»Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört.«
Mit dieser Feststellung leiteten die Alliierten das Kontrollratsgesetz Nr. 46 ein. Es verfügte vor 75 Jahren, am 25. Februar 1947, die Auflösung des Staates Preußen, seiner Regierung und der Verwaltung. Begründet wurde das mit dem Interesse »an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker« und dem Wunsch, »die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern«.
Frieden, Sicherheit und Demokratie – das konnten sich die Alliierten nur ohne Preußen vorstellen. Daher sollten die territorialen Reste Preußens zu Ländern umgeformt oder solchen angegliedert werden
Was im nachhinein etwas merkwürdig klingt, ist die mit dem Gesetz vollzogene Auflösung von etwas, das nicht mehr existierte. Denn tatsächlich war Preußen zu diesem Zeitpunkt bereits zerschlagen. Es war nicht nur aufgeteilt auf die Besatzungszonen, der Großteil stand sogar unter fremder, nämlich polnischer und sowjetischer Verwaltung. Eine Regierung und eine einheitliche Verwaltung hatte Preußen demzufolge auch nicht mehr, der letzte preußische Ministerpräsident, Hermann Göring, hatte sich am 15. Oktober 1946 in Nürnberg das Leben genommen.
Fürchteten die Alliierten den Geist Preußens, der sich über die neuen Grenzen hinweg lebendig erhalten würde? Hatten sie Sorge, daß im Untergrund eine womöglich weiterhin als legitim angesehene preußische Zentralregierung überwintern würde, so wie es die Polen den Zweiten Weltkrieg über im britischen Exil praktiziert hatten? Oder war es die Einsicht, daß weder die Abdankung des preußischen Königs noch der Preußenschlag von 1932 oder die Gleichschaltung der Länder 1934 Preußens Existenz beendet hatten?
Was immer der konkrete Anlaß für das Gesetz gewesen sein mag, es schwingt etwas Magisches mit. Um Preußen zu bannen, mußte es wohl ritualisiert ums Leben gebracht werden. Diese Merkwürdigkeit ist der Wahrnehmung Preußens als Ausnahmeerscheinung nicht nur der deutschen Staaten, sondern der Staatlichkeit überhaupt, geschuldet.
Die Alliierten waren sich darin einig, daß ihnen der preußische Staatsbegriff fremd war: »Er unterscheidet sich ebensosehr von der englisch-liberalen Staatsauffassung, die in dem Staat den Versicherungsagenten für das Geschäft sieht, wie von der marxistischen, die ihren Endzweck im mechanisierten Bienenstaat findet« (Hans von Seeckt).
Das preußische Staatsethos, das aus dem kleinen Kurfürstentum in der norddeutschen Tiefebene und der Enklave des Ordensstaats im 18. Jahrhundert ein Gemeinwesen schuf, das den anderen Staaten vielfach überlegen und schließlich in der Lage war, Deutschland zu einen, folgte einer Idee. Bei Fontane heißt es: »Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht.
Es ist dies außerdem etwas speziell Preußisches. Wir sind dadurch vor anderen Nationen ausgezeichnet, und selbst bei denen, die es nicht begreifen und übel wollen, dämmert die Vorstellung von unserer daraus entspringenden Überlegenheit.« Daher rührt die von den Alliierten bemühte schwarzen Legende vom preußischen Militarismus als Feind jeden Fortschritts.
Preußen war es, das verhinderte, daß Deutschland den liberalkapitalistischen Weg des Westens einschlug. Preußen war es, das dafür sorgte, daß die Kleinstaaterei überwunden wurde, die bis dahin den fremden Mächten die Vormachtstellung in der Welt gesichert hatte. Und Preußen war es, das nicht erpreßbar war, weil es sich in seiner Geschichte bereit zeigte, seine Existenz aufs Spiel zu setzen, um seine Souveränität zu verteidigen. Preußen war das Rückgrat Deutschlands, und das dachte man nicht nur zu zerschlagen, sondern auch zu delegitimieren.
Früh regte sich gegen diese Verunglimpfung Preußens Widerstand, nicht der Tat, aber des Wortes. Hans-Joachim Schoeps hielt 1951, zum 250. Gründungstag des Königtums in Preußen, seine berühmte Rede »Die Ehre Preußens«, stemmte sich aber mit einigen anderen Historikern und Politikern vergeblich gegen die Verachtung des Preußentums, die zum rheinischen Genom der Bonner Republik gehörte und nach und nach das bundesdeutsche Geschichtsbild bestimmte.
1981 kam es merkwürdigerweise zu einer Preußen-Renaissance in beiden deutschen Staaten. Merkwürdig, weil 1981 kein preußisches Jubiläum anstand. Der Anstoß kam 1977 vom damaligen Westberliner Bürgermeister, der eine Ausstellung anregte. In der Folge wurde über die Bedeutung Preußens gestritten, bevor im August 1981 die Ausstellung »Preußen – Versuch einer Bilanz« eröffnet wurde. Sie sorgte für zahlreiche Debatten um den Einfluß Preußens auf die deutsche Geschichte.
