Die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst kann unmöglich von einem neutralen Standpunkt aus erfolgen. Gilt schon für andere Wissenschaftsgebiete, daß sich Auge und Geist des Betrachters nicht ausschalten lassen, so noch vielmehr für die wissenschaftliche Betrachtung des Menschen.
Hier kommen Interessen ins Spiel, denn ein bestimmtes Menschenbild hat bestimmte politische Implikationen. Damit wird stets eine bestimmte Machtfrage gestellt: Ein Menschenbild steht nämlich einerseits in einem starken Wechselverhältnis mit den Werten, die in der Gesellschaft gerade als gültig anerkannt sind. Andererseits lassen sich gesellschaftspolitische Ziele gut mit dem Verweis auf anthropologische Forschungsergebnisse begründen. Wer einen autoritären Staat begründen möchte, wird auf die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen verweisen, wer dem Anarchismus den Weg bereiten möchte, betont seine Fähigkeit zur Selbstorganisation.
So richtig es ist, daß die empirische Wissenschaft selbst nicht in der Lage ist, Werte zweifelsfrei zu begründen, so sind doch gerade bei allen Fragen, die den Menschen betreffen, immer wieder Interessenkonflikte zu beobachten. Berühmt geworden ist der Werturteilsstreit in den Sozialwissenschaften um die vorletzte Jahrhundertwende. Bereits hier wurde von Max Weber auf das Forschungsinteresse hingewiesen, mit dem der Forscher bereits eine bestimmte Auswahl und damit ein Werturteil trifft. (1)
Für die Anthropologie gilt ähnliches. Es gibt nicht nur zahlreiche Anthropologien, die sich von einem bestimmten wissenschaftlichen Standpunkt aus dem Menschen nähern und so zu einer theologischen oder medizinischen Anthropologie führen, sondern auch das Material, auf das sich die Anthropologie stützen kann, ist kaum auszuschöpfen und somit immer einer Selektion unterworfen.
Niemand hat diesen Zusammenhang so deutlich gemacht wie Arnold Gehlen in seinem 1956 erschienenen Buch Urmensch und Spätkultur, das nicht nur die Herleitung der Institutionen aus den elementarsten Formen des menschlichen Verhaltens enthält, die durch die Ethnologie erforscht werden, sondern auch eine scharfe Polemik gegen die Spätkultur, die Gegenwart der 1950er Jahre, weil diese dabei sei, die Institutionen zu zersprengen. Damit steht das Menschsein überhaupt in Frage, weil die stabilisierende Wirkung der Institutionen verlorenzugehen drohe. (2)
Gehlens entscheidender Hinweis in dieser Sache ist der auf den Zusammenhang von Ideen und Institutionen. Seine These lautet, »daß Ideensysteme jeder Art ihre Stabilität, ihren zeitüberdauernden Geltungsdrang, ja ihre Überlebenschance den Institutionen verdanken, in denen sie inkorporiert sind«. (3)
Eine Idee, und damit auch Werte, kann sich zwar ausbreiten, wenn die Zeit dafür günstig ist oder die Notwendigkeit existiert, allerdings kann sie sich nicht aus eigenen Mitteln halten. Das Recht muß sich im Rechtssystem institutionalisieren, um wirksam sein zu können. Ganz ähnlich verhält es sich bei religiösen Erweckungsbewegungen, die nicht in der Lage waren, eine Kirche zu gründen und sich nicht dauerhaft behaupten konnten. Das Gefühl bleibe vorhanden, »aber als eine unzuverlässige, bloß affektive und ausdrucksarme Instanz«. Und auch politische Ideen können sich nur mit einer Organisation durchsetzen. Die Schlußfolgerung lautet: »Es kommt nicht so sehr darauf an, Ideen zu diskutieren, als darauf, ihnen zu einer gerechten und dauerhaften Wirklichkeit zu verhelfen.« (4)
Dieser Gedanke der institutionellen Bedürftigkeit der Ideen steht bei Gehlen nicht im luftleeren Raum, sondern leitet sich aus der Erfahrung ab – weniger aus der persönlichen als aus der Erfahrung der Menschheit als ganzer. Hier kommen die Vorgeschichte und die Ethnologie ins Spiel, weil Gehlen die Entstehung der Institutionen bereits am Anfang menschlicher Kulturen beobachten kann. Er leitet sie aus dem darstellenden Verhalten des Menschen ab, der im Unterschied zum Tier in der Lage ist, sich etwas, das in seiner Vorstellung stattfindet, zu vergegenständlichen. Damit war die Idee allen zugänglich, und es konnten sich gemeinsame Riten entwickeln, die für alle verbindlich waren. Formalisierungen, deren Ursprung Gehlen im Spiel und den Spielregeln erblickt, sorgten dafür, daß Institutionen sich auch in neuen Situationen bewähren. Die Gültigkeit von Institutionen wird zusätzlich durch den Mythos, oftmals ihre Entstehungsgeschichte, abgesichert.
