Die polnischen Teilungen

von Stefan Scheil -- PDF der Druckfassung aus Sezession 107/ April 2022

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»Repu­blik« als »Rzecz­pos­po­li­ta«, als die »gemein­sa­me Sache«: Das ist in Polen seit der frü­hen Neu­zeit und bis heu­te jener Begriff der eige­nen Staat­lich­keit, der sozu­sa­gen das gewis­se Etwas zum Aus­druck bringt – ein Wort also, in dem sich die Nati­on über die blo­ße Beschrei­bung die­ses oder jenes Ver­fas­sungs­zu­stands hin­aus auch emo­tio­nal beschrie­ben sieht.

Einen sol­chen Begriff gibt es nicht in jedem Land, und er ist auch nicht unwan­del­bar. In Frank­reich konn­te sich nach 1789 in jahr­zehn­te­lan­gen zähen poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen eben­falls »Repu­blik« an die­se Stel­le set­zen. In Deutsch­land hat die­se Rol­le seit jeher und bis 1945 der Begriff »Reich« ein­ge­nom­men. Die­ser beschrieb eben­falls nicht nur die poli­ti­schen Zustän­de im Land, son­dern auch eine zur Gewohn­heit gewor­de­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit staat­li­cher Exis­tenz, die dann 1806 ver­lo­ren­ging. Mit dem Beginn der Tei­lun­gen Polens vor 250 Jah­ren hat­te eine Ära begon­nen, in der Staa­ten fast nach Belie­ben auf dem Spiel standen.

Die pol­ni­sche »Rzecz­pos­po­li­ta«, die genau­ge­nom­men ein vom Adel betrie­be­nes pol­nisch-litaui­sches Gemein­we­sen (Rzecz­pos­po­li­ta ­Pol­skiej i Wiel­kie­go Księst­wa Litew­skie­go) gewe­sen ist, wur­de 1772 bis 1795 in drei Etap­pen unter den Nach­bar­staa­ten Preu­ßen, Öster­reich und Ruß­land auf­ge­teilt. Eine pol­ni­sche Staat­lich­keit blieb nur noch im rus­si­schen Tei­lungs­ge­biet andeu­tungs­wei­se erhal­ten, bis auch sie im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts kas­siert wurde.

Die inner­pol­ni­schen Fol­gen gestal­te­ten sich wenigs­tens unter einem Aspekt durch­aus ähn­lich wie in Deutsch­land. Was der Nati­on ver­lo­ren­ge­gan­gen war, soll­te nach deren Wil­len auch in Polen wie­der­her­ge­stellt wer­den: der Staat und die Ein­heit. Der Begriff der Repu­blik wuchs sich dabei zum Ide­al aus – eine Ent­wick­lung, die zusätz­lich von der noch kurz vor Tores­schluß am 3. Mai 1791 ver­ab­schie­de­ten Ver­fas­sung ver­stärkt wur­de. Da man im revo­lu­tio­nä­ren Frank­reich die­ses Jah­res noch in ­Ver­fas­sungs­de­bat­ten ver­strickt war, die erst im Herbst des­sel­ben Jah­res zu einem Abschluß kamen, konn­te die pol­ni­sche Ver­fas­sung seit­dem als ers­te »moder­ne«, von einem Par­la­ment ver­ab­schie­de­te Ver­fas­sung Euro­pas gelten.

Das gefiel dem pol­ni­schen Natio­nal­stolz, der künf­tig Jahr für Jahr am Ver­fas­sungs­tag des 3. Mai fei­er­lich dar­an anknüpf­te, was regel­mä­ßig den Ein­druck ver­stärk­te, von der Geschich­te und den Nach­bar­staa­ten unge­recht behan­delt wor­den zu sein. Natur­ge­mäß ver­bo­ten die Tei­lungs­mäch­te die­se Fei­ern. Erst­mals lan­des­weit öffent­lich konn­ten sie des­halb nach lan­ger Unter­bre­chung 1916 wie­der gefei­ert wer­den, als die deut­schen Streit­kräf­te die rus­si­schen aus Polen hin­aus­ge­wor­fen hat­ten. Die deutsch-öster­rei­chi­sche Mili­tär­ver­wal­tung dul­de­te sol­che Fei­ern als gro­ße Ges­te der Befrei­ung im Gene­ral­gou­ver­ne­ment – wäh­rend sie den Polen in Deutsch­land immer noch ver­bo­ten blie­ben. Dem deutsch-pol­ni­schen Ver­hält­nis hat das schon damals wenig gehol­fen, zumal in die­ser Kombination.

