Für eine nüchterne Betrachtung der Figuren, die im Laufe der vergangenen zwei Jahre die sogenannten Coronademos bevölkert haben, braucht man klare Linsen.
Alfred North Whitehead (1861 – 1947) hat in Wie entsteht Religion ? (1926) geschrieben: »Ein Großteil aller Psychologie ist Herdenpsychologie. Aber alle kollektiven Gefühle lassen die schreckliche elementare Tatsache unberührt, das menschliche Wesen nämlich, das bewußt um seiner selbst willen mit sich allein ist. Religion ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht. […] Und wer niemals solitär ist, ist niemals religiös. Kollektive Begeisterungen, Erweckungsbewegungen, Kirchen, Bibeln, Verhaltensnormen sind die äußeren Zeichen von Religion, ihre vergänglichen Formen. Sie können nützlich oder schädlich, sie können autoritativ verordnet oder bloß vorübergehende Notbehelfe sein. Aber das Ziel von Religion liegt jenseits von alledem.«
Was soll diese Definition von Religion mit politischen Demonstrationen zu tun haben? Das läßt sich im folgenden klären.
Solitärsein also – eine Existenzform, die mit Herdenpsychologie nicht zu erfassen ist. Nun ist die Demonstration als solche eine der lupenreinen Erscheinungsformen von herdenpsychologischen Antrieben. Noch einmal Whitehead: »Ritual ist das primitive Produkt aus überschüssiger Energie und Müßiggang. Es exemplifiziert die Tendenz lebender Körper, ihre eigenen Handlungen zu wiederholen. […] Das Ritual ist eindrucksvoller, das Gefühl kräftiger, wenn eine ganze Gesellschaft in dasselbe Ritual und dasselbe Gefühl vertieft ist.«
Auf diesen Demonstrationen, Exemplifikationen kollektiver Gefühle, fand ich lauter Solitäre, Käuze, »dionysische Individuen« (Rolf Peter Sieferle) und Typen vom Rande der Gesellschaft. Ich nehme mit Whitehead an, daß ein möglicher Grund dafür religiöser Art ist.
Das heißt natürlich nicht, daß es sich um, äußerlich betrachtet, religiöse Veranstaltungen handelte (nur ein sehr kleiner Teil entstammte beispielsweise dem traditionalistischen »Katholischen Widerstand« oder bestand aus pfingstlerischen »Christen im Widerstand«). Der Begriff des »Großen Erwachens« ist hier vorläufig verwendbar – aber er klärt das Verhältnis von Solitären zu einer kollektiven Bewegung nicht, sondern verdunkelt es, weil er selbst suggestive Erweckungsbotschaften transportiert.
Die sogenannten Coronademos hatten von Anfang an eine spirituelle Dimension. Das hängt damit zusammen, daß das »Erwachen« nicht bloß ein politisches oder soziales Erkennen von kritikwürdigen Maßnahmen und Machtverhältnissen war, sondern in der »Wahrheitsbewegung« (a conto derer diese Veranstaltungen im wesentlichen gehen, auch wenn das viele Rechte schlecht verknusen können) die politmediale Herrschaft der Lügen stets zusammengedacht wird mit dem täuschenden Urheber der Lügen: Der täuschende Urheber der Lüge ist der »altböse Feind« (Martin Luther). Nicht wenige Demo-Reden, Plakate, Songs und in den alternativen Medien kolportierte Hintergründe bezogen sich auf theologische Topoi: die Apokalypse, das große Tier, Licht und Finsternis, Michael und Satan.
Sozialpsychologen mühen sich seit Beginn der Herrschaft unter dem Zeichen des globalistischen Virus mit Erklärungen, wie das gleichgeschaltete Verhalten der Masse zustandekommt: von »Corona-Angst« (Hans-Joachim Maaz) über »die traumatisierte Gesellschaft« (Raik Garve) bis zur »Massenformierungspsychose« (Mattias Desmet) reichen ihre Erklärungsansätze. Alle machen deutlich, daß Massenwahn ein anthropologisch gesehen altbekanntes Phänomen ist. Ebenso altbekannterweise ist Pathologisierung ein Zuschreibungsspiel: irre ist immer der andere. Wenn im »Coronismus« nun von kollektivpsychologischen Diagnosen die Rede ist, dann deshalb, weil wir hier eine neue Qualitätsstufe betreten:
Eine nie gesehene globale Steuerung und Uniformierung durch das »Sprachregime« (Michael Esders) in der Allianz von Big Tech, Big Pharma und Regierungen führt gewissermaßen an den eigenen Leuten das durch, was man im militärischen Sprachgebrauch eine psychological operation (PsyOp) am Feind nennt.
