Die Lage hat sich verflüssigt. Mit dem Kollaps des Ostblocks Ende der 1980er Jahre wurde eine bleierne Ära in den deutschen Teilrepubliken beendet, doch verfiel das vereinte Land bald wieder in eine nationale Lähmung, der »Kohls Mädchen« das passende Gesicht gab.
Durch die sogenannte Flüchtlingskrise seit 2015 ist dann jedoch sichtbar geworden, was klarsichtige Intellektuelle nicht erst in der scheinbar so glücklichen BRD bemerkt hatten: Der sprichwörtliche Wandel durch Handel hin zu einer dicht verflochtenen Weltwirtschaft führt zu keiner Idylle, sondern zieht erhebliche Kollateralschäden nach sich. Sie betreffen längst nicht mehr nur die »Dritte Welt«, sondern schlagen sich nun mit voller Wucht in Europa nieder.
Die vielbeschworene »Pandemie«, vom Frühjahr 2020 an Anlaß für einen permanent-flexiblen Ausnahmezustand, führt uns die negativen Folgen der Globalisierung drastischer vor Augen: Jetzt bekommen sie Hinz und Kunz in ihrem politikfernen Alltagsleben zu spüren. Die Brüchigkeit der eigenen Existenz dämmert daher allmählich auch manch Vollversichertem; man beginnt sich zu wehren, die herrschaftstechnisch wichtige Markierung der Leute als »rechts« versus »links« oder »liberal« verliert ihre domestizierende Wirkung auf den Straßen. Krisen setzen Kräfte frei, deren Wirkungsvektoren nicht leicht zu berechnen sind.
Will die politische Führung unseres Landes eine solche Lageentwicklung ernsthaft beurteilen, um daraus im Sinne des hiesigen Gemeinwesens adäquate Folgerungen und Handlungsoptionen abzuleiten, wäre zunächst eine methodisch saubere Lagefeststellung mit Blick nicht nur auf das Bedrohungspotential des Virus nötig. Ob jemals – jenseits von »Inzidenzen« und anderen Zahlenspielereien – ein realistisches Lagebild erstellt wurde, wissen wir als schlichte Bürger dieses Staates nicht.
Daß sich aber der Eindruck verbreitet, es sei »etwas faul im Staate Dänemark«, verwundert kaum angesichts politischer Entscheidungen in den letzten zehn Jahren, die offensichtlich weder dem Wohle des deutschen Volkes gewidmet waren noch seinen Nutzen mehrten oder Schaden von ihm wandten – von der »Griechenlandrettung« über die Migrations- und Energiepolitik bis hin zur Handhabung der Corona-Krise: All dies war und ist nicht nur rechtlich höchst bedenklich, es wurde auch durch die vorgeblich staatsferne »Vierte Macht« auf eine Art und Weise als Public Opinion kommuniziert und flankiert, die nur als Selbstgleichschaltung der Medien unter Ausschluß echter Debatten zu beschreiben ist. Genau dort muß nun die Kritik all jener ansetzen, die sich fern der Macht deren Beschlüssen, Maßnahmen und Handlangern ausgesetzt sehen.
Es gibt in Deutschland Vertreter einer »freischwebenden Intelligenz«, die zu solcher Kritik in der Lage wären; selbst an Universitäten gilt formal noch die Freiheit von Forschung und Lehre, bei Hochschullehrern nur an das Gebot der Mäßigung in öffentlichen Äußerungen gekoppelt. Prüfen wir, wie sich solche hochdotierten und ‑geschätzten akademischen Beamten aus gegebenem Anlaß äußern, sei es ein Politologe à la Herfried Münkler, sei es ein weltberühmter Philosoph wie Jürgen Habermas, will der eine erst Deutschland und dann die ganze Welt impfen, sodann das Klima retten, während der greise Diskursethiker in Corona-Zeiten prinzipientreu eine »brutale Apologetik der real existierenden Macht« (Torsten Hinz) betreibt und die Schutzrechte des Individuums gegen die Verfügungsgewalt des Staates eskamotiert.