Diese wenigen Hinweise auf den Ursprung von Institutionen genügen, um zu zeigen, warum die Vorgeschichte und die Ethnologie so zentral sind, wenn es darum geht, anthropologische Kategorien aufzustellen. Denn darum ging es Gehlen: Wesenseigenschaften des Menschen ausfindig zu machen, die ursprünglich sind und sich nicht auf andere Eigenschaften zurückführen lassen. Diese können auch als universale Konstanten bezeichnet werden. Warum wir dafür in die Vergangenheit reisen oder zu den Menschen gehen müssen, die mutmaßlich noch in einer früheren Zivilisationsstufe leben, ist einsichtig. Es geht darum, den Menschen zu finden, wie er ist, und nicht wie er durch Geschichte und Kultur geworden ist. Dahinter steckt die Annahme, daß viele Überformungen sekundär sind und der Ursprung eine normative Gültigkeit besitzt, auf den es hinzuweisen gilt, wenn es Interesse an der Existenz des Menschen gibt.
In Deutschland hat sich vor allem die Kulturanthropologie (in anderen Ländern wird oftmals die englische Bezeichnung cultural history verwendet) dieser Fragestellung angenommen. Laut einer Definition von Wilhelm Mühlmann versucht die Kulturanthropologie aus der Vielfalt kultureller Formen typische Chancen des menschlichen Verhaltens abzulesen. (5)
Dabei geht es zum einen um die Frage, wie das menschliche Verhalten durch die kulturelle Umwelt bestimmt wird, mit anderen Worten, wie relativ diese ist, zum anderen um die Frage, welche der möglichen Verhaltensweisen sich aus welchen Gründen durchsetzen. Mühlmann spricht in diesem Zusammenhang vom Verhältnis von Wirklichkeit und Chance. Die Kulturanthropologie steht in enger Verbindung zur Ethnographie, die sich mit den schriftlosen Kulturen befaßt, aber auch zur Vorgeschichte, die sich dem Teil der menschlichen Geschichte widmet, von dem keine schriftlichen Quellen überliefert sind und bei dem wir bei der Deutung auf die materiellen Zeugnisse angewiesen sind.
Mühlmann kommt auf fünf universale Konstanten, die sich in allen Kulturen nachweisen lassen: Wirtschaft zur Überlebenssicherung, Rollenverhalten der Geschlechter, Prinzip der Gegenseitigkeit in allen Bereichen, Symboldenken und verbindliche Normen. Besonders interessant ist für uns der letztgenannte Punkt: »Ferner gibt es überall bestimmte Ordnungsvorstellungen, wie das Leben der Gruppe beschaffen sein sollte, also verbindliche Normen und Begriffe für Richtig und Falsch, Gut und Böse, Schicklich und Unschicklich usw., und dies alles verbunden mit einer naiven Absolutsetzung dieser Normen; durchweg auch eine in Generationen überlieferte ›Lebensweisheit‹ in stehenden Redewendungen oder Sprichwörtern.« (6)
Bei diesen Konstanten handelt es sich um formale Prinzipien, deren Gehalt von der jeweiligen Kultur abhängt und daher sehr unterschiedlich sein kann. »Die Konstanten werden also in kulturell verschiedener Weise normiert und institutionalisiert.« Mühlmann führt als Beispiele die Blutrache an, die mal Pflicht und mal Delikt sein kann, aber auch bestimmte Speiseverbote oder sittliche Auffassungen zum Verhältnis der Geschlechter. Die Kulturanthropologie ist damit eine rein beschreibende Wissenschaft, die von den Wertungen des eigene Kulturhorizonts absehen und auch die absonderlichsten Phänomene als Ausdruck menschlichen Verhaltens verstehbar machen will. Dieser Relativismus ist die Überwindung der von Mühlmann erwähnten naiven Absolutsetzung der Normen und bedeutet einen echt wissenschaftlichen Anspruch.
