In memoriam: Wolfgang Schivelbusch

Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch ist tot. Er verstarb am 26. März in Berlin. Ellen Kositzas Würdigung ist eine Wiedervorlage:

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Der Text erschien im Novem­ber 2021 zu Schi­vel­buschs 80. Geburts­tag. Hier ist die PDF der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 106.

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Der Selbst­den­ker Wolf­gang Schivelbusch

Am 26. Novem­ber 2021 hat der Sozio­lo­ge, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­soph Wolf­gang Schi­vel­busch sei­nen 80. Geburts­tag began­gen. Sämt­li­che sei­ner gedruck­ten, meist einer men­ta­li­täts­ge­schicht­li­chen Betrach­tung ver­haf­te­ten Wer­ke tra­gen Titel, die von Neu­gier und einem beson­de­ren Blick zeugen.

Sie lau­ten unter ande­rem: Geschich­te der Eisen­bahn­rei­se (1977), Das Para­dies, der Geschmack und die Ver­nunft. Eine Geschich­te der Genuß­mit­tel (1980), Vor dem Vor­hang. Das geis­ti­ge Ber­lin 19451948 (1995), Die Kul­tur der Nie­der­la­ge: Der ame­ri­ka­ni­sche Süden 1865, Frank­reich 1871, Deutsch­land 1918 (2001) oder Rück­zug. Geschich­ten eines Tabus. (2019).

Bereits aus die­sen Titeln ist abzu­le­sen, daß Schi­vel­busch sich weni­ger als Theo­re­ti­ker denn als Beob­ach­ter, als Empi­ri­ker versteht.

Woll­te ich zu einem Ein­stiegs­buch in das Den­ken und den Wer­de­gang Schivel­buschs raten, täte ich sein bis­lang jüngs­tes Werk emp­feh­len: Die ­ande­re Sei­te. Leben und For­schen zwi­schen New York und Ber­lin (­Rowohlt 2021, 336 S., 26 €). Die groß­spu­ri­ge Über­schrift (ein poly­glot­ter Mann von Welt!) mag nach »Any­whe­re« (David Good­hart) und »Glo­bo­ho­mo« klin­gen – aber weit gefehlt. Schi­vel­busch ist ein Meis­ter der »teil­neh­men­den Beob­ach­tung«. Ein geschei­ter und agi­ler Mensch der Intel­lek­tu­el­len­kas­te bleibt näm­lich klu­ger­wei­se (Gegen­bei­spie­le: zuhauf) nicht dort, wo er (hier: im Gefol­ge der 68er) zunächst strandete.

Wie lau­tet das Bon­mot von Fried­rich Rück­ert aus dem frü­hen 19. Jahr­hun­dert? »Das sind die Wei­sen, die durch Irr­tum zur Wahr­heit rei­sen. Die bei dem Irr­tum ver­har­ren, das sind die Nar­ren.« All­zeit gül­tig, und gera­de für Herrn Schi­vel­busch! Er ist an sei­nen Irr­tü­mern groß gewor­den, obgleich er bis­lang kaum als Rene­gat begrif­fen wird. Wir wol­len sei­ne Lebens­erinnerungen, deren Nie­der­schrift sich offen­kun­dig schwie­rig gestal­te­te, weil er selbst an Schreib­hem­mung labo­rier­te und auf­grund des des­halb gewähl­ten Gesprächs­for­mats etli­che gelehr­te Inter­view­part­ner ver­schliß, spo­ra­disch nachzeichnen.

Die­se von ihm selbst benann­te »Schreib­hem­mung« erscheint mir übri­gens kaum erstaun­lich. Die meis­ten Schrif­ten Schi­vel­buschs sind nicht ad hoc zugäng­lich. Sie set­zen vor­aus, sie bedin­gen ein Vor­wis­sen und die Kennt­nis einer bestimm­ten Spra­che. Es sind so anstren­gen­de wie reich­hal­ti­ge Lek­tü­ren. Die ande­re Sei­te nun ist aus­schließ­lich letzteres.

