Ich selbst wurde durch Armin Mohler auf Schulz aufmerksam. Mohler empfahl vor allem die Erzählungen sowie die beiden Romane Dame in Weiß und Das Erbe und überließ mir kurz vor seinem Tod aus dem Bestand seiner berühmt-berüchtigten Dossier-Mappen unter anderem diejenige über Schulz.
Mit Schulz sprach ich 2001 erstmals über mögliche Neuausgaben bei Antaios. Aber der Verlag war damals noch nicht kräftig genug. Es hat also bis in den Mai dieses Jahres gedauert, bis wir in der Reihe Mäander endlich die sieben grandiosen Erzählungen aus den Bänden Stunde nach zwölf und Zeit ohne Ende herausgeben konnten.
Schulz war mit der Qualität der verlegerischen Arbeit und der Ergänzung des Buchs durch ein Autorenporträt Mohlers aus dem Jahre 1991 so zufrieden, daß er unserem Verlag testamentarisch die dauerhaften Rechte an diesen Erzählungen, aber auch an den beiden oben erwähnten Romanen überschrieb. Wir werden das Werk von Helmut H. Schulz also weiterhin pflegen.
In Gedenken an Schulz veröffentlichen wir nun Mohlers Autorenporträt – abgedruckt 1991 in den von Hans-Dietrich Sander herausgegebenen Staatsbriefen.
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Der Erzähler Helmut H. Schulz
Ein Porträt von Armin Mohler
Der 1931 in Berlin geborene Schriftsteller Helmut H. Schulz hat zwischen 1964 und 1989 in der DDR zehn Bücher veröffentlicht und mit ihnen beachtliche Auflagen erreicht. In Westdeutschland aber ist er bis heute fast unbekannt geblieben. In den hier veröffentlichten Darstellungen der DDR-Literatur taucht sein Name nicht auf, und die bestellten bundesrepublikanischen Kenner dieser Literatur verwechselten ihn beharrlich mit dem zehn Jahre älteren Max Walter Schulz, den sie von seiner Tätigkeit als Direktor des Literaturinstituts Johannes R. Becher in Leipzig her kannten. Gelesen wurde er nur von Leuten, die zufällig in DDR-Zeitschriften auf Erzählungen von ihm stießen, von der Lektüre gepackt waren und sich nun die Bücher von Helmut H. Schulz zu beschaffen suchten.
Das war nicht leicht. Über die Libresso-Buchläden, die in den westdeutschen Großstädten die DDR-Literatur vertrieben, waren sie nur zähe zu bekommen. Sowohl die Bücher der DDR-Staatsschriftsteller wie auch die der Dissidenten lagen dort in Halden auf—die einen wegen der Politik, die anderen wegen der Devisen. H. H. Schulz-Bücher hingegen mußte man sich erst bestellen und wochenlang auf sie warten: Oft wurden sie als „vergriffen“ gemeldet, selbst wenn sie drüben noch zu haben waren. Ganz offensichtlich war dieser Schulz ein Mann zwischen den Fronten, aus einem Niemandsland.
Auch ich wurde durch Zufall auf H. H. Schulz aufmerksam, im Jahr 1977. Damals hatte ich in der Welt die Kolumne „Zeitschriftenkritik“ inne und blätterte mit steigender Langeweile in einem Stapel von DDR-Zeitschriften. Man wurde dort nicht nur durch Marxismus-Leninismus belästigt, sondern auch durch manierierte Innerlichkeit, die bloß der Kontrapunkt dazu war. Da stieß ich in Heft 1977/4 von Sinn und Form auf die Erzählung „Meschkas Enkel“ von einem Helmut H. Schulz, las mich fest und wußte nach der Lektüre, daß ich einen großen Erzähler entdeckt hatte. Die Geschichte spielt im DDR-Alltag und ist von eigenartiger Spannung. In kleistisch lapidarer Sprache werden einfache Leute vorgeführt, die sich simpel äußern — welch komplizierte (und durchaus moderne) Gefühle und Gedanken sie bewegen, wird daran ablesbar, wie sie sich zueinander verhalten und aneinander vorbeireden. Keine Regiebemerkungen, kein Geschwätz, keine Abflachungen in Allgemeinheiten. Ich spürte, daß ich etwas recht selten Gewordenes in der Hand hielt: eine reine Erzählung.
