Bernhard Braun, Dozent an verschiedenen österreichischen Universitäten, hat 2019 ein vierbändiges Werk über Ästhetik und Kunstphilosophie, von der Höhlenmalerei bis in die unmittelbare Gegenwart, vorgelegt. Diese Studie verbindet in grundlegender Weise kultur- und philosophiegeschichtliche Aspekte mit kunsthistorischen.
Brauns neueste Publikation kann daran anschließen und wirkt wie ein (wenngleich materialreiches) Exzerpt dieser voluminösen Bände. In 13 umfangreicheren Kapiteln unternimmt der Autor eine Reise zum Ursprung unserer Kultur. Er spannt einen Bogen, der vom Kapitel »Europa hat einen Migrationshintergrund« über die »Geburt des Christentums« bis zum Abschnitt »Vom Kentern des Tidenstroms« reicht.
Das sich entfaltende Panorama ist durchaus beeindruckend. Die ersten Regungen vor- und frühmenschlichen Daseins in Ostafrika erfolgten in sehr großen chronologischen Abständen, gefolgt von der Ausbildung der ersten Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten. Jede kulturelle Epoche lebt natürlich auch vom Erbe, das sie vorhergehenden Kulturen verdankt. Diese Erkenntnis bewahrheitet sich ebenso im Hinblick auf die griechisch-römische Kultur. Wissen und Fertigkeiten werden die gesamte Weltgeschichte hindurch tradiert.
Braun berücksichtigt die Dynamik der Neuzeit ausführlich. Ferner thematisiert der Autor den Monotheismus, der vom fehlgeschlagenen Experiment Echnatons zum jüdisch-christlichen Ein-Gott-Glauben und dessen Verschärfung im Islam führt. Natürlich lassen sich zwischen diesen Religionen zahllose Gemeinsamkeiten wie Unterschiede feststellen. Mohammed wußte von christlichen wie jüdischen Glaubensinhalten. Daß er aus deren Fundus einiges übernommen hat, kann kaum erstaunen. Die Eigenständigkeit des Islams ist damit aber nicht in Frage gestellt.
Nun will Braun keine lockeren Erzählstunden bieten, sondern präsentiert sein erkenntnisleitendes Interesse offen: Die Neuausrichtungen vieler Kontroversen in Wissenschaft und Politik – von der Renaissance nationalen Denkens bis zu Debatten über das »christliche« Abendland – möchte er faktengesättigt hinterfragen. Autochthone Kulturen gibt es demnach nicht, alles fließt nur zusammen! Freilich erklärt diese höchstens punktuell zustimmungsfähige Argumentation kaum die jahrhundertelange Überlegenheit des abendländischen Kulturraumes, die in unseren Tagen zu Ende zu gehen scheint – und das in technischer, wirtschaftlicher wie geistig-kultureller Hinsicht.
Klassiker unter den Gesellschaftstheoretikern haben sich über den Markenkern des Okzidents bleibend gültige Gedanken gemacht. Die fundamentalen Arbeiten Max Webers über den rationalistischen Grundzug der abendländischen Kultur, um 1900 vorgelegt, sind differenzierungsbedürftig, aber keineswegs veraltet. Gleiches gilt für die bahnbrechenden Abhandlungen Otto Hintzes.
Ernst Nolte hat im Anschluß an diese Vorläufer die Besonderheiten des »liberalen Systems« herausgearbeitet, dessen Bestandteile (Adel, Kirche, städtisches Bürgertum) stets miteinander rivalisierten. Keines dieser Elemente konnte sich auf Kosten eines anderen durchsetzen. So besitzen Vorformen des Pluralismus wie der rechtsstaatlichen Freiheit bereits lange vor den Differenzierungsprozessen der Aufklärung maßgebliche Wurzeln.
Erst Vertreter des Totalitarismus haben dieses Erbe negiert. Gelehrte wie der österreichische Mediävist Michael Mitterauer (Warum Europa?) ziehen solche Linien des abendländischen Sonderwegs im Vergleich der Kulturen weiter aus. Ganz so einfach ist es wohl doch nicht, die Leistungen von Gelehrten zu konterkarieren, die über Generationen hinweg das Spezifikum des Okzidents erfaßt haben. Die Methode, bei Adam und Eva zu beginnen und alle Nachkommen als deren Kinder erscheinen zu lassen, ist so originell nun auch wieder nicht.
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Bernhard Braun: Die Herkunft Europas. Eine Reise zum Ursprung unserer Kultur, Darmstadt: WBG Theiss 2022. 560 S., 35 €
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