Ein äußerlich erkennbares Merkmal der gegenwärtig laufenden PsyOp ist das politreligiöse Ritual, welches »überschüssige Energie und Müßiggang« der Masse bindet und sie dazu bringt, »ihre eigenen Handlungen zu wiederholen«. Wie entziehen sich nun konkrete Leute diesem Zugriff? Wie kommt es, daß manche Menschen einer PsyOp unzugänglich zu sein scheinen? Was sind das für Figuren?
Bei einer der ersten Demos in Wien appellierte eine hennagefärbte drahtige Oma, die mit einem Roller angefahren kam, an dem ein Stoffplakat mit einem bunten Reigen von Kindern aller Rassen befestigt war, händeringend an den grünen österreichischen Präsidenten Alexander Van der Bellen, er möge kraft seines Amtes diese Regierung absetzen. Eine Rednerin mit Zöpfen und Bommelhaube sprach ohne Punkt und Komma von ihrem großen Vorbild, dem österreichischen Urgestein der Ökologiebewegung, Freda Meissner-Blau. Später sah ich ein Plakat, auf dem geschrieben stand: »Grün im Herzen und trotzdem hier«.
Als Grüner gegen eine Grünen-Regierung demonstrieren – der Grund dafür dürfte darin liegen, daß diese Leute zu spät bemerkt haben, daß längst nicht mehr die alten Umwelt- und Lebensschutzideale von dieser einstmals »alternativen« Partei vertreten werden. Daß die Grünen längst die Globalistenelite verkörpern und in einem Boot mit Big Tech, Big Pharma und Big Media sitzen, fällt alten Grünen wesentlich eher auf als jungen. Denn der Ursprung der Grünen hat nicht zu vernachlässigende spirituelle Wurzeln. Zwischen Anthroposophie, Yoga und New Age sprossen die damaligen »Alternativen« in die Höhe. Das Motiv des »neuen Zeitalters« und des »Bewußt-Seins« gehört zu ihrer Sozialisation, damit aber auch der Verdacht gegen das System, gegen »verkrustete Strukturen«, gegen die Massengesellschaft. Die schwierige Gemengelage von »dionysischen Individuen« und »kritischer Masse«, die sich in den aktuellen Protesten zeigt, hat – zumindest in Wien – einige Ursprünge in ebendieser Alternativbewegung der vorigen Generation.
Der Wiener Akademikerbund (ich hielt dort schon Vorträge vor gebildeten alten Konservativen) hatte seinen Abendvortrag im November 2021 ins »Democamp« verlegt. Dort hockten eingemummelte Menschen zwischen den Zelten um zwei Lagerfeuer – wieder die mir schon vertraute Mischung: linke Engagierte (ein junger Mann mit Regenbogen-Indiostrickjacke brachte mir einen Hüttenzauber-Tee), Pensionisten (Greisin mit Hütchen und Schühchen, die muß gefroren haben!), hochbegabt wirkende Nerds, echte Verrückte, ganz biedere Eltern, wärmesuchende Sandler, ich sah auch einen Pechschwarzen und eine Chinesin. Im Baum saß ein grindiger rosa Stoffaffe, auf den jemand mit Filzstift geschrieben hatte: »Keine Menschenversuche!«
Der Akademikerbundvorsitzende Christian Zeitz faßte die Lage zusammen und beschrieb, daß das alles nicht plötzlich gekommen, sondern seit mindestens 30 Jahren vorbereitet worden sei: Vom Euro über die Lissabonverträge bis zur Migrationskrise steuerten wir auf das seit zwei Jahren an Fahrt aufnehmende Kontrollsystem zu. Er war übrigens der allererste hierzulande, von dem ich per E‑Mail-Newsletter »Coronakritisches« las im Frühjahr 2020.
Man könnte meinen, so jemand braucht nicht zu »kippen«, der ist schon systemkritisch, seit er denken kann, ein echter Rechter. Doch was treibt ihn in den Stadtpark? Auch hier wieder: die spirituelle Dimension. Der Akademikerbund ruft alljährlich zum »Marsch für das Leben« gegen Abtreibung auf und ist tief im traditional-katholischen Milieu verankert, das mit der NGO-Amtskirche gebrochen hat. Alternative Rechte? Manchmal schlägt das ideologische Metronom weit aus. Ich hatte kurz den Gedanken: »Menschenliebe« vereint ernste Christen und traumtänzerische Alternative gegen das »stahlharte Gehäuse der Hörigkeit« (Max Weber). Doch bei näherer Betrachtung würde kein Einvernehmen über die Praxis dieser Menschenliebe hergestellt werden können. Das »Democamp« wurde ein paar Tage später in aller Herrgottsfrühe von der Polizei geräumt.