Allerdings stößt der Kulturrelativismus insofern an Grenzen, als sein Standpunkt des Verstehens mittlerweile in unmittelbare Nähe zum Verständnis und damit zur Rechtfertigung von bestimmten Verhaltensweisen gerückt wird. Ebendieser Standpunkt ist dann nur noch einer, den es zu überholen gilt, dem man die Auswahl seiner Beispiele, den Forschungsgegenstand und ähnliches als wertende Voraussetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit vorwerfen kann. Das bedeutet, daß auch der kulturrelativistische Standpunkt der Wissenschaft als politischer Standpunkt gewertet werden kann, wenn es darum geht, bestimmte Verhaltensweisen als unschicklich zu markieren. Zumal Mühlmann ja in der eigenen Kultur den naiven Standpunkt als überwunden ansieht und damit eine Wertung vornimmt.
Dieses Problem hat Oswald Spengler, der vermutlich bekannteste Kulturrelativist überhaupt, gesehen und daher gar nicht erst versucht, den eigenen Standpunkt zu verleugnen. Zwar beansprucht auch er für seine Methode eine allgemeine, kulturell ungebundene Gültigkeit, ist sich aber wie Gehlen bewußt, daß sein Blickwinkel insofern interessegeleitet ist, als es darum geht, der Gegenwart ihre Möglichkeiten vor Augen zu führen. Chance und Wirklichkeit existieren auch heute, könnte man in Anlehnung an Mühlmann sagen.
Spengler unterscheidet in seinem Untergang des Abendlandes eine Reihe von Kulturen, die sich unabhängig voneinander nach dem gleichen Prinzip entwickelt hätten. Alle diese Kulturen brachten eine Frühzeit und eine Hochkultur hervor, um dann schließlich in der Zivilisation zu enden. Dieses Entwicklungsgesetz ist so etwas wie ein allgemeines Prinzip, das in den Kulturen mit Leben gefüllt wird. Nun hat Spengler nicht von allen Kulturen Kenntnisse über den Anfang, weil es darüber keine Zeugnisse gibt, oder das Ende, weil es noch nicht stattgefunden hat. Daher ist die antike Kultur die Blaupause, deren Ergebnisse er auf die anderen Kulturen überträgt. Aber: Kulturen besitzen unterschiedliche Wahrheiten – das ist der Inhalt des Prinzips –, die nur in ihrem Kulturkreis gültig sind. Da keine Kultur ewig existiert, kann es auch keine ewiggültigen Wahrheiten geben.
Bereits in der Einleitung zum ersten Band offenbart Spengler seinen politischen Anspruch: »Der westeuropäische Mensch, so historisch er denkt und fühlt, ist in einem gewissen Lebensalter sich nie seiner eigentlichen Richtung bewußt. Er tastet und sucht und verirrt sich, wenn die äußeren Anlässe ihm nicht günstig sind. Hier endlich hat die Arbeit von Jahrhunderten ihm die Möglichkeit gegeben, die Lage seines Lebens im Zusammenhang mit der Gesamtkultur zu übersehen und zu prüfen, was er kann und soll. Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres wünschen.« (7) Das bedeutet, daß Spengler aus der geschichtlichen Wirklichkeit auf ein Sollen schließt, obwohl er den Weg der Kulturen, den Untergang oder die Vollendung, als unausweichlich annimmt.
In der weltweit geführten Debatte um sein Buch tauchte der Vorwurf auf, daß sich Spengler zu wenig auf die Vorgeschichte bzw. die ethnographischen Ergebnisse eingelassen habe, die Hinweise auf die Gemeinsamkeiten aller Kulturen geben würden: ewige Ideen, gemeinsame Mythen, die der Menschheitsgeschichte als Ganzem zu eigen seien. Wichtiger Anreger war für Spengler hierbei der Ethnologie Leo Frobenius, der seinen Blick auf die außereuropäischen Kulturen lenkte. Denn Spenglers Kulturen, so Frobenius, wurzelten nicht im Tierreich, sondern in der Vor- und Frühgeschichte der Menschheit. Das führte dazu, daß Spengler seinen Schwerpunkt verschob und den Menschen vor den Hochkulturen in den Blick nahm. (8) Nicht zuletzt ging es ihm dabei darum, seine Auffassung vom Menschen auf eine breitere Basis zu stellen. Er sah in der menschlichen Kultur insgesamt einen Aufstand gegen die Natur. Der Mensch sei eine Unmöglichkeit: Natur, die Natur überwinden will.