So machte ich mich eines Tages daran, mir auf verwickelten Wegen die Bücher dieses Autors zu beschaffen (sei es auch nur in Fotokopie), denn ich wollte alles lesen, was er bisher geschrieben hatte. Nach der Lektüre der ersten vier Bände von Schulz (in Wirklichkeit waren es die Bände 2 bis 5; sein fast verschollener Erstling war mir damals noch nicht bekannt) war ich so überzeugt von ihm, daß ich beschloß, für diesen Autor die Trommel zu rühren und ihn in der Bundesrepublik bekannt zu machen. Ich hielt das für möglich, weil ich damals fester Mitarbeiter der Welt, also einer der meinungsbildenden überregionalen Zeitungen, war.
Ein erster Schritt gelang. Am 5. Mai 1979 berichtete ich in der Welt über die vier zwischen 1973 und 1977 erschienenen Bücher von Schulz (vgl. die Liste seiner Bücher). Grundton der Besprechung war:
… wir haben sie mit einem Gewinn gelesen, den uns die Lektüre eines gleichaltrigen westdeutschen Autors schon lange nicht mehr eingebracht hat.
Gezeichnet hatte ich mit einem Pseudonym, da ein so hohes Lob ohnehin schon drüben Verdächte wecken mußte. Es war ja in einem Blatt zu lesen, das damals (und auf lange noch) die DDR nur in Anführungsstrichen nannte. Mehr davon wollte ich dem mir unbekannten Autor nicht aufbürden. Leitlinie der Vorstellung von Schulz war, ihn als etwas Drittes zwischen den kommunistischen Staatsautoren einerseits und den Dissidenten („Samisdat-Schriftsteller aus Honecker-Land“ schrieb ich) auf der anderen Seite hervorzuheben. Die Kant und Kuba waren mir fremd — die Biermann und Bahro hingegen kannte ich nur zu gut. Von dieser Art Linksliberalen gab es in der Bundesrepublik schon eine Menge.
An dieser Unterscheidung lag mir viel, da ich mich seit 1975 öffentlich darauf festgelegt hatte, daß das deutsche Nationalgefühl zum mindesten im Volk der DDR die entscheidende Kraft geblieben sei. Die üblichen Auseinandersetzungen über die DDR gingen mir nicht tief genug — sie waren mir zu sehr Ideenstreit zwischen Linken und Liberalen. Die Fragestellung, ob die deutschen Stalinisten „Sozialismus“ und „Humanismus“ verraten hätten, war mir zu akademisch. Für mich als Rechten war die entscheidende Frage, ob sich der in der DDR unternommene Versuch einer Totalreglementierung aller Lebensbereiche (was das Dritte Reich in diesem Ausmaß gar nicht erst versucht hat) gegen tief eingerastete Mentalitäten, gegen anthropologische Gegebenheiten durchsetzen könne.
Die Präsentation in der Welt schrieb den Büchern von Schulz die Fähigkeit zu, die DDR „von ganz oben, sozusagen aus der Stratosphäre“ zu sehen:
Da Schulz den Alltag der DDR schildert, kommen bei ihm auch Kommunisten vor. Im Springer – einem Ingenieur, Chef eines Erdöl-Bohrtrupps, der Karriere-Stufen überspringt —zeichnet er sogar einen Erfolgsmenschen aus der Führungsschicht. Aber er zeichnet ihn weder als Teufel noch als Engel, sondern als Menschen mit all seinen Widersprüchen. Vor allem aber: Diese Menschen mit kommunistischen Ideen und staatstragender Tätigkeit sind zwar selbstverständliche Bestandteile dieser mitteldeutschen Welt —aber ebenso selbstverständlich treten neben ihnen andere auf, die genau das Gegenteil sind. Und mehr noch: In all diesen Menschen, auch den Kommunisten, werden immer wieder Kräfte wach, die den Einzelnen etwas tun (oder nicht tun) lassen, was zu jeder Ideologie oder Geschichtsphilosophie im Gegensatz steht. Der gesellschaftlich-zeitliche Bereich verschränkt sich so irritierend mit dem überzeitlichen, zeitlosen, wie es nun einmal das Charakteristikum jeder Wirklichkeit ist.