Der gefürchtete Beifall von der falschen Seite stellte sich erwartungsgemäß ein. Joachim Fernau veröffentlichte seine Apologie Preußens, und Hans-Dietrich Sander schrieb in der Welt: »Preußen war nicht abbruchreif, sondern moderner, den Erfordernissen der Industriegesellschaft gewachsener als die konkurrierenden Modelle, die heute noch schlechter dastehen als ihre zweite deutsche Imitation. Die Preußen-Debatte, die auf breitester Front begonnen hat, ist kein Zufall.« Aber sie blieb ohne Konsequenzen, auch wenn heute hin und wieder die Auffassung anzutreffen ist, daß damit die deutsche Teilwiedervereinigung vorbereitet werden sollte.
Im Rückblick wird man nicht umhinkommen, den Vergleich der bundesrepublikanischen Bemühungen mit ähnlichen Tendenzen zu ziehen, die sich Anfang der 1980er Jahre in der DDR bemerkbar machten. Das Reiterstandbild Friedrichs des Großen kehrte ins Zentrum zurück, eine Biographie über ihn erschien, das Verhältnis zu Preußen entspannte sich.
Der Grund war offensichtlich, daß ideologisch die Luft raus war und etwas preußische Identitätspolitik nicht schaden konnte, um den Menschen jenseits der als künstlich empfundenen sozialistischen Traditionen die Möglichkeit zu geben, zu ihrer Umgebung ein Verhältnis der Nachfolge zu empfinden. Warum sollte das 1981 in der Bundesrepublik anders gewesen sein? Die beiden Ölkrisen der 1970er Jahre sorgten für eine Rezession, die Arbeitslosenzahlen verdoppelten sich, das Wohlstandsversprechen war als Identitätsersatz nicht mehr ausreichend, auch wenn man diese Einsicht durch die Reduzierung aufs Kulturelle einzuschränken suchte.
Hans-Joachim Schoeps, der seit seiner Rückkehr aus dem schwedischen Exil nicht müde wurde, für eine preußische Renaissance zu streiten, hat die Frage nach der Aktualität Preußens auch damals deutlicher beantwortet: »Vom Preußentum geprägte Menschen zeigen gegen die Verlockungen des Zivilisationskomforts eine größere Widerstandsfähigkeit. Sie werden einfach davon nicht fasziniert, denn Preußentum und Wirtschaftswunder – das paßt schlecht zusammen. […] Denn in einer Welt, in der Einfachheit und Kargheit nicht als Mängel, sondern als Werte empfunden worden sind, hat man für die hemmungslose Bedarfsdeckung und Bedarfsausweitung wenig Sinn. Die gerade dadurch bedingte Aushöhlung der seelischen Substanz und die sich so ergebende Sinnentleerung des Lebens überhaupt könnte an den Preußen auf eine Sperrbarriere treffen, hinter der der innere Widerstand beginnt.« Schoeps sah die Notwendigkeit der Besinnung auf das Preußentum, wenn aus der Bundesrepublik wieder ein Staat werden sollte.
Man geht allerdings fehl, wenn man Preußen lediglich eine geistige Dimension zubilligt. Denn Preußen hatte einen Ort in der Welt, der dazu beigetragen hat, den preußischen Geist zu formen. Die melancholischen Worte, die Ferdinand Friedensburg, der nach dem Zweiten Weltkrieg kommissarischer Oberbürgermeister Berlins gewesen war, 1955 fand, haben daher durchaus ihre Berechtigung behalten: »Können wir uns auf Dauer einen deutschen Baum denken, an dem so lebensvolle und wichtige Zweige wie Schlesien und Ostpreußen fehlen? Können wir uns ein Deutschland denken, dessen politischer und geistiger Schwerpunkt an der westlichen Peripherie liegt und nicht in Berlin, wo ja nicht allein das geographische Zentrum, sondern auch der Ausgangspunkt gewaltiger geistiger, wirtschaftlicher und politischer Kraftströme gewesen ist und jederzeit wieder sein kann?«
Die seither vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, daß so ein Deutschland nicht nur denkbar ist, sondern auch existieren kann. Allerdings ist die Bilanz dieser Existenz, wenn man den Substanzverlust der letzten 75 Jahre bedenkt, wohl nicht zuletzt deswegen so verheerend, weil es kein Preußen mehr gibt. Die Amputation des deutschen Ostens hat uns von diesen Wurzeln abgeschnitten, im bundesrepublikanischen Blumenkübel konnte der Geist Preußen keine neuen schlagen.