1948 ist Schi­vel­busch in den Nach­kriegs­wir­ren mit sei­nen Eltern von sei­nem Geburts­ort Ber­lin nach Frank­furt am Main umge­zo­gen. Sei­ne frü­hen Kind­heits­er­in­ne­run­gen bezie­hen sich auf die »Aura der Macht des Sie­gers« – alles avant la lett­re, zumal die­se Begriff­lich­kei­ten damals nicht exis­tier­ten. Betö­rend waren für den jun­gen Schi­vel­busch jeden­falls die »Aus­strah­lung von Reich­tum«, eine »finan­zi­el­le Schön­heit« und die Art, wie die GIs ihre Bade­ho­sen tru­gen: sport­lich, ele­gant, spie­le­risch, eine »Ent­spannt­heit im Lei­be, die uns anzog«. Die deut­schen Ver­lie­rer hin­ge­gen tru­gen im Frei­bad die­se »schwer­fäl­li­gen wol­le­nen Din­ger aus der Vor­kriegs­zeit«. Das ist kein her­ab­las­sen­des Ver­dikt – das ist die Welt, mit den Augen eines Kin­des gesehen.

Schi­vel­buschs Vater war sowohl vor als auch nach dem Zwei­ten Welt­krieg inter­na­tio­nal (New York, Süd­ame­ri­ka) unter­wegs und hat­te eine Stel­lung als Außen­ver­tre­ter einer Bre­mer Über­see-Spe­di­ti­on ange­nom­men. Dadurch besaß er viel weni­ger »Macht« als etwa ein Pro­ku­rist in der Firmen­zentrale. Aber er hat­te gro­ße per­sön­li­che Frei­hei­ten und vor allem das, was der Sohn erst spä­ter anhand von Carl-Schmitt-Lek­tü­re dechif­frie­ren soll­te: einen Rang als »Ver­trau­ter des Macht­ha­bers«. Sei­nen bei­den Söh­nen hat­te der Vater mit­ge­ge­ben: Sie soll­ten nie ver­su­chen, sich zu Hel­den zu machen, son­dern so klug sein, sich im Hin­ter­grund zu halten.

Wolf­gang Schi­vel­busch wird das spä­ter in den schö­nen Begriff der »macht­lo­sen Sou­ve­rä­ni­tät« fas­sen. Im Film­erleb­nis La dol­ce vita (1960) sah der jun­ge Schi­vel­busch eine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur in Mar­cel­lo Mastroi­an­ni: »einer, der selbst nicht zu der Welt gehört, in der er ver­kehrt und die er beob­ach­tet, aber deren Attrak­ti­vi­tät er genießt«. Es geht um »das völ­li­ge Des­in­ter­es­se, mei­ner­seits Teil einer Hier­ar­chie zu wer­den, statt des­sen der Wunsch, von außen zu beob­ach­ten.« Man könn­te es Wahr­neh­mungs­avant­gar­de nennen.

Nach dem Abitur hat­te Schi­vel­busch, sol­cher­art gerüs­tet, wenig Lust auf ein Stu­di­um, in dem er hät­te och­sen und büf­feln müs­sen. Er wur­de für zwei Jah­re Volon­tär beim Wies­ba­de­ner Kurier und erlern­te das jour­na­lis­ti­sche Hand­werk. Ihn lock­te die Vor­stel­lung, »in die Köp­fe der Men­schen zu gelan­gen.« Im Rück­blick beschreibt er selbst­kri­tisch, wie ihn der Gedan­ke befeu­ert hat­te, daß vie­le der Pas­san­ten, die ihm auf dem täg­li­chen Weg von Frank­furt nach Wies­ba­den begeg­ne­ten, soeben Tex­te von ihm gele­sen hat­ten, »ohne daß sie etwas davon ahn­ten, das war mei­ne Form des Nar­ziß­mus.« (Nar­ziß­mus – die seit Jah­ren modi­sche Dau­er­schlei­fen­dia­gno­se, nun sogar als Selbst­be­zich­ti­gung! Dabei: Wer sich mit­tei­len will, hat viel­leicht Grün­de, die jen­seits eines psy­chi­schen Man­kos lie­gen. Die Nahe­legung psy­cho­pa­tho­lo­gi­scher Begrif­fe zwecks Selbst­er­grün­dung ver­dien­te eigent­lich eine geson­der­te Abhandlung.)