Allerdings differenziert Spengler auch hier: Das Schicksal »verurteilt zu Lagen, Anschauungen und Leistungen. Es gibt keinen ›Menschen an sich‹, wie die Philosophen schwatzen, sondern nur Menschen zu einer Zeit, an einem Ort, von einer Rasse, einer persönlichen Art, die sich im Kampfe mit der gegebenen Welt durchsetzt oder unterliegt, während das Weltall göttlich unbekümmert ringsum verweilt.« (9) Er konzipierte ein völlig neues Buch, das die Vorgeschichte und damit die allgemeingültigen Schlußfolgerungen enthalten sollte.
Aus diesem ganzen Werk, das uns heute in mehreren Aphorismensammlungen aus dem Nachlaß vorliegt, sind zu Lebzeiten nur sehr wenige Stücke erschienen. Das wichtigste daraus ist Der Mensch und die Technik, weil er darin seine Technik der Morphologie der Kulturen auf »die Geschichte des Menschen von seinem Ursprung an« anwenden möchte. Hier geht es also tatsächlich um eine Anthropologie, um die Frage, wie der Mensch unterhalb der Hochkulturen eigentlich ist. Es geht um die Ursache der kulturellen Leistungen, die der Mensch erbracht hat und noch erbringt. Und es geht um die politischen Implikationen, die für die Gegenwart daraus folgen.
Laut Spengler ist der Mensch ein Raubtier: »Die Welt ist die Beute, und aus dieser Tatsache ist letzten Endes die menschliche Kultur erwachsen.« (10) Das Mittel der Jagd ist die Technik, die den Menschen am offensichtlichsten vom Tier unterscheidet und die auch bis heute sein Dasein bestimmt. Spengler sieht aber nicht in der technischen Fertigkeit des Menschen die Ursache der Kultur, sondern ihm geht es um die Ursache der Technik, die er in der Seele ausmacht. Denn nicht das Werkzeug selbst ist entscheidend, sondern das technische Verfahren, das dahintersteckt, und das Ziel, das damit erreicht werden kann. Solange Technik nicht im Sinne einer Taktik des Lebens, also des Kampfes, eingesetzt wird, bleibt sie etwas Fremdes (und sie wird es auch wieder, wenn Technik, wie heute, nur angewandt wird, ohne ihre Wirkungsweise zu verstehen).
Die Charakterisierung des Menschen als Raubtier geht nicht auf die Anatomie zurück, sondern auf die seelische Ausstattung des Menschen, die seinen Platz in der Rangordnung des Lebens bestimme. Die Orientierung des Raubtieres erfolge mit den Augen, im Unterschied zum Pflanzenfresser, der sich auf seine Witterung verlassen müsse. Im Auge aber liegt die Idee des Herrschens! Diese Analogie verknüpft Spengler zu einer ethischen Frage, die natürlich einen entsprechenden Gegenwartsbezug aufweist, wenn er die Raubtierethik, die im Kampf den Sinn des Lebens erblickt, von der Pflanzenfresserethik unterscheidet, die er vor allem in der willenlosen Herde, die sich treiben läßt, verwirklicht sieht.
Der Unterschied zwischen Raubtier und dem raubtierhaften Menschen liegt in der Technik. Auch die Tiere haben Technik, die aber immer Gattungstechnik bleibe und instinktiv erfolge. Der Mensch sei dagegen das erfinderische Raubtier, das sich mittels Technik aus seiner Gattung befreien könne, allerdings zunächst in den Kulturen gebunden bleibe. Der technischen Emanzipation von der Natur folgt als zweite absolute Schwelle das Sprechen, das ein planmäßiges Tun von mehreren Menschen und so Ackerbau und Viehzucht ermögliche. Den Ursprung der Sprache sieht Spengler nicht im Mythos oder gar der Argumentation, sondern im Dialog von Befehl und Gehorsam. Mit der Gemeinschaft endet aber auch die Freiheit des Raubtieres: »In dieser wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit liegt die stille und tiefe Rache der Natur an dem Wesen, das ihr das Vorrecht auf Schöpfertum entriß. Dieser kleine Schöpfer wider die Natur, dieser Revolutionär in der Welt des Lebens ist der Sklave seiner Schöpfung geworden.« (11)
Das Raubtier hat mit der Kultur sein eigenes Gefängnis gebaut. Allerdings sieht Spengler im Rahmen der Kulturwerdung eine Kollektivierung der Raubtierseele. Nach der Staatsbildung muß das Volk zum Raubtier werden, so es überleben will. Innerhalb des Volkes kommt es aber wieder zur Differenzierung von Raub- und Herdentieren. Die Elite, die Führer eines Volkes bilden ihre Persönlichkeit als Protest gegen die neue Zwangsjacke aus und schaffen damit innerhalb des Volkes eine unaufhebbare Spannung: »Diese Unverstandenen und Verhaßten, das Rudel der starken Persönlichkeiten, haben eine andere Psychologie. Sie kennen noch das Triumphgefühl des Raubtieres, das die zuckende Beute unter den Klauen hält, das Gefühl des Kolumbus, als am Horizont das Land erschien«. (12) Diese wenigen schaffen es nicht, diese Kultur auf der Höhe zu halten, die Zivilisation ist selbst zur Maschine geworden, die nicht mehr bewältigt und verstanden wird.
