Die Erziehbarkeit des Menschen – Otto Friedrich Bollnow

von Jörg Seidel -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

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Päd­ago­gik läßt sich weder von einem Ziel (Ethos) noch einem tran­szen­den­ta­len Grund oder einer welt­an­schau­li­chen Prä­dis­po­si­ti­on als Wis­sen­schaft her­lei­ten, son­dern nur aus der Kon­kre­ti­on, der his­to­ri­schen und der anthro­po­lo­gi­schen, auf dem Feld der Empi­rie. Es war die geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Päd­ago­gik (Schlei­er­ma­cher und Dil­they), die die­sen Begrün­dungs­zu­sam­men­hang erkann­te und ein metho­di­sches Besteck zur Ver­fü­gung stell­te, ihn pro­duk­tiv zu bearbeiten.

Dil­theys bahn­bre­chen­de Ein­sicht war, daß das Leben sich nur aus dem Leben, daß die mensch­li­che Inge­ni­o­si­tät sich nach inne­ren und nicht pri­mär nach natur­ge­setz­li­chen Zwän­gen erklä­ren läßt und also his­to­risch-anthro­po­lo­gisch dar­zu­le­gen ist. Die von ihm ent­wi­ckel­te erkennt­nis­lei­ten­de Metho­de der Her­me­neu­tik steht am Beginn auch der päd­ago­gi­schen Anthro­po­lo­gie, die sich über das weit­ver­streu­te Werk des Päd­ago­gen Her­man Nohl vor allem in Otto Fried­rich Boll­nows (1903 – 1991) Schaf­fen mate­ria­li­sier­te und dort in vie­le ver­schie­de­ne Rich­tun­gen aus­dif­fe­ren­ziert wurde.

Aller­dings war Boll­now kein his­to­ri­sches Glück beschie­den. Die frü­hen Arbei­ten ent­stan­den in den dunk­len Jah­ren und ste­hen nun unter dem Ver­dacht der Kon­ta­mi­na­ti­on, die spä­te­ren Tex­te wur­den von der Wucht des 68er Kul­tur­bru­ches über­rannt und sind seit­her aus dem öffent­li­chen Dis­kurs ver­schwun­den. Eine klei­ne Schar an Schü­lern grün­de­te eine Boll­now-Gesell­schaft und leg­te in einer vor­bild­li­chen Edi­ti­on in zwölf Bän­den die wesent­li­chen Bücher Boll­nows neu auf – ein Schatz, den es zu heben gilt!

Was aber heißt »päd­ago­gi­sche Anthro­po­lo­gie«? Zum einen kann es die Her­ein­ho­lung der Erkennt­nis­se jener Wis­sen­schaf­ten in die Päd­ago­gik bedeu­ten, die sich dem Men­schen aus spe­zi­fi­schem Blick­win­kel nähern, etwa Medi­zin, Bio­lo­gie, Psy­cho­lo­gie, Sozio­lo­gie und Eth­no­lo­gie. Unter die­sem Blick­win­kel hat­te 1966 Hein­rich Roth begon­nen, sei­ne gewich­ti­ge ­Päd­ago­gi­sche Anthro­po­lo­gie  (1) zu veröffentlichen.

Die hier zu bespre­chen­de Bedeu­tung meint jedoch die den­ke­ri­sche und metho­di­sche Auf­nah­me der Erkennt­nis­se der damals noch jun­gen Phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie (Sche­ler, Pless­ner, Geh­len) in den päd­ago­gi­schen Auf­merk­sam­keits­be­reich. Die­se Anthro­po­lo­gie war aus der Kri­se der Phi­lo­so­phie, aus der Dis­kre­panz zwi­schen der abs­trak­ten ratio­na­len Durch­drin­gung und einer tech­ni­scher wer­den­den Welt ent­stan­den. Von dort her wur­den die kul­tu­rel­len Phä­no­me­ne auf ihre wech­sel­sei­ti­ge mensch­li­che Funk­tio­na­li­tät und Kom­pa­ti­bi­li­tät befragt, also nach der Wie-Beschaf­fen­heit des Men­schen, der in den Insti­tu­tio­nen sein, leben und weben kann, als »Orga­non«, wie Pless­ner das nann­te, oder über das Ver­ste­hen der mensch­li­chen »Objek­ti­va­tio­nen« (2) nach Dilthey.

