Wer ein Idol zerstört, wird manchmal selbst zu einem. So geschah es auch mit dem Attentäter Nathuram Godse (1910 – 1949), der am frühen Abend des 30. Januar 1948 Mahatma Gandhi mit drei Schüssen aus einer Beretta M1934 niederstreckte.
In den Jahrzehnten, in denen das Erbe des gewaltlosen Unabhängigkeitskampfes gegen die britische Herrschaft in Indien weitgehend intakt blieb, wurde aus dem Sproß einer bescheidenen Brahmanenfamilie der Paria der Nation. Insbesondere der Nehru-Clan bewahrte den Mahatma vor jedem schlechten Licht und stellte Godse durchgängig als verblendeten Psychopathen dar.
In neuerer Zeit setzt sich offenbar ein anderes Image durch, befeuert durch einen offensiveren nationalistischen Hinduismus und durch die schwelende Eskalationsmöglichkeit im Konflikt mit dem islamischen Pakistan. Man scheut sich nicht, Godse »zur Ehre der Altäre« im verwirrenden hinduistischen Pantheon zu erheben und die Redlichkeit seiner Motive herauszustreichen.
Bollywood-Schönheiten twittern offen ihre Sympathie mit dem gehemmten Mann, der in seiner Kindheit aufgrund eines bizarren Aberglaubens der Familie als Mädchen aufgezogen worden war (das Namenspartikel Nath in seinem Vornamen bedeutet der Nasenring für Mädchen). Indiens Glaubenssystem sei selbst für Inder zuweilen unzugänglich, so meint der indische Psychologe Ashis Nandy. Gandhi und Godse sind ohne den religiösen Hintergrund Indiens nicht zu verstehen. Er vereint beide und das nicht nur formal.
Religiöse Motive vermengten sich mit nationalistischen Antrieben, sowohl bei Gandhi als auch bei seinem Attentäter. Beide kalkulierten den Tod, allem voran in der Form des Selbstopfers, bewußt mit ein: Gandhi in seinem grundsätzlichen Verständnis von Satyagraha, Godse in seiner Einzeltat, nach welcher er regungslos die Lynchjustiz der Menge erwartete. Zwei Religionsvorstellungen prallten an diesem Abend des 30. Januar aufeinander, die sich beide auf das nationale Epos Bhagavad Gita (Gandhi hatte sie kommentiert) berufen konnten und somit beide im Hinduismus ihre Grundlage hatten.
Gandhis gewaltlosen Aktionen wohnte von Beginn an ein starkes spirituelles Ferment inne, das die nationale Unabhängigkeit immer in den Kontext der religiös verstandenen Erlösung stellte. Die Trennung zwischen kollektiv und individuell war damit aufgehoben, Satyagraha (Satya ist die Wahrheit als Kraft) war immer auch der Weg jedes einzelnen Aktivisten oder Teilnehmers zur inneren Unabhängigkeit, zur eigenen Erlösung. Gandhis Anforderungen an Mitkämpfer wie Anhänger waren enorm (Tolstois Christentum war sein außer-hinduistisches Vorbild).
In seiner Rede vor Beginn des legendären Salzmarsches von 1930 sagt er vor 10 000 Zuhörern: »Ein Satyagrahi, ob frei oder eingekerkert, ist stets siegreich. Er ist nur dann besiegt, wenn er die Wahrheit und die Gewaltfreiheit aufgibt und der inneren Stimme gegenüber taub wird. Wenn es daher für einen Satyagrahi so etwas wie eine Niederlage gibt, ist er allein deren Ursache.«
Gandhis Kampagnen erhielten so den Stellenwert von Exerzitien und forderten von jedem ein Höchstmaß an psychologischer Askese, die sehr viele in der Hochphase des Kampfes durchaus ansprechen konnte. Auch seine militanteren Rivalen in der Kongreßpartei oder in benachbarten Bewegungen, zu denen Godse gehörte, konnten sich zu Beginn Gandhis heiligmäßigem Charisma nicht entziehen. Und selbst die kriegerischen Sikh, die vielfach hochdekoriert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt waren, ließen sich von Satyagraha und Ahimsa (höhere Ethik) mitreißen, sehr zur Verwunderung ihrer einstigen britischen Vorgesetzten. Dies gelang um so mehr, als es Gandhi meisterhaft verstand, die Gewaltlosigkeit mit der militärischen Begriffswelt zusammenzubringen. Das Todesrisiko, das die traditionelle Kriegerkaste der Kshatriya auszeichnete, wurde vom Mahatma auf seine Kampagnen übertragen und zu so etwas wie einem »androgynen Mut« (Ashis Nandy) umgedeutet. Sogar auf einige muslimische Aktivisten verfehlte dies seine Wirkung nicht, wie auf den Paschtunen Abdul Ghaffar Khan.