Spenglers Deutung des Menschen kultiviert eine Endzeitstimmung, der Mensch kann den Prozeß nicht aufhalten, er kann sich ihm nur stellen, ihn ertragen. Die Weltanschauung, die er empfiehlt: »Lieber ein kurzes Leben voll Taten und Ruhm als ein langes ohne Inhalt.« Es kommen hier noch einmal die Tugenden zum Tragen, die Europa groß gemacht haben: die Lust am Wettkampf, an der Erkenntnis und an der Herrschaft. Was Spengler von anderen populären Deutungen des Abendlandes unterscheidet, ist sein im Grunde fatalistischer Ansatz, der dem europäischen Fortschrittsglauben, der ja aus der Raubtierethik folgt, entsagt und diesen für eine billige Motivationsgeste für schwache Naturen hält: »Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn.« (13)
Die Rede von der Notwendigkeit der Geschichte, der der Mensch unterworfen ist, klingt in heutigen Ohren wie eine Beleidigung des selbstbestimmten Menschen und seiner unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten, wie sie zumindest von liberalen Zeitgenossen vertreten werden. Insofern nimmt sich das jüngste Buch zum Thema der Kulturanthropologie wie ein Gegenentwurf zu Spengler aus. Allerdings erwähnen David Graeber und David Wengrow, ein Anthropologe und ein Archäologe, ihn in ihrem Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit an keiner Stelle. (14) Das mag mit ihrem ganz anderen Gedanken zusammenhängen, den sie in dem Buch entwickeln und für den sie zumindest ähnlich wie Spengler in Anspruch nehmen, einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung des Menschen vorgenommen zu haben.
Sie versuchen in ihrem Buch das, was sie den mythischen Unterbau der Sozialwissenschaften nennen, zu widerlegen. Ihrer Meinung nach gehen Anthropologie und Soziologie von vielen Annahmen über den Menschen aus, die sich durch das geschichtliche oder ethnologische Material nicht belegen lassen. Daher unternehmen sie einen Gang durch die Vorgeschichte, die immer wieder mit Befunden aus der Ethnologie abgeglichen wird, um damit die Festlegung des Menschen auf ein staatenbildendes Wesen zu widerlegen. Daß der Staat und die Herrschaft über andere Menschen überhaupt ein Grundübel sind, steht für Graeber und Wengrow fest und ist Leitgedanke ihres Buches: »Was ist der Zweck all dieses neuen Wissens, wenn nicht eine Neugestaltung der Vorstellungen, die wir von uns selbst und unserer künftigen Entwicklung haben? Oder anders ausgedrückt, die Wiederentdeckung unserer dritten Grundfreiheit, der Freiheit, neue und andere Formen sozialer Realität zu schaffen?« (15)
Wengow und Graber haben demzufolge auch ein Bild davon, wie der Mensch eigentlich sei: ein ursprünglich freies Wesen nämlich, das sich insbesondere durch den Staat sämtlicher Freiheiten habe berauben lassen. Auch wenn man hier an ein freies Raubtier denken könnte, ist doch die Tendenz dieser Freiheit bei den beiden eine ganz andere. Die Grundfreiheiten bestehen, neben der bereits erwähnten, darin, die sozialen Formen frei gestalten zu können, »seine Umgebung zu verlassen und an einen anderen Ort zu ziehen« und »die Befehle anderer zu ignorieren oder zu mißachten«. (16)
Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte des Verlustes dieser Freiheiten. Die Autoren stehen nur vor dem Problem, diese Grundfreiheiten als konstitutiv für den Menschen herauszustellen. Denn ihnen geht es ja nicht nur um die Vergangenheit, sondern vor allem um eine Deutung der Vergangenheit, um daraus normative Schlußfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen: »Wenn wir also die Grundvoraussetzungen sozialer Entwicklung überdenken, rütteln wir damit zugleich an unseren etablierten politischen Vorstellungen.« (17)