Es sind hier allenfalls Außenseiter wie der Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen, dessen Studie Die Propaganda-Matrix (2021) beleuchtet, welche Mechanismen der Abhängigkeit unsere dominanten Medien auf Verlautbarungsorgane der Regierung und ihrer Experten reduziert haben. Solche finden sich dann, gebrandmarkt und marginalisiert, in einem »Saum der Mondsüchtigen« auch auf der vormals entgegengesetzten politischen Seite wieder (www.rubikon.news).
Blicken wir aus unserer restgermanischen Nebelwelt in den lichten Süden, erhob dort anders und früh der höchst renommierte Philosoph Giorgio Agamben das Wort unmißverständlich gegen ein Maßnahmenregime, das er als Zivilisationsbruch bewertet – in der Fixierung auf die Risiken eines Virus implodiere ein ganzes Land, eine ganze Kultur: »Denn dieselben Behörden, die den Notstand ausgerufen haben, erinnern uns ständig daran, daß dieselben Weisungen auch nach dem Ende des Notstands zu befolgen seien und daß das Social Distancing – wie man es in einem vielsagenden Euphemismus nennt – das neue Organisationsprinzip der Gesellschaft darstelle.« (1)
Daß die Debatte in Frankreich nicht weniger lebendig ist und auch in »Leitmedien« ausgetragen wird, überrascht bei der Tradition dieses Volkes kaum: Jüngst waren es die »Gilets jaunes«, die Gelbwesten, die den Widerspruchsgeist und das Selbstbewußtsein der »einfachen Leute« auf der Straße demonstrierten, jetzt die großen Proteste gegen die schlecht begründeten Pandemie-Maßnahmen der »République en Marche«. Anders als in Deutschland, wo es selbst im Westen bemerkenswert viele Demonstrationen gegen das Corona-Regime gibt, solidarisieren sich dort auch namhafte Intellektuelle mit den aufmüpfigen Teilen ihres Volkes, ohne erst »kippen« zu müssen.
Eine solche in der BRD kaum, in Frankreich aber öffentlich präsente Intellektuelle ist Barbara Stiegler, Tochter des 2020 verstorbenen Denkers Bernard Stiegler, selbst Philosophin an der Universität Bordeaux-Montaigne.
Ihre Einlassungen zur Corona-Krise sind aufschlußreich, weil sie aus einer philosophisch-ideengeschichtlichen Gegenwartsanalyse heraus entwickelt werden. So faßt Stiegler das im globalen Transfer importierte Virus und die daraufhin in Frankreich exekutierten politischen Maßnahmen als eine »ökologische Krise im weiten Sinn« auf, (2) die sie über den Begriff des »Neoliberalismus« zu erschließen versucht.
Aus ihrer Sicht eskaliert derzeit ein »politischer Imperativ«, der die modernen Gesellschaften mit ihrer umfassenden »Industrialisierung der Lebensweisen« dominiert: Es ist der aus einem »pathologischen Gefühl des Rückstands« (3) abgeleitete pseudodarwinistische Zwang zur permanenten Adaption an eine immer rasanter technologisch veränderte Umwelt, der sich auf das Gesundheitswesen ebenso auswirkt wie auf Pädagogik und Wissenschaft, mit denen sich Stiegler intensiv befaßt. Ihre Analysen drehen sich nun vor allem darum, diesen pathologischen Befund genealogisch zu unterfüttern.
Stiegler schöpft dabei aus der jüngeren geisteswissenschaftlichen Tradition Frankreichs, die über Michel Foucault und ähnliche Intellektuelle eine Verankerung auch im deutschen Denken hat. Ausgehend von ihrer Lektüre Nietzsches, den sie im Diskurs der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Biologie verortet und dessen komplexe Position zum Darwinismus sie herausarbeitet, (4) verweist sie auf die Durchsäuerung des frühen 20. Jahrhunderts mit popularisierten biologischen Denkmustern.