Mit dieser Auffassung der Wirklichkeit hatte ich mir, ohne es zu wollen, jede weitere Werbe-Möglichkeit für Helmut H. Schulz in der Welt blockiert. Damals war Günter Zehm in der Welt die absolute Autorität für alle DDR-Fragen: Er kam von dort, hatte dort als politisch verdächtig im Knast gesessen, was ihm Authentizität und Autorität verlieh —außerdem genoß der glänzende Journalist das besondere Vertrauen von Axel Springer. An sich standen wir gut miteinander, doch als Zehm nach der Rückkehr von einer Reise meine Schulz- Besprechung las, war er gereizt und gab zu verstehen, daß er sie nicht hätte durchgehen lassen. So differenziert Zehm bei jedem anderen Thema war — in Sachen DDR kannte er nur Polarisierungen.
Das nächste Buch von H. H. Schulz erschien erst zwei Jahre später: sein Meisterwerk Das Erbe (1981), ein Generationen-Roman, welcher in großem Bogen das Schicksal einer Familie vom wilhelminischen Reich über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis zum geteilten Deutschland der 70er Jahre nachzeichnet. Ich war von der Objektivität dieses Buches fasziniert, die so kraß von den beflissenen Verzerrungen vergleichbarer westdeutscher Familienchroniken absticht, und schickte an die Welt eine lange Besprechung.
Zur Kontrolle meines Urteils sandte ich Das Erbe an Ernst Rudolf Huber, der sich mit seiner monumentalen Deutschen Verfassungsgeschichte als der bedeutendste Kenner jenes historischen Bogens erwiesen hat. Er dankte mir
für den Schulzschen Roman, den ich gleich gelesen habe —endlich ein Buch, das man, ohne sich zu zwingen, in einem Zug lesen kann und das man nicht vergißt. Ein schon an sich erstaunliches Buch; umso erstaunlicher, daß es ‚drüben‘ erscheinen kann…
Doch die Besprechung in der Welt erschien und erschien nicht; Zehm ließ einen Abdruck nicht zu. Nach einem halben Jahr Schweigen, versuchte er das zu begründen mit der Behauptung, das Buch sei „biederster Soz-Realismus, vergleichbar etwa einem Willy Bredel“.
Von nun an konnte ich die Bücher von Helmut H. Schulz nur noch in kleineren Zeitschriften für Anspruchsvolle anzeigen und ihm manchen Kopf als Leser gewinnen. Zum Durchbruch in die Öffentlichkeit reichte das nicht.
Vielleicht war es unsinnig, einen so zwischen die Kategorien fallenden Autor wie Helmut H. Schulz der sogenannten öffentlichen Meinung der Bundesrepublik andienen zu wollen – einen Autor, dem Moralismus das letzte aller Anliegen ist. Schließlich agierten sowohl die Anhänger wie die Gegner des SED-Staates hochmoralisch gegeneinander, und zwar im Namen der gleichen Moral – wobei der eine dem anderen vorwarf, diese Moral verraten zu haben. Kein Wunder, daß dann die Vereinigung zum mindesten im Vordergrund als Gesinnungs-Wechsel mit strafrichterlicher Nachhilfe inszeniert wurde.
Von einem Autor wie Schulz hätte man lernen können, daß Mitteldeutschland weit effektiver umgespatet wurde, als man das mit Ideologien und roher Gewalt tun kann. Von den drei reifen Romanen, die Schulz bisher vorgelegt hat – Der Springer (1976), Das Erbe (1981), Dame in Weiß (1982) – handeln die beiden ersten von sozialen Aufstiegen im Ulbricht-Honecker-Staat, die sich an einer unsichtbaren Mauer totlaufen.
Zwar hat Schulz die in diesen Romanen auftretenden Stasi-Leute nicht als solche benennen dürfen. Wer jedoch die beiden Bücher achtsam las, erkannte schon damals den eigentlichen Antrieb dieses Staates: eine perverse Verflechtung zweier menschlicher Urtriebe, des Neides und der Trägheit (d. h. Bequemlichkeit), die zum Erstickungstod der DDR führte. Dieses Wegbleiben der Luft richtete tiefere Schäden an, die außerhalb des Gesichtskreises von Politologen und Juristen liegen.