Diese sehen sie vor allem in der Fortschrittsideologie, die davon ausgeht, daß es eine Weiterentwicklung des Menschen im Sinne einer Höherentwicklung seiner sozialen Umstände, aber auch seiner Mündigkeit gegeben habe. Insbesondere die Theorien von Rousseau und Hobbes werden von ihnen als konstituierend für unsere gegenwärtigen Auffassungen herausgestellt. Aber weder habe es, so die Autoren, einen Moment in der Geschichte gegeben, an dem durch Ackerbau und Viehzucht die Ungleichheit in die Welt gekommen sei, noch sei der Mensch ein gefährliches Wesen, das sich nur bändigen könne, indem es eine Macht über sich anerkenne, die es vor anderen Menschen schützt. Diesen Festlegungen wollen die Autoren eine »hoffnungsvollere« Geschichte entgegensetzen.
Etwas bizarr mutet dabei allerdings gleich der Auftakt des Buches an, in dem die Autoren zeigen wollen, daß die europäische Aufklärung aus der »indigenen Kritik« an den Zuständen in Europa erwachsen sei … Aber der Schwerpunkt des Buches liegt glücklicherweise nicht auf der Geistesgeschichte, sondern auf den materiellen Überlieferungen. Es bietet hier viel Material, insbesondere archäologische Erkenntnisse der letzten 30 Jahre, um die obengenannte These zu belegen. Es ist nicht verwunderlich, daß all diese Beispiele in einem der These günstigen Licht erscheinen. Insbesondere bei den bekannteren Ausgrabungsstätten, wie Göbekli Tepe oder Çatal Hüyük, werden ja auch andere Deutungen vertreten. Von den Autoren werden sie als Beleg dafür angeführt, daß aus Seßhaftwerdung und Städtebildung keine Notwendigkeit der Herrschaft und Bürokratie folgt, sie also auch ohne Staat denkbar sind. Das Argument der großen Zahl, so wird damit impliziert, bedeutet also auch heute nicht, daß es einen Staat geben muß.
Überhaupt, so die Autoren, sei die Menschheitsgeschichte nicht durch Zwangsläufigkeiten bestimmt. Unser Bild der Vergangenheit sei so festgelegt, daß wir die Belege für alternative Möglichkeiten gar nicht mehr wahrnehmen. Sie führen daher Zeugnisse für saisonale Schwankungen der Sozialstruktur in frühmenschlichen Gesellschaften an, (18) und verweisen auf saisonale Machtbefugnisse, die beispielsweise nur zur Jagdzeit galten. Wenn sich die Menschen in früheren Zeiten fließend zwischen den Sozialordnungen bewegt hätten, so könne es den historischen Moment nicht gegeben haben, an dem alles Weitere festgelegt worden sei. Die Frage müsse daher lauten: »Warum sind wir steckengeblieben? Wie sind wir bei einer einzigen Ordnung gelandet? Wie haben wir das politische Bewußtsein verloren, das für unsere Spezies einst so typisch war?« (19) Womit auch die Fähigkeit, in Alternativen zu leben, verlorengegangen sei. Kein Ackerbauer zu werden war demnach eine bewußte Entscheidung, da Landwirtschaft als mühevolle Mangelwirtschaft begann. Das Eigentum sei nicht ein Moment, das irgendwann hinzutritt und die Ungleichheit unter die Menschen bringt, sondern es war immer schon vorhanden, allerdings habe es nicht zwingend eine positive Wirkung auf die Machtakkumulation gehabt. (20)
Der Mensch ist für die Autoren ein freies Wesen, die »Menschen hätten ein größeres kollektives Mitspracherecht an ihrem Schicksal, als wir gewöhnlich annehmen«. (21) So sympathisch die Auffassung, daß der Mensch auch ganz anders kann, angesichts der gegenwärtigen Alternativlosigkeit der politischen Strukturen auch sein mag, bleibt doch die Frage, ob sie den Tatsachen entspricht. Hier sind Zweifel angebracht, da die Autoren selbst nicht in der Lage sind, ihre Theorie streng aus dem Material abzuleiten, sondern die argumentativen Lücken mit unbelegbaren Annahmen füllen müssen. Daß die Annahme, eine größere Anzahl von Menschen erfordere Verwaltung und Herrschaft, ein Mythos sei, wird beispielsweise mit dem Hinweis belegt, daß man lange Zeit auch angenommen habe, Frauen würden schlechte Soldaten sein, dabei habe sich mittlerweile herausgestellt, daß sie »für gewöhnlich die viel besseren Schützen« seien. (22)