Für die pol­ni­schen Tei­lun­gen gab es natür­lich aber auch inter­ne Grün­de. Die inne­ren Ver­hält­nis­se der pol­ni­schen »Adels­re­pu­blik« gal­ten bereits den Zeit­ge­nos­sen in den Jahr­zehn­ten davor als Para­de­bei­spiel des­sen, was man mit dem moder­nen Begriff »fai­led sta­te« bezeich­nen wür­de. Es ist rela­tiv unbe­strit­ten, daß die Ent­wick­lung hier­zu schon Jahr­hun­der­te vor­her ihren ent­schei­den­den Sprung genom­men hat­te. 1564 ver­wan­del­te sich die pol­ni­sche Mon­ar­chie in eine Wahl­mon­ar­chie und bil­lig­te fak­tisch jedem ein­zel­nen Adli­gen ein Veto­recht (liber­um veto) bei künf­ti­gen Reichs­ta­gen zu. Das galt für eine mit etwa zehn Pro­zent der Bevöl­ke­rung recht umfang­rei­che Per­so­nen­grup­pe. Es konn­te nicht gut­ge­hen und mach­te das Land schließ­lich führungslos.

Kei­ne der gro­ßen pol­ni­schen Fami­li­en konn­te sich in der Fol­ge­zeit dau­er­haft als Herr­scher­haus eta­blie­ren. Im Gegen­teil wähl­te sich der Adel früh­zei­tig immer wie­der nicht­pol­ni­sche Köni­ge. Bereits die ers­te pol­ni­sche Königs­wahl im Zei­chen die­ser neu­en Ver­hält­nis­se fiel 1573 ange­sichts eines ansons­ten dro­hen­den Bür­ger­kriegs nicht auf einen Polen, son­dern auf den Fran­zo­sen Hein­rich III. Auch künf­tig wich die Wahl­ver­samm­lung immer wie­der ins Aus­land aus und wähl­te unga­ri­sche Köni­ge oder deut­sche Kur­fürs­ten aus dem säch­si­schen Haus der Wet­ti­ner zu pol­ni­schen Königen.

Sozio­lo­gisch gese­hen, drück­ten sich die­se Ereig­nis­se in einer Art dau­er­haf­ter Ver­länd­li­chung des Adels und damit des poli­ti­schen Lebens aus, die die­ser selbst als Stil des »Sar­ma­tis­mus« begriff. Der pol­ni­sche Adel führ­te dabei sei­ne Abstam­mung auf die in anti­ken Quel­len erwähn­ten Sar­ma­ten zurück, deren genau­er Wohn­sitz in Ost­eu­ro­pa bei Hero­dot und Pto­le­mä­us aller­dings nicht ein­deu­tig zu iden­ti­fi­zie­ren ist. In der frü­hen Neu­zeit kam die­ses Selbst­ver­ständ­nis dann in Polen, Litau­en und Weiß­ruß­land mit der Erschlie­ßung anti­ker Autoren zuse­hends in Mode. Wäh­rend man in Deutsch­land auf dem Regens­bur­ger Reichs­tag von 1471 erst­mals die Ger­ma­nia von Taci­tus prä­sen­tier­te, in der sich die Deut­schen künf­tig so tref­fend beschrie­ben sahen, brach­ten die seit 1464 erschei­nen­den latei­ni­schen Aus­ga­ben der Schrif­ten des römi­schen Gelehr­ten ­Clau­di­us Pto­le­mä­us den Durch­bruch des »Sam­ar­tis­mus«.

An sich stell­te die Beru­fung auf anti­ke Her­kunft im Euro­pa der dama­li­gen Zeit kei­ne Beson­der­heit dar. Im Fall Polens trug sie aller­dings dazu bei, das Land in aus­ge­spro­che­ner Selbst­zu­frie­den­heit poli­tisch erstar­ren zu las­sen. Im Jahr 1538 wur­de der Grund­be­sitz zu einem fak­ti­schen Mono­pol des Adels. Der sar­ma­ti­sche Adel saß danach auf sei­nen Gütern und leb­te von deren Ertrag, ohne wei­ter groß zu inves­tie­ren. Gab es nicht genug Ertrag, nahm man eben den nächs­ten Kre­dit auf. Die Städ­te dage­gen sta­gnier­ten oder ver­öde­ten. Es ent­stand, was als »pol­ni­sche Wirt­schaft« beson­ders in Deutsch­land sprich­wört­lich wurde.

Gleich­wohl sah die pol­ni­sche Adels­schicht von die­ser pro­vin­zi­el­len War­te aus mit einer gewis­sen Arro­ganz nicht nur wie andern­orts auf den Rest der Bevöl­ke­rung her­ab, son­dern auch auf die Nach­bar­staa­ten. In denen ließ es sich für den Adel angeb­lich oder tat­säch­lich weni­ger gut leben, als er dies im pol­nisch-litaui­schen Staat für ange­mes­sen befand. Die­ser Staat nahm sich auf der Land­kar­te zudem wie ein statt­li­ches Impe­ri­um aus, das von der Ost­see bis zum Schwar­zen Meer reich­te. Ein Umstand, der für die inner­polnischen Vor­stel­lun­gen von eige­ner ange­mes­se­ner Grö­ße dau­er­haft wirk­sam wur­de, mit denen Euro­pa in den Jah­ren zwi­schen 1919 und 1939 wie­der kon­fron­tiert wer­den soll­te. Ent­spre­chend harsch fiel das Urteil spä­te­rer pol­ni­scher Autoren über die­se Pha­se aus, als »die Sar­ma­ten sich schließ­lich zu Tode logen« (Jan Błonski).