Die zwei Jah­re Zei­tungs­ar­beit erfüll­ten jeden­falls ihren Zweck – näm­lich Schi­vel­buschs Lern­über­drüs­sig­keit und sei­nen Rea­li­täts­hun­ger zu kurie­ren. »Sie ver­kehr­ten sie ins Gegen­teil. Rea­li­täts­über­drüs­sig und lern­hung­rig tat ich nun das, was mei­ne Schul­ka­me­ra­den zwei Jah­re frü­her begon­nen hat­ten, ich ging an die Uni­ver­si­tät. Zuerst an die FU in Ber­lin. Dann Frankfurt.«

Im Semes­ter 1964 / 65 nimmt Schi­vel­busch an einem Semi­nar von Hans Magnus Enzens­ber­ger teil. Die Haus­ar­beit bestand dar­in, eine Buch­re­zen­si­on zu ver­fas­sen. Schi­vel­busch: »Ich erin­ne­re mich nur, daß ich in mei­nem Ela­bo­rat alle Regis­ter der jour­na­lis­ti­schen Phra­seo­lo­gie zog. Inklu­si­ve der Abschluß­for­mel, dies sei wohl noch kein Meis­ter­werk, aber wir – der Rezen­sent im Plu­ra­lis maje­s­ta­tis – sähen dem nächs­ten Werk die­ses nicht ganz unin­ter­es­san­ten Autors mit Inter­es­se ent­ge­gen. Was dar­auf­hin erfolg­te, war ein lau­tes Geläch­ter oder viel­mehr ein Ausgelächter.

Statt Bewun­de­rung für mei­ne ver­meint­li­che jour­na­lis­ti­sche Ele­ganz ern­te­te ich von den erfah­re­ne­ren Kom­mi­li­to­nen den rei­nen Hohn. So hat­te ich mir mei­ne Jour­na­lis­ten­kar­rie­re nach dem Vor­bild Mar­cel­lo Mastroi­an­nis nicht vor­ge­stellt. Aber die­se kal­te Dusche war nütz­lich, da sie den gan­zen jour­na­lis­ti­schen Sprach­müll, den ich in den zwei Jah­ren Zei­tungs­schrei­be­rei in mir ange­sam­melt hat­te, mit einem Schwung wegspülte.

Was von der jour­na­lis­ti­schen Erfah­rung blieb, war aller­dings auch nicht unwich­tig. Denn sie immu­ni­sier­te mich gegen den aka­de­mi­schen Jar­gon, in den die eben noch hohn­la­chen­den Kom­mi­li­to­nen nun ihrer­seits ver­fie­len, ohne sich natür­lich bewußt zu sein, daß auch die­ser Jar­gon Jar­gon war.«

Pas­sa­gen wie die­se, selbst­iro­nisch, und in die­sem Sich-selbst-auf-die-Schip­pe-Neh­men um so treff­li­cher den Zeit­geist fokus­sie­rend, machen ­Schi­vel­busch nicht nur nah­bar, son­dern zu einem ver­trau­ens­wür­di­gen, durch­aus demü­tig rück­bli­cken­den Zeu­gen ver­gan­ge­ner Akademiker­moden. Er kehr­te 1967 nach Ber­lin zurück. Hart­mut Lan­ge, Peter Hacks und ­Hei­ner Mül­ler (die er sämt­lich per­sön­lich ken­nen­lern­te) präg­ten ihn – ihnen galt dann auch sei­ne Dis­ser­ta­ti­on: Sozia­lis­ti­sches Dra­ma nach Brecht.

In beson­de­rer Wei­se war Schi­vel­busch sei­nem Men­tor Peter Szon­di zuge­tan. Über des­sen Wesen und Den­ken, über des­sen päd­ago­gi­schen Eros, des­sen Zugang zum Tra­gi­schen, über den Unter­schied zwi­schen einem »zere­bra­len« und einem dekla­mie­ren­den Szon­di war­tet Die ande­re Sei­te mit dich­ten Schil­de­run­gen auf, und ähn­li­ches gilt für die weg­wei­sen­de Beschäf­ti­gung mit dem Werk von Nor­bert Eli­as und Sieg­fried Kracauer.