2018 war ich samt Kindern aus der Waldorfschule entfernt worden wegen meiner politischen Gesinnung. Einer der damaligen Vorstandsmitglieder begegnete mir im vergangenen Jahr wieder als Betreiber eines kritischen Telegram-Kanals. Unverhofft befand sich dieser Mann mit mir auf derselben Seite des Kippbildes. Hier dürfte ein gutgläubiges Vertrauen in »unsere Demokratie« und »unsere Menschenwürde« dazu geführt haben, daß er sich gegen den Maßnahmenstaat, der ebendiese gefährdet, einsetzt, um sie wieder in ihr Recht zu versetzen. Er würde wohl an einer fraternisierenden Demobegegnung kaum Freude haben, denn auch ich dürfte in seinen Augen als »Rechtsextremistin« weiterhin danach trachten, »unsere Demokratie« und »unsere Menschenwürde« abzuschaffen.
So jemand denkt in politischen Kollektiven und hat wahrscheinlich – obschon er sich damals in der Waldorflehrerausbildung befand, also spirituelle Grundlagen erworben hat – wenig Bedarf an Whiteheads geistiger Einsamkeit. Allerdings: Auch er ist aus der Schlinge der PsyOp geschlüpft.
Bleibt noch der Typus Martin Rutter. Der war als Kärntner Patriot erst Grünen-Politiker, dann bei Frank Stronachs Libertären, dann bei Haiders BZÖ, inzwischen ist er einer der führenden Demonstrationsorganisatoren gegen die »Corona-Maßnahmen« Österreichs. Sein Antrieb: Basisdemokratie statt Elitensumpf. Handelt es sich bei ihm um eine Kippfigur? Eines unserer Kriterien für politische Rechte war in Mit Linken leben (2017) die Bruchlinie »globalistisch vs. identitär«.
Daran gemessen, befand sich Rutter immer klar auf der identitären Seite, auf seiten »des Volkes«. Kann ein Rechter Basisdemokrat sein? Die neuentstandene maßnahmenkritische Partei Die Basis ist alles andere als rechtslastig. »Basisdemokratie« geht auf linke Graswurzelbewegungen, Bürgerinitiativen und letztlich auf Rosa Luxemburgs Ausführungen zur Spontaneität der Massen zurück.
Kippfiguren sind grundverschieden von Querfrontfiguren. Ähnlich wie Christian Zeitz vom Akademikerbund vertritt Rutter ein »identitäres Christentum«, das in den vergangenen Jahren vor allem islamkritisch ausgerichtet war und aktuell kondensiert in einem »Gott mit uns«-Patriotismus. Politisierte Religiosität ist grundverschieden vom religionsermöglichenden Solitärsein.
Was können Gründe dafür sein, daß bestimmte Leute kaum formierbar sind durch Massenpsychosen? Ich nehme vier Möglichkeiten an, gewiß gibt es mehr:
Im Netz kursiert das Midwit-Mem: es stellt die Gaußsche Normalverteilungskurve der Intelligenz dar, ganz links ein paar Leutchen ohne Maske im minderbemittelten Bereich, in der Mitte die Maske der Maskenträger, ganz rechts ein paar hyperintelligente Leutchen ohne Maske. Es gibt auch Versionen mit »Ich laß mich doch nicht verarschen!« links und epidemiologischen Beweisführungen rechts usw.
Rein sozioökonomische Gründe, die berühmten »Abstiegsängste« also, führen noch nicht zu innerlichem Lossagen von einer übermächtigen Erzählung. Gerade die untere Mittelschicht ist erpreßbar. Es kommen, respektive im Osten der BRD und bei osteuropäischen Einwanderern, biographische Brüche hinzu: Kommt jemandem gerade allzu vieles sehr, sehr bekannt vor, dann fürchtet er plötzlich auch diesen Staat.