Nach der vollbrachten Loslösung von Großbritannien 1947 zeigte sich schnell, daß im neuen Gegner (und einstigen Kampfgefährten), den muslimischen Indern unter Führung von Muhammad Ali Jinnah, Satyagraha kaum eine Andockstelle fand. Jinnah, der sich anfänglich von den Briten übergangen fühlte, entfesselte schon im Sommer 1946 in Kalkutta den Dschihad. In der Folge kam es zu massiven Pogromen, ungezügelter Gewalt und den millionenfachen Migrationsströmen zwischen dem ebenfalls neuentstandenen Staat Pakistan und Indien.
Gandhis Predigten erzeugten bei nicht wenigen hinduistischen Indern zunehmend Frust, da sie dogmatisch an dem einmal eingeschlagenen Weg festhielten. Gandhi, der anfänglich strikt gegen die Zwei-Staaten-Lösung gewesen war, mußte nun seine Ohnmacht erleben, der er mit noch mehr moralischem Rigorismus zu begegnen versuchte, beispielsweise durch sein provokatives Fasten. Die gewaltaffineren Kräfte im eigenen Lager, die langsam zu erstarken begannen, warfen Gandhi vor, ethische Maximalforderungen nur an die Hindus zu stellen und Muslime davon auszusparen.
Das Faß zum Überlaufen brachten schließlich Gandhis öffentliche Gebete um Versöhnung, in denen er die Götter des Hinduismus mit islamischen Titeln anrief. Nathuram Godse und sein Zirkel im Umkreis national-revolutionärer Bewegungen wie Mahasabha oder der Nationalen Freiwilligenorganisation (RSS) bezeichneten Gandhi daraufhin als einen Erz-Reaktionär (sie nannten ihn Sanatani – »Traditioneller«), der eine idealisierte, vergangene Form des Hinduismus vorleben würde, mit dem Ziel, seine Hilflosigkeit zu spiritualisieren.
Godse und sein Umfeld, in welchem es an Sympathisanten mit den europäischen Faschismen nicht gemangelt hatte, sahen sich als Vertreter eines Reform-Hinduismus (Hindutva), der einen einheitlichen Nationalstaat nach europäischem Muster sowie eine authentische Kriegerkaste herstellen sollte. Letzteres verwundert etwas, da die Vordenker dieser Richtung wie Vinayak D. Savarkar, gleich Gandhi, gegen das Kastensystem eingestellt waren. Konversionen von Hindus zu anderen Religionen wurden vehement abgelehnt, ein weiterer Berührungspunkt mit dem »halbnackten Fakir« (Churchill), der die Konversion seines Sohnes Harilal Gandhi zum Islam nie hat verschmerzen können.
Die letztlich in Weltflucht und Selbstaufgabe einmündende einstige Satyagraha-Strategie war der politische Ausläufer eines radikalen hinduistischen Gnostizismus (z. B. im Vedanta), der vom prinzipiell illusionären Charakter der Wirklichkeit ausging und die Welt einzig im Bewußtsein des Individuums verortete.
Dagegen stand die national-religiöse Identität Indiens als Staat der Hindus, als konkrete Ausformung in der hiesigen Welt, die nicht zur Verhandlung stand. Gandhis Streben nach ethischer Reinheit, die er von sich und von seinen Anhängern verlangte, hatte auf tragische Weise gezeigt, dass eine so verstandene Reinheit nicht von dieser Welt, vor allem aber nicht für diese Welt ist. Nathuram Godse bezeichnete Gandhi in seiner vielbeachteten Verteidigungsrede vor Gericht als »gewalttätigen Pazifisten«, dem sein ethisches Ego über den Kopf gewachsen war. Die kriegerischen Ahnen der indischen Epen hätten mehr Frieden gebracht als Gandhis Kampagnen.
Nathuram Vinayak Godse wurde am 15. November 1949 gehängt.