Denn wo ein macht­po­li­ti­sches Vaku­um besteht, wird es gewöhn­lich eher frü­her als spä­ter gefüllt. So hat­ten die pol­ni­schen Tei­lun­gen auch eine län­ge­re Vor­ge­schich­te poli­ti­scher Ent­mün­di­gung und aus­län­di­scher Ein­grif­fe, beson­ders in den stets fra­gi­len Pro­zeß der Königs­wahl. Als ent­schei­den­der Fak­tor erwies sich der stän­di­ge rus­si­sche Drang nach Wes­ten seit dem Beginn des 18. Jahr­hun­derts, als sich Ruß­land unter dem Zaren Peter I. (dem Gro­ßen) zunächst ein­mal einen brei­ten Raum an der öst­li­chen Ost­see­küs­te erober­te. Im Zaren­reich waren alle stän­di­schen, adli­gen und sons­ti­gen Frei­hei­ten zuguns­ten des Allein­herr­schers umfas­send besei­tigt wor­den und stan­den einer Erobe­rungs­po­li­tik nicht im Weg.

Wäh­rend des Gro­ßen Nor­di­schen Krie­ges (1700 –1721), der in der Fra­ge der Ost­see­küs­te zwi­schen Ruß­land und Schwe­den die Ent­schei­dung brach­te, geriet die gan­ze pol­ni­sche Mon­ar­chie zwi­schen die Fron­ten. Mit dem Wech­sel des Kriegs­glücks wech­sel­ten die Thron­inhaber. Schon 1733 kam es über die pol­ni­sche Königs­wahl wie­der­um zu einem veri­ta­blen euro­päi­schen Groß­krieg, in dem Ruß­land und das Reich deut­scher Nati­on gegen Frank­reich stan­den, das einen pol­ni­schen König sei­ner Wahl durch­set­zen woll­te. Neben Polen wur­den dabei für zwei Jah­re auch das Rhein­land und Ita­li­en zu Kriegs­schau­plät­zen, wäh­rend in War­schau unter Ver­hin­de­rung fran­zö­si­scher Lan­dungs­ver­su­che und star­ker rus­si­scher Mili­tär­prä­senz wie­der ein­mal ein Sach­se zum pol­ni­schen König gewählt wur­de: August III.

Die inner­pol­ni­schen Reform­ver­su­che, die in der Ver­fas­sung von 1791 nicht nur eine par­la­men­ta­ri­sche Mon­ar­chie ein­führ­ten, son­dern zusätz­lich auch die Königs­wahl abschaff­ten, erwie­sen sich als ver­geb­li­cher Ver­such, dem Staats­tod noch von der Schip­pe zu sprin­gen. Seit lan­gem an die Rol­le Polens als eines poli­ti­schen Spiel­balls gewöhnt, woll­ten die Nach­bar­staa­ten die­sen Ein­fluß nicht ver­lie­ren. In einer wen­dungs­rei­chen Ent­wick­lung tru­gen die Reform­ver­su­che dann zum Ent­schluß der Tei­lungs­mäch­te bei, Polen lie­ber ganz zu zer­stö­ren, als refor­miert bestehen zu lassen.

Obwohl man, wie gesagt, den rus­si­schen Erobe­rungs­drang letzt­lich als die Haupt­ur­sa­che für die pol­ni­schen Tei­lun­gen sehen muß und Ruß­land sich auch das größ­te Stück des Kuchens sicher­te, ver­grö­ßer­te unter den Tei­lungs­mäch­ten Preu­ßen pro­zen­tu­al am stärks­ten sein Gebiet. Neben der Erobe­rung Schle­si­ens waren es die Tei­lungs­ge­win­ne zwi­schen 1772 und 1795, die aus dem Kur­fürs­ten von Bran­den­burg und König »in« Preu­ßen den Regen­ten über eine euro­päi­sche Groß­macht wer­den lie­ßen. Das trug dazu bei, daß sich in der Fol­ge­zeit nicht nur eine pol­nisch-rus­si­sche Feind­schaft, son­dern auch ein neu­er pol­nisch-deut­scher Gegen­satz ent­wi­ckel­te. Jede Wie­der­her­stel­lung Polens muß­te »Preu­ßens bes­te Seh­nen« bedro­hen, so Otto von Bismarck.

Als Preu­ßen sich 1795 dar­an betei­lig­te, die pol­ni­sche Rzecz­pos­po­li­ta end­gül­tig ein­zu­rei­ßen, beschä­dig­te es nicht nur die Legi­ti­mi­tät der euro­päi­schen Staa­ten­welt. Es trug auch mit dazu bei, einen Feind zu schaf­fen, der »gie­ri­ger als der rus­si­sche Kai­ser« sei, so Bis­marck wei­ter über die pol­ni­sche Men­ta­li­tät. An letz­te­rem mag man trotz allem zweifeln.

 

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