Daher können Graeber und Wengrow die eigene Frage, warum sich die Menschheit auf die Staatlichkeit festgelegt habe, auch nicht plausibel beantworten. Der Staat sei eine »Kombination aus Gewalt und einer komplexen sozialen Maschine, die erschaffen wurde, um vorgeblichen Fürsorgezwecken zu dienen«. Die Herrschaft stamme aus dem heimischen Bereich der Familie, in der Sicherheit und Fürsorge miteinander verknüpft sind. Unfreiheit komme dann ins Spiel, wenn die persönliche Ebene verlassen werde und Versprechungen unpersönlich und übertragbar, damit bürokratisiert und korrumpiert würden. Warum also sind wir steckengeblieben? Weil wir Gewalt und Fürsorge in einen Zusammenhang gestellt haben und uns daran gewöhnt haben, das eine nicht ohne das andere denken zu können.
Damit sind wir wieder bei Hobbes angelangt, der ja eben in dieser Kombination den Garanten einer dauerhaften Friedensordnung sah. Doch das ist sie nur solange, wie die Menschen ihr vertrauen und an sie glauben. Dieser Glaube schwindet, und Graeber und Wengrow möchten ihn als Aberglauben entlarven und damit den Todesstoß versetzen. Was daraus folgen würde, wäre eine anarchistische Dystopie, in der auch innerhalb der Gesellschaften das Recht des Stärkeren die einzige Quelle der Macht wäre, in der kein Platz für die Ausbildung einer Persönlichkeit wäre, weil es keine Entlastung vom Überlebenskampf gäbe. Im Hintergrund steht die Sehnsucht nach Gleichheit und »Wohlleben auf Weltebene«: »Seit die Zivilisation diesen Kurs genommen hat, experimentiert der Mensch mit sich selbst an einer Stelle, an der er es noch nie tat. Indem er versucht, sich ganz grundsätzlich dem Joch der Umstände zu entziehen, liefert er sich an etwas aus, das er noch zu wenig kennt und wovon er die Meinungen des frivolsten Optimismus hat: das ist er selbst.« (23)
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(1) – Vgl. Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis« (1904), in: ders.: Soziologie, universalgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. Johannes Winckelmann, Stuttgart 61992, S. 186 – 262.
(2) – Vgl. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M. 62004.
(3 ) –Arnold Gehlen: »Mensch und Institutionen«, in: ders: Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 69 – 77, hier S. 76.
(4) – Ebd., S. 77.
(5) – Vgl. Wilhelm Emil Mühlmann: »Umrisse und Probleme einer Kulturanthropologie«, in: ders., Ernst W. Müller (Hrsg.): Kulturanthropologie, Köln / Berlin 1966, S. 15 – 49.
(6) – Ebd., S. 20.
(7) – Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923, S. 57.
(8) – Vgl. dazu die Einleitungen von Anton Mirko Koktanek zu den Spengler-Bänden Urfragen. Fragmente aus dem Nachlaß (1965) und Frühzeit der Weltgeschichte. Fragmente aus dem Nachlaß (1966).
(9) – Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, S. 13.
(10) – Ebd., S. 20.
(11) – Ebd., S. 56 f.
(12) – Ebd., S. 77.
(13) – Spengler: Untergang des Abendlandes, S. 1195.
(14) – Vgl. David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart ³2022.
(15) – Ebd., S. 559.
(16) – Ebd., S. 536.
(17) – Ebd., S. 462.
(18) – Ebd., S. 121.
(19) – Ebd., S. 135.
(20) – Ebd., S. 182.
(21) – Ebd., S. 230.
(22) – Ebd., S. 305.
(23) – Arnold Gehlen: »Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie«, in: ders.: Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 55 – 68, hier S. 67.