Im Versuch einer begrifflichen Klärung beschreibt Stiegler dabei unter anderem die klassischen Ultraliberalen des langen 19. Jahrhunderts, bei denen sie eine »naturalistische« Auffassung des Soziallebens erkennt. Diese gehe von der sozialdarwinistischen Idee aus, daß sich die am besten ihren Umweltbedingungen angepaßten Lebewesen durchsetzten und sich von diesen Dispositionen aus alles von selbst regle – ein Laisser-faire: »Auf dem politischen Feld reicht es also, der Natur freien Lauf zu lassen, und damit auch den natürlichen Tendenzen des Kapitalismus, was impliziert, jede künstliche Störung durch den Staat kategorisch zurückzuweisen.«(5)
Im Anschluß an Foucaults Vorlesung über die Geburt der Biopolitik (1978 / 79) grenzt Stiegler dagegen den Neoliberalismus als technokratische und zugleich teleologische Weltauffassung ab, die im US-Journalisten und Politikberater Walter Lippmann einen prononcierten, wirkmächtigen Vertreter habe.
In dessen zentralen Schriften Public Opinion (1922), Phantom Public (1925) und The Good Society (1938) paart sich der anthropologische Befund, der evolutionär auf eher gemächliche Übergänge angelegte Mensch sei durch die technologische Beschleunigung des Wandels überfordert, mit Überlegungen, wie er sich denn »readaptieren« lasse. Diese laufen auf eine durch fachliche Expertise gestützte Ermittlung von Orientierungspunkten (»caps«) hinaus, auf die hin eine politische und wissenschaftliche Elite das tumbe Volk mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu trimmen hat. Die Medien sind hier auf eine Einmassierung politischer Entscheidungen in die Bevölkerungsmasse festgelegt, auf Propaganda also.
Aus einem solchen »neoliberalistischen« und autoritären Imperativ der permanenten Adaption an den technologischen Wandel der Lebenswelt auf imaginäre Richtpunkte hin sind auch die transhumanistischen Ideologeme der letzten 50 Jahre verständlich, als Optimierung dieser Anpassung, um den Menschen morphologisch, pharmakologisch und technologisch umzubauen und fit für die Zukunft zu machen: »future machines will be human, even if they are not biological« (6) – Ray Kurzweils Hoffnung auf einen evolutionären Umschlag im Jahr 2045.
Stieglers Position knüpft an den amerikanischen Pragmatiker John Dewey an, der Lippmann in einer berühmten Debatte widersprochen und auf Partizipation des Volks gepocht hatte. Ihre Hoffnung Ende 2020 auf die Wiedereröffnung der Universitäten, an denen es »der Jugend noch erlaubt ist, mit der Hilfe von Älteren zu lernen, wie man zweifelt, forscht und den eigenen Fragen bis zum Ende nachgeht«, (7) mag angesichts des Zustands der akademischen Intelligenz naiv, manch anderes auch abseitig erscheinen.
Sie verdient jedoch Beachtung, zumal ihre zentrale Frage nach der Austarierung von »Flux und Stasis«, von Wandel und Bestand, auf eine große Bruchlinie der heutigen Zeit zielt. Ihre Genealogie des Neoliberalismus, die auf dessen Verankerung im darwinistischen Duktus der Zeit abhebt, ist anschlußfähig an kritische Überlegungen zum evolutionstheoretischen Paradigma, wie sie schon Friedrich Georg Jünger 1969 (Die vollkommene Schöpfung), Michael Beleites 2014 (Umweltresonanz) oder auch Thomas Nagel 2013 (Mind and Cosmos) vornahmen.
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(1) – Giorgio Agamben zum Umgang der liberalen Demokratien mit dem Coronavirus: »Ich hätte da eine Frage«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 15. April 2020.
(2) – Barbara Stiegler: De la démocratie en pandémie. Santé, recherche, éducation, Paris 2021, S. 3 f.
(3) – Vgl. Barbara Stiegler: »Il faut s’adapter«. Sur un nouvel impératif politique, Paris 2019, S. 272.
(4) – Barbara Stiegler: Nietzsche et la biologie, Paris 2001; Nietzsche et la critique de la chair. Dionysos, Ariane, le Christ, Paris 2005; Nietzsche et la vie. Une nouvelle histoire de la philosophie, Paris 2021.
(5) – Stiegler: »Il faut s’adapter«, S. 15.
(6) – Ray Kurzweil: The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005, S. 30 (hfg-resources.googlecode.com, Abruf: 15. Januar 2022).
(7) – Stiegler: De la démocratie en pandémie, S. 54.