Zurück zur Chro­no­lo­gie: Schi­vel­busch ent­deck­te den Mar­xis­mus für sich: »Oder viel­mehr das, was in der DDR als Mar­xis­mus aus­ge­ge­ben wur­de. Zum Bei­spiel nahm ich eine der par­tei­chi­ne­sisch geführ­ten ›Debat­ten‹ – Debat­ten in Anfüh­rungs­zei­chen – ernst und schrieb dar­über einen Arti­kel in den Frank­fur­ter Hef­ten. Das war eine Zeit­schrift, die in der frü­hen Bun­des­re­pu­blik eine intel­lek­tu­el­le Rol­le spiel­te. Heu­te wun­dert mich, daß der Redak­teur mir die­ses Ela­bo­rat abnahm. Es war alles ande­re als kri­tisch-mar­xis­tisch. Eine ahnungs­lo­se Nach­er­zäh­lung des Funktionärs­geschwätzes, das die DDR als Theo­rie ver­kauf­te und das ich Tor ernst genom­men hat­te. Ich kann mir die Kri­tik­lo­sig­keit des Redak­teurs und schlim­mer noch das Lob, das er mir spen­de­te, nur durch die in West­deutsch­land herr­schen­de Ahnungs­lo­sig­keit erklären.«

Nicht vie­le 68er-Rene­ga­ten, von ­denen es ja etli­che gibt, haben so selbst­kri­tisch und humor­voll zugleich ihre Rol­le im »Damals« beschrie­ben. Klaus Rai­ner Röhl? Des­sen Abrech­nun­gen trief­ten gleich wie­der vor Eitel­keit, und Rabehl: Der bog sich sei­ne Irr­tü­mer zurecht.

Wenn man sich nun nicht dem Sog die­ser so süf­fig wie süf­fi­sant erzähl­ten Anek­do­ten (etwa auch dies: War der Held in den gera­de auf­kom­men­den Italowes­tern gemäß der soeben erlern­ten mar­xis­ti­schen und leni­nis­ti­schen Lehr­sät­ze nun ein Revo­lu­tio­när oder Kon­ter­re­vo­lu­tio­när?) hin­gibt, friert einem das Schmun­zeln gele­gent­lich ein: Es ist ein leich­tes, heu­te über die hei­te­re Hip­pie­zeit zu höh­nen, deren Teil man selbst war. Selbst wenn man die­se Ära nicht als grund­stür­zend anse­hen mag – die­se Leu­te bedien­ten fröh­lich ein Schwung­rad, das sich bis heu­te dreht, auch wenn die dama­li­gen Antrei­ber längst wei­se oder müde gewor­den sind: Schi­vel­busch stell­te bei­zei­ten fest, daß in der lin­ken Hemi­sphä­re des Wes­tens »Ich-Kult und Anar­chie Teil und eigent­lich sogar die Haupt­stüt­ze des poli­tisch-öko­no­mi­schen Sys­tems waren. Im Real­so­zia­lis­mus waren sie der ver­fem­te Teil.«

Sol­che Sät­ze und knap­pen Urtei­le sind weg­wei­send. Schi­vel­busch ist bis heu­te kein »Beken­ner«, aber er weiß sehr viel und ver­schweigt es nicht. Er beschreibt bei­spiels­wei­se die »Schlacht am Tege­ler Weg« (Novem­ber 1968) als Abkehr von der »anti­au­to­ri­tä­ren Spaß­pha­se«. Am Tege­ler Weg sei es nun nicht mehr »spie­le­risch« zuge­gan­gen, son­dern (es kam zu Stein­wür­fen) »feind­se­lig und tod­ernst. Zu Wahl stan­den die Abwan­de­rung in ortho­do­xe mar­xis­tisch-leni­nis­tisch-mao­is­ti­sche Grup­pen oder eben Auswanderung.«

1970 reist Schi­vel­busch erst­mals in die USA – ein Wen­de­punkt. Der Autor zeigt sich heu­te noch ver­blüfft von sei­nem ers­ten Ame­ri­ka­ein­druck: Wie die­se »nie zuvor in der Geschich­te ver­wirk­lich­te« Kol­lu­si­on zwi­schen Frei­heit und mate­ri­el­lem Reich­tum und Genuß wahr­wer­den konn­te! Er wer­de »wahr­schein­lich nie begrei­fen«, wie das funk­tio­nie­re: »daß eine Kul­tur, die so viel auf ihren Indi­vi­dua­lis­mus hält, zugleich eine Kul­tur der Mas­sen­pro­duk­ti­on und eines Mas­sen­kon­su­mis­mus ist, von dem der Kom­mu­nis­mus nur träu­men konn­te. Noch rät­sel­haf­ter ist mir da, wenn ich die Glücks­erwartung sehe, die mit dem Mas­sen­kon­sum ver­bun­den ist wie die christ­li­che Erlö­sungs­er­war­tung mit dem Abendmahl.«

