Kein Geheimnis, daß der woke Antirassismus dazu tendiert, sich selbst aufzuheben und in Formen der Diskriminierung zu münden, die dann durchaus als rassistisch verstanden werden können. Trotzdem ist das Gebäude, gestützt durch den Komplex von Medien und linksliberaler Politik, bislang ungeachtet seines kontrafaktischen Charakters nicht in sich zusammengestürzt.
Das könnte sich möglicherweise ändern, denn es knirscht aus zwei Gründen im Gebälk. Auf der einen Seite wächst die Zahl kritischer Stimmen, die nicht mehr bereit sind, sich mit einer inquisitorischen Löschkultur abzufinden – wohl auch, weil sie erkannt haben, daß jeder jederzeit auf der Abschußliste landen kann. Auf der anderen Seite steigert sich die Absurdität der erwachten Scholastik in derart schwindelnde Höhen, daß es auch Gläubige irgendwann abschrecken muß.
Ein Beispiel für letztere Tendenz ist das neue Buch von Frank B. Wilderson III: Afropessimismus (Berlin: Matthes & Seitz 2021. 415 S., 28 €). Der Autor entstammt einer schwarzen Mittelklasse-Akademikerfamilie, sein Vater lehrte an angesehenen Universitäten wie Ann Arbor und Berkeley. Er selbst ist Professor für Afro American Studies sowie Institutsvorstand an der University of California, Irvine, und ausgezeichneter Autor. Das muß man wissen, um den Realitätsgehalt dieser eigenartigen Mischung aus Memoiren (es geht viel um Erinnerungen, die allerdings in Form unverbundener Bruchstücke auftauchen und seltsam leer im Raum des Erzählten hängen) und schlagwortartiger Theoriebildung einschätzen zu können.
Deren Anspruch ist jedenfalls beachtlich: Das Buch soll eine »Metatheorie« bilden, die mehr oder weniger alle linken Paradigmen (Marxismus, Postkolonialismus, Psychoanalyse, Feminismus), durch die »Interpretationslinse« der »Blackness« blickend, kritisieren möchte, und zwar »auf einer höheren Abstraktionsebene als die Diskurse und Theorien, die sie hinterfragt.«
Von dieser Ankündigung bleibt im Laufe des Buches nichts übrig. Ich meide gewöhnlich das beliebteste (und womöglich häßlichste) Adjektiv des Mainstream-Journalismus, nämlich »krude«, aber zu Aussagen wie dieser fällt mir nichts anderes ein: »Für seine Existenz und für seinen Zusammenhalt ist das Leben der Menschheit vom Tod der Schwarzen abhängig. Blackness und Slaveness, das Schwarzsein und das Sklavesein, die ›Sklavigkeit‹ sind derartig untrennbar miteinander verschlungen, daß Sklavesein zwar von Schwarzsein getrennt werden kann, Schwarzsein aber niemals als etwas anderes existieren kann denn als Sklavesein.« An anderer Stelle bezeichnet er die Existenz der Schwarzen als sozialen Tod; sie bilden die einzige, gewissermaßen »nicht existente« gesellschaftliche Gruppe.
Wilderson III sichert damit »den Schwarzen« (ungeachtet der enormen Binnendifferenzen in dieser Gruppe) die Position des welthistorischen Opfers schlechthin, eine durch nichts zu überbietende und niemals erlöschende Opferrolle. Es fällt ins Auge, daß dieser Anspruch auf eine welthistorisch einmalige Rolle die Erwähltheitsrhetorik des weißen Amerika spiegelt. Es ist offenbar ein Versuch, die tatsächliche Objektifizierung im Kolonialismus durch den Status eines absoluten Subjekts zu kompensieren, wie es das Proletariat für den Marxismus und die Menschheit für humanistische Doktrinen darstellt.
Mit dieser Singularitätsideologie lehnt der Autor jede Vergleichbarkeit mit den Erfahrungen anderer vermeintlich oder tatsächlich marginalisierter Gruppen ab. So enthält das Werk Episoden, die eine unüberbrückbare Distanz zu Native Americans, Palästinensern und Amerikanern asiatischer Herkunft markieren sollen, die der selbst Hochempfindliche umstandslos als eine Art Unterdrückter zweiter Klasse begreift. Die hochgradig imaginäre Einschätzung der eigenen Position wird dabei an vielen Stellen deutlich: Etwa schildert er den Konflikt mit einer weißen Nachbarin, der dazu führt, daß seine damalige Freundin und er besagte Nachbarin verdächtigen, sie mit radioaktivem Material vergiften zu wollen.
Dieses Motiv zeigt in einer Nußschale die Paranoia, die das ganze Werk kennzeichnet. Lesenswert ist es dennoch: wegen seiner plastischen Sprache und weil es die Erkenntnis vermittelt, in welche aggressionssteigernden Wahnwelten Idealisierung und Selbstidealisierung von Minderheiten führen können. Das Buch ist übrigens neben anderen Winnie Mandela gewidmet.