Boll­now nun ver­such­te die­se Eng­füh­rung Pless­ners und Geh­lens aus­zu­wei­ten und mach­te sich dabei vor allem zwei phi­lo­so­phi­sche Ansät­ze der Zeit zunut­ze – sie soll­ten ihn lebens­lang als Richt­li­nie und als Schleif­stein beglei­ten: Lebens­phi­lo­so­phie und Exis­tenz­phi­lo­so­phie, Dil­they und Heid­eg­ger. Der eine war sein geis­ti­ger Leh­rer, ihm galt sei­ne ers­te gro­ße eigen­stän­di­ge Arbeit;  (3) beim zwei­ten beleg­te er drei Semes­ter in Frei­burg und Mar­burg. Sein ande­res frü­hes Haupt­werk  (4) ist in Fra­ge­stel­lung und Spra­che deut­lich an Heid­eg­ger ange­lehnt und wird auch heu­te noch im grau­en Look des Klos­ter­mann-Ver­lags vertrieben.

Noch hat­te Boll­now sich nicht expli­zit zur Erzie­hung geäu­ßert. Die Arbei­ten an einer Geschich­te der Päd­ago­gik blie­ben Frag­ment und wur­den erst nach dem Krieg ver­öf­fent­licht, (5) aber schon war zwei­er­lei zu erken­nen: die kri­ti­sche Abset­zung von sei­nem über­mäch­ti­gen Leh­rer und der Ver­such, solch vage Enti­tä­ten wie Stim­mun­gen, Gefüh­le und Tugen­den nicht nur abs­trakt-phi­lo­so­phisch, son­dern auch prak­tisch für die erzie­he­ri­sche Theo­rie frucht­bar zu machen.

Das setz­te eine gewis­se Posi­ti­vi­tät vor­aus, wes­halb Boll­now von den Stim­mun­gen »als tra­gen­dem Grund der See­le« sprach. Die Suche nach dem Tra­gen­den und Ber­gen­den oder dem Gebor­gen­heit Bie­ten­den blieb ein Lebens­the­ma Boll­nows. Die Käl­te des phi­lo­so­phi­schen Begrif­fes der »Exis­tenz«, die­ser nack­te »inners­te Kern des Men­schen« wur­de in sei­ner his­to­ri­schen Not­wen­dig­keit der bei­den Nach­kriegs­ge­nera­tio­nen zwar aner­kannt und aus­gie­big gewür­digt  (6)– als Aus­druck der Kri­se der Gegen­wart –, aber Boll­now scheu­te die lebens­welt­li­chen Kon­se­quen­zen von Des­il­lu­sio­nie­rung, Aus­sichts­lo­sig­keit und Verlassenheit.

Er wei­te­te die­se distan­zier­te Fas­zi­na­ti­on spä­ter auch auf den fran­zö­si­schen Exis­ten­tia­lis­mus aus, (7)wie es ihm immer um ein Dar­über-Hin­aus­kom­men ging. Die Exis­tenz­phi­lo­so­phie lehn­te die Anthro­po­lo­gie aus ihren Grund­la­gen her­aus ab, weil Mensch-Sein ein unun­ter­bro­chen schaf­fen­der Pro­zeß sei, und mehr als »Exis­tenz­er­hel­lung« (Jas­pers) kön­ne nicht geleis­tet wer­den. Boll­nows Anthro­po­lo­gie hin­ge­gen kri­ti­siert die Exis­tenz­phi­lo­so­phie aus den düs­te­ren Fol­gen her­aus, die jenes posi­ti­ve Sich-selbst-Schaf­fen eben nicht zulie­ßen. (8)

Als Kor­rek­tiv dien­te ihm die Lebens­phi­lo­so­phie. Dort sah er die Mög­lich­keit, »den auf die Schat­ten­sei­te des mensch­li­chen Lebens ver­eng­ten Blick wie­der auf das Gan­ze des Lebens, auch mit sei­nen tra­gen­den, för­der­li­chen und erfreu­li­chen Sei­ten, aus­zu­deh­nen«, (9) im Spiel von »objek­ti­vie­ren­dem Aus­druck und fort­bil­den­der Deu­tung« das »Wachs­tum der Geschich­te« nach­zu­zeich­nen, den »Zusam­men­hang von Leben, Aus­druck und Ver­ste­hen«, wie ihn Dil­they ent­wor­fen hat­te, als »Dyna­mik des Lebens selbst« (10) zu begreifen.