Daß Schulz mit diesen Romanen und mit politisch aufgeladenen Erzählungsbänden wie Stunde nach zwölf (1985) und Zeit ohne Ende (1988) an die (DDR-)Öffentlichkeit treten konnte, hat einen einfachen Grund: Er ist die Extremform eines Nur-Erzählers. Er schreibt entweder Romane oder Erzählungen – „essayistische“ Prosa gibt es nicht von ihm, weil er zu jeder Produktion von Allgemeinheiten unfähig ist. Das ist die Wurzel seiner Meisterschaft in der Vergegenwärtigung der deutschen Geschichte unseres Jahrhunderts.
Schulz ist weder für noch gegen etwas —er sieht etwas, und er sucht das Gesehene möglichst „rund“, „ganz“ darzustellen. (Auf gebildet: Er sucht die Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu fassen.) Es geht ihm nicht darum, aus der Geschichte eine Lehre abzuleiten. Dazu paßt, daß Schulz nie eine Theorie über die eigene Art des Schreibens entwickelt hat, obwohl das heute ein „muß“ für Schriftsteller ist. (Ein prominenter mitteldeutscher Autor, der lange schon in Westdeutschland lebt und die Schulzschen Bücher schätzt, sagte nach persönlichem Kennenlernen: „Mit dem kann man ja nicht einmal über Literatur reden…“) Ein solcher Autor ist schwer faßbar für die Überwachungsdienste —im Fall Schulz scheinen sie oft erst nach Erscheinen eines Buches und den Reaktionen im Leserkreis ein „Ach so“-Erlebnis gehabt zu haben.
Hinzu kommt, daß die Darstellung der DDR und ihrer Gesellschaft auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte nicht das einzige Thema des Erzählers Schulz ist. Es wird auf verwirrende Art durchkreuzt von zwei anderen Themen. Aus jenem geschichtlichen Hintergrund hat sich ein Stück, das Dritte Reich, in recht intensiver Weise verselbständigt. Man entsinnt sich, daß Schulz 1931 geboren ist und also den Zusammenbruch dieses Reiches in dem Alter erlebt hat, in dem sich dramatische Umbrüche am tiefsten einprägen. Der dritte große Roman von Schulz, Dame in Weiß, spielt während jenes Zusammenbruchs; die Dame des Titels ist eine frühere Frauenschaftsführerin, die ihre Vergangenheit nicht so schnell vergessen kann, und mit einem abenteuerlichen Rudel von Halbwüchsigen wird der Roman zugleich ein Denkmal der Flakhelfer-Generation.
Es ist kein Zufall, daß im Schulzschen Werk die stärksten Erzählungen im fahlroten Untergang des Nationalsozialismus spielen: die Edelweißpiraten-Story „Rulaman“ (in Zeit ohne Ende) und vor allem die in der Auflösung der Ostfront spielende Geschichte „Das Leben und das Sterben“ (in Stunde nach zwölf), der Manfred Bieler prophezeit hat, sie werde im nächsten Jahrhundert als eine der großen Erzählungen unseres Jahrhunderts angesehen werden.
Neben DDR und Drittem Reich nimmt sich das dritte Erzthema von Schulz zunächst privater aus. Angefangen bei Meschkas Enkel, zieht es sich durch eine ganze Reihe von Schulzschen Büchern hindurch: Ein kleiner Junge lebt in der Obhut seiner Großeltern, weil es den Eltern während einiger Jahre nicht möglich ist, sich um ihr Kind zu kümmern. Man ist, im Zeichen des landläufigen Psychologismus, verlockt, auf ein „traumatisches Erlebnis“ zu tippen.
Aber auch hierin ist für Helmut H. Schulz die Welt nicht so simpel wie für so manche Zeitgenossen. Dieser Knabe, auf den wir in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder stoßen, fühlt sich bei seinen Großeltern nicht ausgesetzt, sondern behütet und geborgen; sie verkörpern für ihn die Herkunft, das selbstverständlich stützende Erbe. Die Eltern hingegen führen ihn ins Leben hinein: Der Vater ist das geistige Abenteuer, das aus dem Chthonischen herausführt ins ausgreifende Ordnen —so wie die Mutter weniger die Behüterin ist, als die Frau mit ihrer besonderen Welt. Die Liebe zu den Großeltern ist weder kleiner noch größer als die zu den Eltern, sondern von ganz anderer Art.
