45 Referenten aus allen Strömungen (von Sahra Wagenknecht und Jürgen Elsässer bis Jutta Ditfurth und Thomas Ebermann) sowie knapp 1500 Gäste des gastgebenden konkret-Magazins um Hermann L. Gremliza (vgl. Autorenporträt in der 77. Sezession) gingen sich 1993 an die Gurgel.
Auslöser des bekanntesten Disputs im Rahmen der Hamburger Tagung war indes nicht heutige Prominenz wie Wagenknecht und Ditfurth, sondern Wolfgang Pohrt (1945 – 2018). Der Ideologiekritiker teilte aus wie kein zweiter – mußte aber auch einstecken wie kaum ein anderer. Karl Held (1944 – 2010), fränkischer Leitwolf der dogmatisch-marxistischen Zeitschrift GegenStandpunkt, rief Pohrt in einer Diskussion über Fremdenfeindlichkeit zu: »Du hast doch dei Genüge daran, zu sagen, schau dir die bösen Deutschen an, die zündeln! […] Der Gegenstand ist eurer Dichterei nicht würdig! Da sind wir geschiedne Leute!«
Was in einem Tumult aus Rede und Gegenrede ersoff, unter reger Beteiligung des zänkischen Publikums, deutet an, wo Pohrt stand: in jenem Lager der »Antideutschen«, das durch einen einseitigen Negativnationalismus dem deutschen Volk eine singuläre Kollektivrolle zuschrieb: ewiger Paria der Weltpolitik zu sein, nur oberflächlich »zivilisiert« durch Westbindung und Demokratisierung, latent dem nächsten Völkermord entgegenstrebend.
Pohrt wurde diese Unversöhnlichkeit zum Vorwurf gemacht. Man unterstellte ihm, berichtet sein Biograph Klaus Bittermann (Jg. 1952), an »deutschem Selbsthaß« zu leiden, »und gerade darin zeige sich, daß er deutscher sei als all die Deutschen, die er kritisiere«. Pohrt schlug natürlich zurück und wurde zum Autor, den die Genossen mehr fürchteten als die politischen Gegner, die von ihm fast nichts mitbekamen, weil Pohrt es vorzog, dem eigenen Milieu die Leviten zu lesen, getreu seiner Maxime: »Sie sagen mir, was Sie denken, und ich sage Ihnen, warum das falsch ist.«
Bittermann, der auch die elfbändige Pohrt-Werkausgabe ediert, gelingt es, die Biographie als persönliche und politische Geschichte zugleich niederzuschreiben. Das Leben Pohrts in Stichworten: aufgewachsen bei der Mutter; geprägt von einem »Lebensgefühl der Nicht-Zugehörigkeit« (Bittermann); früh sozialisiert und militant politisiert durch die Frankfurter Szene rund um Hans-Jürgen Krahl (1943 – 1970) und den SDS; dann Selbstvertiefung in deutsche Taten im Zweiten Weltkrieg und den Kampf gegen einen vermeintlich omnipräsenten Antisemitismus; Kriegserklärung an die »Friedensbewegung«; Kultivierung einer innerlinken »Kritik, die alles andere als konstruktiv war und partout keine Lösungen bot«, was ihn als fundamentalen Herausforderer in einigen Phasen en vouge erscheinen ließ, bevor man die Lust an dieser Provokation als Prinzip verlor.
Das erklärt auch das schwankende Verhältnis Pohrts zu den Hauptorganen seiner Publizistik, konkret und tageszeitung (taz). Immer wieder schlief der Kontakt ein, gefolgt von neuen Höhephasen, wobei er insbesondere der taz ein vernichtendes Zeugnis ausstellte, das noch 40 Jahre nach der Niederschrift Gültigkeit besitzt: Es handle sich bei ihr um ein »Seniorenblatt für Revolutionäre im vorzeitigen Ruhestand«, um ein »Blatt von Leuten, die ihre Zukunft hinter sich haben«. Bei so viel Offenherzigkeit verwundert es nicht, daß es einsam um Pohrt wurde. Er lebte in der radikalen Linken, aber wirkte als Abrißbirne gegen sie. Als ihre Massenphase in den 1980er Jahren endete, verlor Pohrt auch Gegenstände seiner Kritik und richtete sich in seiner beruflichen Nische der Stadtplanung und Sozialforschung in Stuttgart ein.
Verachtete Pohrt auch die Linke seiner Zeit, strebte er nicht nach Konversion in ein anderes Lager. Für ihn war die »Auflösung der Ideale«, so beschreibt es sein Freund Bittermann, »kein Grund, sich dem politischen Gegner anzuverwandeln«. Pohrt, längst Misanthrop, verließ Stuttgart selten, legte noch einige bemerkenswerte Texte zur Bandenbildung und zum Wandel des Staates zu einem »Dienstleistungsunternehmen« vor und löste sich von antideutschen Ressentiments. Er konstatierte sogar, daß in seiner schwäbischen Großstadt bei migrantischen Jugendlichen ein »ausgeprägter Deutschenhaß« entstehe, wohingegen es unsinnig sei, von einer »alltäglichen rassistischen Gewalt« zu sprechen, der Ausländer ausgesetzt seien. Seine alte Befürchtung, die deutsche Geschichte wiederhole sich, hat sich als unbegründet erwiesen. Die Deutschen bewegten die »Rente, der Zahnersatz und das Dosenpfand«, und gebe es doch Turbulenzen, sei »das bloß Zoff im Altersheim«. Deutschland, notierte Pohrt, sei »in einen subjektlosen Zustand eingetreten«.
Pohrt, den der Tod in vollständiger Einsamkeit ereilte, war zweifellos ein »intellektueller Unruhestifter«. Derartige Köpfe gibt es in der konformistischen Linken von heute keine mehr. Liest man die Pohrtsche Biographie, begreift man nicht nur dies, sondern erhält auch umfassende Einblicke in fünf Jahrzehnte innerlinken Ringens um zu bewahrende und zu überwindende Positionen. Vor allem den Fortschrittsfetisch legte Pohrt dabei am nachhaltigsten ab. Gegenständlich wird dies in einem konservativ anmutenden Verdikt gegenüber linker Weltbeglückung (in: Werke, Bd. 10): »Für ein funktionierendes Paradies braucht man Engel. Die Menschen sind keine.«
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Klaus Bittermann: Der Intellektuelle als Unruhestifter: Wolfgang Pohrt. Eine Biographie, Berlin: Edition Tiamat 2022. 696 S., 36 €
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