Wird das Wachs­tum auf die indi­vi­du­el­le Geschich­te bezo­gen, dann bewe­gen wir uns auf dem Fel­de der Päd­ago­gik. Die not­wen­dig anzu­wen­den­de Metho­de ist dann die her­me­neu­ti­sche Zir­kel­haf­tig­keit (das Gan­ze aus dem ein­zel­nen und das ein­zel­ne aus dem Gan­zen zu ver­ste­hen), die man bei Boll­now exem­pla­risch stu­die­ren kann. Nicht nur sind sei­ne meis­ten Wer­ke her­me­neu­tisch ange­legt, auch sein Lebens­werk krei­selt immer wie­der um das vor­grei­fen­de Ver­ste­hen, auf dem auf­zu­bau­en und Neu­land zu gewin­nen sei. Daß Boll­now dabei ganz bewußt auf jeg­li­che Form von Ver­klau­su­lie­rung und Aka­de­mi­sie­rung ver­zich­tet, ist Pro­gramm und inne­re Aus­sa­ge zugleich – sei­ne Wer­ke zeich­nen sich nicht zuletzt durch Zugäng­lich­keit und den Wil­len, unzwei­deu­tig ver­stan­den zu wer­den, aus.

Wenn dies nicht immer klapp­te, dann lag es mit­un­ter an der Bos­haf­tig­keit des Lesers. Exem­pla­risch steht dafür Ador­nos Sua­da in Jar­gon der Eigent­lich­keit, (11) in der er sich ber­ser­ker­haft auch auf Boll­nows Zen­tral­be­griff der »Gebor­gen­heit« stürz­te, dem er vor­warf, einem »meist nicht mehr exis­ten­ten All­tag« zu ent­sprin­gen. Das war sach­lich nicht gänz­lich falsch, wur­de es aber durch die Ver­knüp­fung mit dem Vor­wurf eines ver­kapp­ten Natio­nal­so­zia­lis­mus. Mit die­sem Buch hat­te Ador­no, dem Gedich­te »nach Ausch­witz« nicht mehr oppor­tun erschie­nen und dem das Eigent­li­che inner­lich fremd blieb, die Kri­ti­sche Theo­rie als Dis­kurs­an­ge­bot schon vor Erschei­nen der Haber­mas­schen kom­mu­ni­ka­ti­ons­theo­re­ti­schen Uto­pie begraben.

Boll­now war von der Vehe­menz der Kri­tik ganz offen­sicht­lich beein­druckt und mein­te, den mut­maß­lich nai­ven Begriff der »Gebor­gen­heit« zuguns­ten der »Hoff­nung« auf­ge­ben zu müs­sen. Dabei scheint gera­de er heu­te frucht­bar gemacht wer­den zu kön­nen, wohin­ge­gen das »Prin­zip Hoff­nung« nicht nur durch Blochs Aus­le­gung besetzt ist, son­dern auch hohl klingt.

Blochs Begriff der Hoff­nung war ein vor­nehm­lich indi­vi­dua­lis­ti­scher, ein Ver­trau­en in sich, eine Stär­kung des Selbst und damit eine trei­ben­de Kraft der all­ge­mei­nen Akze­le­ra­ti­on. Boll­now aber mein­te damit das »Ange­nom­men­wer­den und Auf­ge­fan­gen­wer­den von einer ande­ren Kraft«. (12) Die »neue Gebor­gen­heit« umfaßt die »uni­ver­sa­le Hoff­nung, die Seins­gläu­big­keit und das Seins­ver­trau­en«, die Suche nach allem, »was als etwas Bestän­di­ges und Ver­läß­li­ches dem mensch­li­chen Leben Sinn und Inhalt geben kann«, (13) nach Vor­aus­set­zun­gen also, die die geglück­te Erzie­hung eines Kin­des über­haupt erst ermöglichen.

Das wie­der­um ver­lang­te die »Über­win­dung des Exis­ten­zia­lis­mus«. Vor allem päd­ago­gisch boten des­sen Zen­tral­ka­te­go­rien wie »Angst«, »Ekel«, »Lan­ge­wei­le«, »Gewor­fen­heit«, »Ver­zweif­lung« kei­nen trag­fä­hi­gen Grund, sie sind in Boll­nows Augen Über­schüs­se der »irra­tio­na­len Bewe­gung« oder der »deut­schen Bewe­gung«, wie sie Her­man Nohl, sein aka­de­mi­scher Leh­rer, in dem von Boll­now post­hum her­aus­ge­ge­ben Haupt­werk  (14) aus­gie­big und im Sin­ne Dil­theys nach­er­leb­bar ana­ly­siert und dabei den Zusam­men­hang mit der päd­ago­gi­schen Reform­be­we­gung belegt.