Die drei Grundthemen von Helmut H. Schulz – DDR, Drittes Reich, Leben zwischen Großeltern und Eltern – sind eng ineinander verstrickt. Dies ist sozusagen das Markenzeichen von Schulz, macht den seltsamen Reiz seiner Erzählwelt aus. In der Rechtfertigung seines Vetos gegen jede positive Hervorhebung von Helmut H. Schulz in den Spalten der Welt suchte Günter Zehm 1981 eines dieser Themen als bloße Taktik eines gehorsamen DDR-Untertanen zu entlarven:
Was Schulzes ‚politische Kühnheiten‘ betrifft, so gehen sie nicht über das hinaus, was die (Ost)NPD schon seit Jahr und Tag behaupten darf. Diese (Ost)NPD und ihr ‚Verlag der Nation‘ dienen der SED dazu, ehemalige Nazis mit der neuen Lage halbwegs zu versöhnen und sie für den ‚Aufbau‘ einzuspannen.
Das mag für die Zensoren eines der Motive gewesen sein, weshalb sie die Bücher von Schulz in der uns bekannten Form freigaben (auch wenn die Zensurvorgänge, wie wir heute wissen, längst nicht so methodisch und rational abliefen, wie das die westlichen DDR-Kritiker damals meinten).
Daß bei Helmut H. Schulz selbst der Antrieb aus einer tieferen Schicht kam, daß seine drei Hauptthemen in ihrer Verflechtung für ihn unausweichlich waren und sind, zeigen seine beiden ersten Veröffentlichungen nach dem Fall der Mauer: In der Form haben sie sich drastisch geändert — die Problemstellung ist die gleiche geblieben.
Die Formulierung von den „beiden ersten Veröffentlichungen nach dem Fall der Mauer“ ist übrigens ungenau. Nur eine von ihnen ist wirklich erschienen: die an Umfang kleinere. Die andere, weit umfangreichere, war zwar bereits offiziell angekündigt, ein Teil von ihr ist bereits gesetzt, die wirtschaftliche und sonstige Krise der bisherigen DDR-Verlage hat jedoch zunächst die Veröffentlichung unmöglich gemacht, sogar die rechtlichen Verhältnisse scheinen unklar zu sein. Wir sprechen vom Ponte-Roman. Der Schreibende hat zwar Einblick in den Satz und (soweit vorhanden) in das Manuskript erhalten, sieht sich jedoch nicht imstande, ein Urteil über dieses als opus magnum angelegte Werk abzugeben. Der Grund ist, daß er dreierlei nicht weiß: ob der Roman überhaupt erscheinen wird – dann, wenn ja, wann er erscheinen wird – und schließlich, drittens, ob er dann in seiner heutigen Form oder völlig umgearbeitet erscheinen würde.
Belassen wir es also bei zwei Feststellungen. Inhaltlich ist der Ponte-Roman, an dem Schulz seit einigen Jahren arbeitet, der Versuch einer umfassenden und abschließenden Aussage zur DDR anhand einer fiktiven Biographie eines erfundenen hohen Würdenträgers des Ulbricht-Honecker-Staates. Formal unterscheidet sich der Roman dadurch von allen bisherigen Veröffentlichungen von Schulz, daß er nicht mehr „realistisch“, sondern in einer Kunstsprache geschrieben ist: nämlich im „pikaresken“ Stil nach Art des barocken Schelmenromans. (Wobei man vermuten kann, daß sich Schulz zu dieser Kunstform entschloß, weil ursprünglich eine Veröffentlichung unter dem SED-Regime vorgesehen war — dem kam jedoch der Fall der Mauer zuvor.)
Wirklich erschienen ist von Helmut H. Schulz seit dem Fall der Mauer nur eine Erzählung von 159 Seiten mit dem Titel Götterdämmerung (1990). Der Blickfang auf dem Umschlag ist das Foto einer nächtlich lodernden Flamme. Dazu paßt, daß in dieser Erzählung die beiden andern Zentralthemen von Schulz, Drittes Reich und Künstliche Familie, eng ineinander verwoben sind. Schulz hat noch in keinem andern seiner Bücher die übermächtige Kindheitserfahrung vom Untergang des Reichs seiner Großeltern und Eltern so intensiv Bild werden lassen. Daß das auch diesmal mehr als eine taktische Finte ist, läßt sich daran ablesen, daß in diesem Band keine Spur jenes wattigen Betroffenheitsjargons zu finden ist, mit der sich der Bundesbürger die Erinnerung an jene Welt mit ihren Höhen und Tiefen vom Halse zu halten pflegt. Auf die andere übliche Prophylaxe, die Schnodderigkeit, läßt Schulz sich ebenfalls nicht ein. Auch hier geht er einen dritten Weg.