Ganz anders gelagert ist die Neuerscheinung des ebenfalls schwarzen Linguisten, Komparatisten und Musikhistorikers John McWhorter, Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet (Hamburg: Hoffmann und Campe 2022. 255 S., 23 €), der diese Fächer als Professor an der Columbia University in New York lehrt. Um es vorwegzunehmen: Er hat ein pfiffiges, klar strukturiertes Buch geschrieben, das sein Thema ohne Verharmlosung und ohne rhetorische Blendgranaten souverän durchexerziert und damit eine Nadel in den Ballon woker Hysterie sticht. Im deutschen Sprachraum wäre eine derart transparente, gut lesbare und geerdete Abhandlung für einen Akademiker nachgerade rufschädigend.
McWhorter stellt seine Untersuchung unter die leitende Frage nach dem Schaden, den der »woke racism« gerade für schwarze Menschen mit sich bringt. Das ist eine strategisch sehr geschickte Entscheidung. Abgehandelt werden die Fragen, wer die neuen Woken sind, was ihre »Religion« so attraktiv macht, wie sich ihr Einfluß minimieren ließe und welche Strategien dem Fortkommen schwarzer Amerikaner wirklich dienlich wären.
»Die Critical Race Theory (CRT) ist die Wurzel der heute weit verbreiteten, sinnlos-manipulativen Vorstellung, daß ein schwarzer Mensch, der behauptet, Rassismus erlebt zu haben, automatisch recht hat, einfach weil er schwarz ist und vor dem Hintergrund ›seiner Erfahrung‹ spricht.« Es richtet sich damit unmißverständlich gegen Wilderson und andere Rhapsoden eines in Granit gemeißelten Opferstatus.
Skurriles Detail: McWhorters durch und durch vernünftige Perspektive wird durch die Übersetzerin oder das Lektorat konterkariert, indem das Adjektiv »schwarz« grundsätzlich großgeschrieben wird, »weiß« hingegen nicht, eine Praxis, die auch in Afropessimismus gepflegt wird. Der Verlag bedient sich damit einer vermeintlich antirassistischen Konvention, die genau den Vorstellungen folgt, die der Verfasser ein ganzes Buch hindurch freundlich, aber vehement kritisiert. Ob ihnen aufgefallen ist, daß sie sich damit über den Autor stellen, der ja nach der dieser Schreibung zugrundeliegenden Logik, über die er sich ausgiebig lustig macht, ein Berufsopfer sein müßte, dem nicht widersprochen werden darf?
Eine entscheidende Schwachstelle des Buches ist der Versuch, Wokeism als eine Religion zu definieren. Die Argumente dafür bleiben entsprechend wenig überzeugend und blaß und tragen zur Klärung des Phänomens kaum bei. Sehr wohl weiterführend ist dagegen der Hinweis, daß die CRT ihren Ursprung in der Dekonstruktion habe, deren grundsätzliches Unterlaufen wahrheitsfähiger Aussagen sie übernimmt und bis ins Absurde vergröbert, was dazu führt, selbst krasse Widersprüchlichkeit nicht mehr als Manko einer Theorie zu begreifen.
Aber Widersprüche sind ja das eigentliche Lebenselixier der CRT, die jedem Anspruch auf logische Kohärenz abgeschworen hat und dies auch betont, indem Logik und Stringenz als Marotte weißer Ethnozentristen angeprangert werden. McWhorter führt eine ganze Liste sich widersprechender Gebote und Glaubenssätze auf, die erkennbar nur dem Zweck dienen, jegliche Handlung oder Unterlassung einer weißen Person als rassistisch dastehen zu lassen. Dieses gezielte Einsetzen einer Double-Bind-Strategie ist jedem, der sich mit dem Themenkomplex befaßt hat, wohlbekannt und wirft die Frage auf, wie irgend jemand, der nicht unmittelbar von diesem Jonglieren mit Widersprüchen profitiert, sich überhaupt jemals davon blenden lassen kann.
McWhorter bietet verschiedene Erklärungen dafür an, die – wie die Allerweltsbegründungen »Komplexitätsreduktion« oder Konformitätsbedürfnis – letztlich alle unbefriedigend sind, was dem Autor nicht anzulasten ist: Es bleibt ein irrationaler Rest, der sich nicht auflösen läßt. So ist der Erfolg der angeblich »antirassistischen« Doktrinen zum Beispiel durch den Wunsch nach Anpassung nicht zu erklären, da es sich ja ursprünglich um die Meinung einer kleinen sektiererischen Minderheit gehandelt hat, der es umgekehrt gelungen ist, die öffentliche Meinung an ihre Bedürfnisse anzupassen. Oder doch eher die veröffentlichte?
McWhorter schildert jedenfalls glaubwürdig, daß er Unmengen von Zuschriften erhalten habe »von Leuten, die über den neuen Einfluß der Erwählten genauso entsetzt sind wie ich.« Daß er wegen seiner kritischen Podcasts ausgerechnet von der hyperliberalen New York Times als Kolumnist unter Vertrag genommen wurde, die noch 2020 eine Kritikerin dieser Ideologie herausgeekelt hatte (Bari Weiss hatte es damals vorgezogen zu kündigen), läßt hoffen, daß die Welle der Wokeness in absehbarer Zeit bricht.