Vom US-ame­ri­ka­ni­schen Heart­land, von den (strikt repu­bli­ka­nisch gepräg­ten) »Fly­o­ver sta­tes« weiß Schi­vel­busch gleich­sam natur­ge­mäß nichts zu berich­ten. Das kern­ame­ri­ka­ni­sche »Hin­ter­land« blieb ihm in all sei­nen US-Jah­ren fern. »New York war der Punkt, an dem Euro­pa ende­te und Ame­ri­ka begann. Das war die für mich stra­te­gi­sche Position.«

Die übli­chen Mode­strö­mun­gen (Kri­ti­sche Theo­rie, Post­struk­tu­ra­lis­mus) faß­ten zwar lan­des­weit Fuß – aber »New York füg­te dem als beson­de­res Aro­ma die groß­städ­ti­sche Iro­nie hin­zu.« Schi­vel­busch wähn­te sich am rich­ti­gen Ort, er paß­te zu New York, es füg­te sich wohl gut, wenn einer von sei­nem For­mat neben der Meta- noch die Meta-Meta-Ebe­ne erklim­men konnte.

Wenn die­se Bezeich­nung in den letz­ten bei­den Jah­ren nicht auf den Hund gekom­men wäre, soll­te man Schi­vel­busch einen Quer­den­ker nen­nen: einen, der dia­go­nal, gegen den Strich und gegen die Fluß­rich­tung watet und dabei mit dem glaub­haf­ten Ges­tus des Ken­ners an den rich­ti­gen Stel­len sei­ne Angel aus­wirft. Er ist in sei­nen spä­te­ren Jah­ren kein Lager­den­ker, dient sich nie einer Rich­tung an. Und den­noch ist er ein Oppo­nent sui gene­ris, als wel­chen ihn gera­de die­ses unbe­dingt lesens­wer­te Spät­werk ausweist.

Hier bekennt er sei­ne »Vor­lie­be für jede Art der Kon­sens­stö­rung.« Sie müs­se bloß fun­diert sein, und der aufs Korn genom­me­ne Kon­sens müs­se »in einem Sta­di­um der Rou­ti­ne und Matt­heit« ange­langt sein, »die die Stö­rung nicht nur recht­fer­ti­gen, son­dern pro­vo­zie­ren.« Naiv, wer sich hier­bei nicht an das viel­zi­tier­te Kubit­scheksche Dik­tum erin­nert fühlt, es gehe »nicht um die Betei­li­gung am Dis­kurs, son­dern um sein Ende als Kon­sens­form, nicht um ein Mit­re­den, son­dern um eine ande­re Sprache.«

In Ame­ri­ka erreich­te den Autor dann eine inter­es­san­te Anfra­ge der Hes­si­schen Staats­kanz­lei: Ob er, Schi­vel­busch, bit­te eine Geschich­te der jüdi­schen Intel­lek­tu­el­len in Frank­furt in den 1920er Jah­ren schrei­ben wol­le? Die Lan­des­re­gie­rung wür­de es finan­zie­ren. Die Ein­gren­zung auf »jüdi­sche« wur­de dann doch als »Ver­ir­rung« erkannt und fal­len­ge­las­sen, nach­dem Schi­vel­busch hart­nä­ckig inter­ve­niert hat­te. O‑Ton: »Ein schö­nes Bei­spiel für den Zeit­geist in der Bun­des­re­pu­blik, in dem nicht sel­ten die Kate­go­rien der Nazis in aller Unschuld bloß phi­lo­se­mi­tisch umge­polt wurden.«

Das resul­tie­ren­de Buch, Intel­lek­tu­el­len­däm­me­rung: Zur Lage der Frank­fur­ter Intel­li­genz in den zwan­zi­ger Jah­ren (1982), zeich­net dann haar­scharf die Phy­sio­gno­mie die­ser damals selt­sam boo­men­den Stadt nach. »Geor­gia­ner« (Anhän­ger Ste­fan Geor­ges) und die modi­schen Sozio­lo­gen stan­den sich einer­seits unver­söhn­lich gegenüber.