Wie der Ponte-Roman ist auch dieser schmalere Band formal ein Ausbruch aus der von Helmut H. Schulz bisher so meisterhaft gehandhabten Erzähltechnik des modernen Realismus. Allerdings ersetzt er sie hier nicht, wie im Ponte, durch eine Kunstsprache, sondern durchsetzt sie mit einem kontrastierenden Element: Zitate aus der Edda und den Sagas werden einmontiert. Dem sechsjährigen Jungen, durch dessen Augen und Ohren der Leser die Erzählung aufnimmt, werden von der Großmutter (S. 8)
alle die alten Geschichten von Asen und Menschen, von Wanen und Riesen ins Herz gepflanzt, als handelte es sich um Realitäten und nicht um Mythen. Sie fielen wie Früchte vom Baum der Erkenntnis in meinen Kopf, nisteten sich ein und blieben für immer. Mir oblag es, die geschaute mit der geträumten Welt zu verknüpfen.
Die Szene ist ein Hof in der Nähe der Ostsee:
Bäume, Gras, Wasser, Himmel und Wolken, Tiere und menschliche Heimstätten waren greifbar nahe und dem Gleichnis zugänglich.
Der großzügige, gütige Großvater Karl Stadelhoff wird für den Knaben zu Asa-Thor, der listig-abenteuerliche Onkel Georg nimmt die Züge von Loki an, und bei ihren seltenen Besuchen verwandelt sich die Mutter in die von allen umworbene Freya…
Ist wirklich alles dem Wandel unterworfen? Auf S. 46 liest man:
Ein Baum ist nicht nur Holz für den Zimmermann, sondern Gestalt und Wohnung eines Geistes, wie auch die ganze Welt gleichnishaft in der Weltesche untergebracht ist.
Doch das ländliche Idyll an der See vermag nicht alles unter seine Gleichnisse zu zwingen. Die Schlote der großen Städte recken sich in der Ferne, und als Asa-Thor geschlagen dorthin zieht, wird er wieder zum Handwerksmeister Karl Stadelhoff. Zwischen die pathetischen Szenarien der Edda schieben sich die nüchtern geschilderten Lebensläufe der einzelnen Mitglieder dieser Großfamilie, die sich aus Riesen zurückverwandeln in Städter, Büromenschen, Parteigenossen. In solchen Bilderfolgen läßt uns Schulz die Risse durch ein Reich spüren, das mit dem Anspruch aufgetreten war, Land und Stadt, Macht und Geist, Erbe und Zukunft zu versöhnen.
Die Erzählung Götterdämmerung vom Helmut H. Schulz endet mit einer hintersinnigen Pointe. Kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wird „Onkel Loki“ — man weiß nicht, ob er wirklich ein Blutsverwandter ist—zum letzten Ziehvater des zum Halbwüchsigen herangereiften Knaben Buri und zieht mit ihm durch die brennenden deutschen Städte. Der Ziehvater-Onkel kümmert sich bei dieser Wanderung unter Bombenhagel mehr um die umsichtige Vorbereitung seiner erfolgreichen Nachkriegsexistenz als um seinen Zögling.
Buri wird im Ruhrgebiet im Keller eines bombardierten Hauses verschüttet und erst nach neun Tagen wunderbarerweise gerettet. Als er im Lazarett erwacht, sitzt – ein zweites Wunder – seine Mutter weinend an seinem Bett. Die Erzählung endet mit den Sätzen:
Aber sie brachte mich nicht zu Asa Thor, sondern nach Z. in Oberschlesien, und es war noch nicht das Ende. Ihren Untergang hat die Welt noch vor sich.
Auf Sehrohrtiefe
Mäander-Abonennten sind im Vorteil, denn sie durften schon Auszüge aus seinem bedeutsamen Werk kennenlernen. Eine umfassendere Lektüre empfiehlt sich.
Möge er in Frieden ruhen.