebe, Mißachtung, grundlose Zuneigung, fatale Hierarchie – alles dies ist zugeteilt, es ist von Anfang an und von Grund auf nicht gerecht verteilt, und Leid und Haß und Mord wachsen daraus.
In Steinbecks Roman ist es der Chinese Lee, den die Geschichte von Kain und Abel so sehr beeindruckt, daß er sie wieder und wieder liest und die verschiedenen Übersetzungen zu vergleichen beginnt. Dabei stößt er an entscheidender Stelle auf zwei Versionen, deren unterschiedliche Bedeutung ihn verstört. Undenkbar sei doch, daß in solch einer zentralen, für jeden einzelnen Menschen grundlegenden Erzählung Deutungsspielraum bleibe.
Lee bezieht sich auf die Worte Gottes, der den erzürnten Kain lehrt, indem er ihm seine Lage vorhält. In Luthers Übersetzung lautet diese Stelle: »Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.« (Genesis, 4,7)
Entscheidend ist der letzte Halbsatz. Es gibt Übersetzungen, die – wie die Lutherbibel – auf die Versuchung durch die Sünde »Du sollst sie beherrschen« sagen, also einen Befehl, einen Auftrag erteilen. Andere Übersetzungen sprechen eine Zuversicht aus: »Du wirst sie beherrschen« (so die Übertragung in der King-James-Bibel), und es mag sein, daß diese Überzeugung Gottes, jeder werde stark genug sein und der Versuchung widerstehen, die Menschen dazu verleitet, eine zu hohe Meinung von sich selbst zu haben. Für Lee ist dieser Unterschied so schwerwiegend, daß er Hebräisch lernt, um den Urtext zu befragen. Nach zweijähriger Mühe stellt er fest, daß das hebräische Wort »timschal« weder »Du sollst« noch »Du wirst«, sondern »Du kannst« bedeutet.
Die Freude Lees über diese Würdigung des Menschen und sein Loblied auf ihn als Geschöpf, dem Gott es anheimstellt, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden, gehören zu den schönsten Passagen einer Geschichte, die weit jenseits von Eden spielt. Vielleicht sollte man sagen: Zu begreifen, welches Gottvertrauen hinter dem »Du kannst« steckt, mag eine der wichtigsten Lehren in einer Zeit sein, in der das »Du sollst« in einen falschen Gehorsam führt und das »Du wirst« in die Hybris.