Wer aus den allerunterschiedlichsten Gründen »anders ist« als die Mehrheit, hat mit größerer Wahrscheinlichkeit keine Neigung, bei Gruppenspielen der Mehrheit mitzumachen. Wer also schon vor 2020 dem »falschen Leben« (Hans-Joachim Maaz) den Rücken gekehrt hat, der ist gebranntes Kind und scheut das Dauerfeuer aus allen Medienrohren.
Und eine besondere Form des Andersseins, das Nicht-ganz-von-dieser-Welt-Sein, dürfte einen besonders effektiven Schutz vor dem NWO-Virus gewährleisten. Die Formel vom »Großen Erwachen« trifft insofern einen richtigen Punkt, als es um eine geistige Ebene geht, die da in die politische Sphäre hineinspielt. Unsere Bruchlinien aus Mit Linken leben (globalistisch vs. identitär, realistisch vs. utopistisch, mißtrauisch vs. den Massenmedien vertrauend) gewinnen eine metaphysische Dimension, wenn der Allianz aus Globalismus, Utopie und Medien eine Täuschungsabsicht zugeschrieben wird. Viele Protestler kritisieren nicht nur die Regierung, also bestimmte Politiker und Parteien und die von ihnen verhängten Maßnahmen, sondern erkennen dahinter ein veritables Lügenwerk. Die »Wahrheitsbewegung« fordert nicht bloß Aufdeckungsarbeit von Investigativjournalisten, sondern ihr Wahrheitsbegriff trägt auch religiösen Offenbarungscharakter.
Es gibt das Hin und Herkippen, die Bewegung zwischen politischen Kollektiven: von rechts nach links oder von links nach rechts. Mancher vermeintlich »Erwachte« landet nach sozial durchaus folgenschwerem Verrat an seiner Herkunftsgruppe unversehens im nächsten Gruppentaumel. Es gibt das Wegkippen, die fallende Bewegung in unterschiedliche Formen von Wahn, sei es kollektiver oder idiosynkratischer. Doch wer definiert des anderen Wahn? Es gibt ferner, und die ist die seltenste, die Bewegung, die das eigene Kippen aufzuhalten versucht.
Stehaufmännchen haben unten im Leib einen Schwerpunkt und kommen nach heftigem Kippen stets wieder in aufrechte Stellung. Das liegt an der Schwerkraft. Das Stehaufmännchen verhält sich wie der »Gliedermann« in Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater.
Uns ist kein solcher Automatismus eingebaut worden – was dazu führt, daß Menschen, bringt sie die anstößige Gesellschaft ins Kippen, nicht von selbst in aufrechte Stellung kommen. Wir sind der Aufrichtung bedürftig. Diese allein ist jene Bewegung, die das Kippen aufhält. Peter Sloterdijk schrieb von der »Vertikalspannung«. Es handelt sich um eine Bewegung von oben nach unten und dann wieder hinauf: Ohne das, was die Mystiker die »Herablassung Gottes« nannten, ist der Mensch nicht in der Lage, zu bemerken, wohin er sich richten soll.
Erst wenn er diese bemerkt, kann sich sein Herz nach oben richten (»Sursum corda« heißt es in der Liturgie: »Erhebet die Herzen!«). Auch wenn sich der Appell an die Gemeinde richtet, die eine Gruppe darstellt, die wiederum ein Ritual ausübt, kann doch nur der Solitär sein eigenes Herz erheben. Noch einmal: »Religion ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht.«
Anfangs ist die Herzenserhebung noch instabil, die Bewegung kippelig, die Verführung der Gruppe groß (denn auch kritische Massen unterliegen der Gefahr der Massenformierungspsychose). Und doch sieht man paradoxerweise gerade unter den Zehntausenden auf den »Coronademos« bestimmte Figuren, in deren Gesichtern man lesen kann, daß sie nicht mehr schwanken. Sie sind weder besonders erleuchtet, fromm, erwählt noch erwacht in einem endgültigen und Anlaß zu Hochmut gebenden Sinne, sondern das, was meine Mutter als alte Grüne »bewußt« nennen würde.
Ohne die Vertikalspannung, ohne die strenge Konzentration aufs eigene Wachstum wächst aber die Gefahr, daß die Leute sich beim Spazierengehen verrennen. Die Energie droht zu verpuffen, die Angst, umsonst zu demonstrieren, wächst und damit die Neigung, sich in Wahnvorstellungen einzumauern. Das Solitärsein ist eine wesentlich schwerere Aufgabe als das Kippen, als das politische Seitenwechseln, weil es eine dauerhafte, lebenslängliche Aufgabe ist.