Ande­rer­seits berühr­ten und befruch­te­ten sich die­se Flü­gel in ihrem jewei­li­gen Min­der­hei­ten­sta­tus. Vier­zig Jah­re ist die­se Arbeit alt, aber die Lek­tü­re lohnt sich, weil Schi­vel­busch nicht ideo­lo­gisch schrieb. Wie genau ver­hielt es sich damals mit dem »jüdi­schen Geist«? Wur­de er aus dem Osten belebt oder nicht, und was bedeu­te­ten die­se Fra­gen damals für das Frank­fur­ter West­end? Wir ler­nen hier den Cha­ris­ma­ti­ker Neh­emi­as Anton Nobel ken­nen, einen Star-Rab­bi, der damals Sieg­fried Kra­cau­er, Leo Löwen­thal und Erich Fromm gedank­lich mitriß.

Dabei ist, wie oben ange­deu­tet, nicht jedes der Schi­vel­busch-Bücher dem soge­nann­ten inter­es­sier­ten Lai­en zu emp­feh­len. Häu­fig schreibt der Geis­tes­wis­sen­schaft­ler für geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Kol­le­gen, die auf Augen­hö­he fuhr­wer­ken. Das heißt, etli­che sei­ner Schrif­ten sind deut­lich unnah­bar, sind distin­gu­ier­ter als die vie­ler sei­ner Gewährs­leu­te wie Kra­cau­er oder Lange.

In die geschichts­po­li­ti­sche Sphä­re – nun ein Zeit­sprung – griff Schivel­busch mit sei­nem 2005 erschie­ne­nen Buch Ent­fern­te Ver­wandt­schaft. ­Faschis­mus, Natio­na­lis­mus, New Deal 19331939 ein. Hier­in wag­te er, das »Unver­gleich­li­che« zu ver­glei­chen, näm­li­che den Monu­men­ta­lis­mus (nicht nur der Archi­tek­tur) sowie die Zuhil­fe­nah­me mas­sen­psy­cho­lo­gi­scher Tricks, derer sich damals sowohl in Euro­pa als auch in US-Ame­ri­ka (man den­ke an die Radio­an­spra­chen Roo­se­velts!) bedient wurde.

Die­se Erkennt­nis war kei­nes­wegs neu (für soge­nann­te Rech­te sowie­so nicht), sorg­te nun aber für Stim­mung. Was mach­ten die­se Reak­tio­nen damals mit Schi­vel­busch? Er wun­dert sich über das »eisi­ge Schwei­gen« in der Rezep­ti­on – und erhält dann doch Bei­fall, »von damals mir uner­wünsch­ter Sei­te«, näm­lich von den »Erz­kon­ser­va­ti­ven«. Inzwi­schen sieht er das anders – die »guten alten links­li­be­ra­len Gewiß­hei­ten« habe er heu­te längst abgehakt.

Schi­vel­busch: Sein Rene­ga­ten­tum hol­pert und stol­pert noch – wie soll­te es auch anders sein in der heu­ti­gen »Land­schaft«! In Tumult, der Zeit­schrift für »Kon­sens­stö­rung«, ver­öf­fent­lich­te er bereits »Nota­te zu ­einer Theo­rie der Gegenrevolution«.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (8)

Niekisch

28. März 2023 16:43

Die deutschen Verlierer hingegen trugen im Freibad diese »schwerfälligen wollenen Dinger aus der Vorkriegszeit«.
Ein interessantes Detail, das mich in den Weltkriegs II - Fotos meines Vaters wühlen ließ. Eines: "Sonntag vor Ostern in der Champagne. Ich" Mit Blick auf einen Fluß trocknet er sich den schlanken, durchtrainierten Oberkörper, bekleidet nur mit enganliegender Badehose, deren Material durchaus nicht wollen erscheint, sondern aus damals m.W. schon üblichem Kunstmaterial. Ein zweites Foto: "Bei Wellengang am Strande von Fouras ( le Bains ). Ich mit dem Kochgeschirr, was im Atlantik gespült wurde. Am 11.9.42." Schon damals herrschte offenbar Diversität: Badehosen wie Fußballerhosen so lang und seltsam schlaff. Vielleicht sind es auch Unterhosen. Die Körper hingegen gestählt.
 
