Karl-Heinz Ott: Verfluchte Neuzeit

von Felix Dirsch --

1966 erschien ein ebenso außergewöhnliches wie schnell als anachronistisch empfundenes Buch: Hans Blumenbergs Schrift Die Legitimität der Neuzeit warf damals bereits die Frage auf, ­warum eine derartige Rechtmäßigkeit explizit herausgestellt werden muß.

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Der Phi­lo­soph ver­wies in sei­ner Replik als Grund für die Beschäf­ti­gung auf die Nach­wir­kun­gen moder­ne­kri­ti­scher Trak­ta­te in der frü­hen Nach­kriegs­zeit: von Roma­no Guar­di­nis Abhand­lung Das Ende der Neu­zeit über Hans Sedl­mayrs Sezie­rung von Sym­bo­len der moder­nen Kunst bis zu Eric Voe­gel­ins Ver­dikt, die Neu­zeit sei von gnos­ti­schen Ansät­zen durchzogen.

Was bereits Mit­te der 1960er Jah­re zutraf, als der öffent­li­che Durch­bruch pro­gres­si­ver Ideo­lo­gien schon zu bemer­ken war, gilt heu­te a for­tio­ri. Über­blickt man die öffent­li­chen Debat­ten der letz­ten Jah­re – exem­pla­risch sind Gen­der-Main­strea­ming, Inklu­si­on und Migra­ti­ons-Eupho­rie zu nen­nen –, so kann man kein Abwei­chen von der Grund­ten­denz der kul­tu­rel­len Moder­ne fest­stel­len, die die Los­lö­sung aus über­lie­fer­ten Her­kunfts­struk­tu­ren zum obers­ten Ziel poli­ti­schen Han­delns erhebt.

Intel­lek­tu­el­le Spür­na­sen, die stets Aus­schau nach regres­si­ven Erschei­nun­gen hal­ten, freu­en sich über ver­ein­zel­te Stür­me im Was­ser­glas, die medi­al gern auf­ge­bauscht wer­den. Der Publi­zist Karl-Heinz Ott trägt eini­ge zusam­men: die ver­meint­li­che Erobe­rung des Reichs­ta­ges durch omi­nö­se Quer­den­ker; skur­ri­le Scha­ma­nen drin­gen ins Washing­to­ner Kapi­tol ein; Pegi­da-Demons­tran­ten pro­tes­tie­ren medi­en­wirk­sam gegen Isla­mi­sie­rung. Die­se Ereig­nis­se pas­sen gut zur Kon­junk­tur von Ver­schwö­rungs­theo­rien in Coro­na-Zei­ten. Kurz­um: Zen­tra­le Theo­re­me der Neu­zeit – wie der Indi­vi­dua­lis­mus – dro­hen auf den Prüf­stand gestellt zu wer­den. So eine bestimm­te Narration.

Der umfang­rei­che Essay Otts hält sich aber nur wenig mit Gegen­warts­ana­ly­sen auf. Eine illus­tre Mischung von Anti­mo­der­nen wird kurz dar­ge­stellt, so der pol­ni­sche Rechts­ka­tho­lik ­Rys­zard A. Legut­ko, der frü­he­re Reform­kom­mu­nist Roger Gar­au­dy, der spä­ter als angeb­li­cher Holo­caust-Leug­ner ins Gere­de kam, sowie der ehe­ma­li­ge US-Jus­tiz­mi­nis­ter Wil­liam Barr.

Haupt­säch­lich setzt sich der Autor mit bedeu­ten­den Neu­zeit-Kri­ti­kern aus­ein­an­der: Eric Voe­gel­in, der den Ver­fall von Ord­nungs­struk­tu­ren in der Moder­ne ana­ly­sier­te, Leo Strauss auf der Basis einer natur­recht­li­chen Argu­men­ta­ti­on und Carl Schmitt, der den zuneh­men­den staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­täts­ver­lust beklag­te. Wei­ter spie­len Gelehr­te wie Karl Löwi­th und Fran­çois-René de Cha­teau­bri­and eine Rolle.

Gemein­sam ist die­sen Den­kern der Wider­spruch gegen eine ver­ab­so­lu­tier­te Ver­nunft, wie sie sich seit der mit dem Namen Des­car­tes ver­bun­de­nen Wen­de abzeich­net. Ott zeigt anhand von Bei­spie­len, etwa der Bel­le­tris­tik, wie gegen ratio­na­lis­ti­sche Ein­sei­tig­kei­ten Ein­sprü­che vor­ge­bracht wur­den, beson­ders poin­tiert in ­Cer­van­tes’ Epos Don Qui­jo­te, aber auch in ande­ren Roma­nen wie in Vic­tor Hugos Not­re-Dame de ­Paris. Ott hät­te auch Pas­cals Schau­dern über die unend­li­chen Räu­me des Kos­mos the­ma­ti­sie­ren kön­nen, die sich als Fol­ge der astro­no­mi­schen Beob­ach­tun­gen von Koper­ni­kus über Gali­lei bis Kep­ler eröff­net haben. Moder­ne Kon­zep­tio­nen ste­hen über­all neben moder­ne­kri­ti­schen und brin­gen die­se qua­si dia­lek­tisch hervor.

Unge­ach­tet die­ser zustim­mungs­fä­hi­gen The­se, ist doch der offen­kun­dig sprung­haf­te Duk­tus Otts für ober­fläch­li­che Aus­sa­gen (»Die Ver­nunft kann nur die Ober­hand behal­ten, wenn sie ihre Geg­ner kennt«) und Ana­ly­sen ver­ant­wort­lich. Ver­däch­ti­gun­gen und Insi­nua­tio­nen lugen zwi­schen den Zei­len her­vor. Die anspruchs­vol­len Pas­sa­gen des Buches deu­ten aber an, wie wich­tig es wäre, die Pro­ble­ma­tik der poli­ti­schen Reak­ti­on sys­te­ma­tisch und ohne volks­päd­ago­gi­schen Ton zu entfalten.

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Karl-Heinz Ott: Ver­fluch­te Neu­zeit. Eine Geschich­te des reak­tio­nä­ren Den­kens, Mün­chen: Carl Han­ser Ver­lag 2022. 431 S., 26 €

 

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