 

Nemo Obligatur

28. März 2023 18:04

WS wurde mir vor vielen Jahren mal zum Lesen empfohlen. Ich habe es leider nie geschafft, ein Buch von WS durchzulesen. Nur ein schmales Bändchen von ihm findet sich in meiner Bibliothek. Davon habe ich ca. fünf Seiten gelesen. Die waren aber äußerst inspirierend. So inspirierend, dass ich erst mal nach der von ihm zitierten Literatur gesucht habe, um das Weiterlesen auf ein solides Fundament zu stellen. Das ist jetzt ein paar Jahre her. Zu seinem Buch bin ich aus verschiedenen Gründen bisher nie mehr zurückgekehrt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ihm so etwas nicht viel ausmacht, wenn er die Leute nur ans Lesen bringt.
 
R.I.P.

Franz Bettinger

29. März 2023 10:04

Narzissmus ist für mich ein notweniger Bestandteil eines normalen gesunden Menschen. Wer sich nicht selbst liebt und gelegentlich gar bewundert, hat kein Selbstwertgefühl. Wer sich selbst nicht mag, kann - glaube ich - auch andere nicht mögen. Das Gegenteil eines Narzissten kann nur ein bedauerlicher Mensch sein. In meinem Sprachgebrauch kommt das Wort so gut wie nicht vor, da es eine Selbstverständlichkeit, eine anthropologische Konstante ist. Der Hang zum Pathologisieren (auch historischer Personen) ist mir ohnehin zuwider. 

Ein gebuertiger Hesse

29. März 2023 11:18

@ Franz Bettinger
"Das Gegenteil eines Narzissten kann nur ein bedauerlicher Mensch sein."
Wow. Ein großartig tiefreichender, herkulischer Satz. Könnte bei Dávila stehen. Leute, die sowas zu denken & auszusprechen im Stande sind, braucht es auf der Rechten.

Niekisch

29. März 2023 16:25

@ Franz Bettinger & Ein gebuertiger Hesse: "ein bedauerlicher Mensch" ? Sie meinen sicher "ein bedauernswerter Mensch". Die richtige Sprache drückt hier das Richtige aus: auch der dem Narzißten genau entgegengesetzte Mensch, gibt es ihn überhaupt, besitzt seinen Wert. Vielleicht in der Reduktion der eigenen Persönlichkeit einem für sie höheren Wert gegenüber. Das Höhere wird doch gerade hier auf dieser Plattform ständig und völlig zu Recht gepriesen. 

Ein gebuertiger Hesse

29. März 2023 20:08

@ Niekisch
Lieber Landsmann, Ihr Kommentar verwundert mich ein wenig. Ja,  "bedauernswert" ist gegenüber "bedauerlich" sicher das korrektere Wort. Und doch! Glaabe Se denn net, daß die, die hier lese, sich das net selber zusammereime könne? Und daß, wenn se das tue, se aach noch den Vorteil gewinne, das vorher net ganz so glücklich Gesaachte aus eigener Kraft verbessert zu habbe, so daß es umso besser hänge bleibt? Naja, sowas in der Richtung vielleicht. Punktgenaues Formulieren und Hemdsärmeligkeit im Antritt sollten da, wo hier kommen, stets zusammengehören. Meine Se net?

Le Chasseur

29. März 2023 22:07

@Franz Bettinger
"Das Gegenteil eines Narzissten kann nur ein bedauerlicher Mensch sein."
Jesus ist also ein bedauernswerter Mensch?

Franz Bettinger

30. März 2023 01:46

@Niekisch: Nochmals nachgefühlt stimme ich Ihnen zu. Bedauernswert also! Im Englischen werden beide Worte mit deplorable übersetzt; im Französischen mit regrettable. Der Duden behauptet, beide Begriffe seien synonyme Worte für etwas oder jemand sei zu bedauern. Ich bin in den Feinheiten nicht bewandert. @Jesus? Er hat nicht nur sich selbst geliebt - aber wer kennt ihn schon genau? - sondern angeblich die ganze Menschheit, für die er aus Liebe gestorben ist. Schöne Geschichte. Doch der Gebrauchswert? 

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