»Irra­tio­nal« meint dabei nicht das Unsin­ni­ge, son­dern das Über­schie­ßen­de, Über­bor­den­de, Über­trie­be­ne, wie es im Sturm und Drang und in der Roman­tik Mode war. An sol­chen Stel­len wird auch Boll­nows aus­glei­chen­der Habi­tus greif­bar, der sich in die­ser Hin­sicht der Aris­to­te­li­schen Ethik ver­pflich­tet sah und von der Ana­ly­se der Extre­me – hier: Exis­tenz­phi­lo­so­phie – über die Über­win­dung – hier: »Gebor­gen­heit« – zum Frucht­bar­ma­chen – etwa in der Päda­gogik – strebte.

So woll­te er der Ver­ab­so­lu­tie­rung und der »Über­stei­ge­rung« der exis­tenz­phi­lo­so­phi­schen Kate­go­rien »Ent­schei­dung«, »Ein­satz«, »Ent­schlos­sen­heit« Gegen­tu­gen­den wie »Gelas­sen­heit«, »Bereit­schaft«, »getros­t­er Mut«, »Geduld«, »Dank­bar­keit« und »Hoff­nung« ent­ge­gen­stel­len sowie erkennt­nis­theo­re­ti­sche und ethi­sche Grund­la­gen für ihre päd­ago­gi­sche Imple­men­tie­rung schaf­fen. Die onto­lo­gi­sche Fra­ge nach der Gebor­gen­heit erkun­det etwa die tra­gen­de Welt­ver­faßt­heit; die ethi­sche fragt hin­ge­gen nach der inne­ren mensch­li­chen Ver­fas­sung und der »sitt­li­chen Anstren­gung«, die den Men­schen dazu befähigen.

Boll­nows Ethik buch­sta­biert sich maß­geb­lich in einer prak­ti­schen Tugend­leh­re aus, die man mit der Josef Pie­pers ver­glei­chen kann, doch mit einem wesent­li­chen Unter­schied. Auch wenn der Begriff der »Gna­de« dar­in eine zen­tra­le Rol­le spielt, ver­mei­det es der Phi­lo­soph mit Akri­bie, das theo­lo­gi­sche Feld zu betre­ten. Tugen­den müs­sen – wie alle Fähig­kei­ten, alles Kön­nen – lebens­lang ein­ge­übt wer­den, ja »es gilt zu erken­nen, daß die Übung, von den ers­ten Tagen der Kind­heit bis hin­ein ins höchs­te Alter, wesens­mä­ßig und lebens­lang in einer Wei­se zum Men­schen gehört, daß er nur in bestän­di­ger Übung sein eigens­tes Wesen erfül­len kann.« (15)

Ansons­ten wer­den die Tugen­den – oft im Grenz­be­reich zu den Gefüh­len – in zahl­rei­chen Büchern immer wie­der umkreist und neu gedacht; das beginnt bereits unmit­tel­bar nach dem Krieg mit Ein­fa­che Sitt­lich­keit (1947) und Die Ehr­furcht (1947), setzt sich über die Neue Gebor­gen­heit (1955) fort und gip­felt in Wesen und Wan­del der Tugen­den (1958). Dabei wie­der­holt er vier metho­di­sche Her­an­ge­hens­wei­sen: Er setzt ent­we­der ety­mo­lo­gisch ein oder befragt den all­ge­mei­nen, unbe­fan­ge­nen Sprach­ge­brauch oder stellt die zu unter­su­chen­den Begrif­fe in Kon­stel­la­ti­on und Abglei­chung zu ähn­li­chen, nahe­lie­gen­den Kate­go­rien oder nimmt ein Dich­ter­wort zum Denk­an­laß, denn »was blei­bet, stif­ten die Dich­ter«. Die Tugend­leh­ren sind Fund­gru­ben des Ewig­gel­ten­den, Bewah­rens­wer­ten und Idea­len in sei­nen Veränderungen.

Die wesent­li­chen Arbei­ten im onto­lo­gi­schen Bereich wid­men sich der Zeit / Geschicht­lich­keit und dem Raum. Gera­de in der Epo­che schwin­den­der und beschleu­ni­gen­der Zeit wird ihm die Erzie­hung zum rich­ti­gen Zeit­ver­hält­nis, (16) als sub­jek­tiv erleb­te Zeit, essen­ti­ell. Auch sein Raum­ver­ständ­nis ist rela­ti­vis­tisch und wird vom Men­schen, von den Objek­ten, den Hand­lun­gen und den Bezü­gen per­ma­nent neu kon­sti­tu­iert. Dem Haus als »Mit­te der Welt«, als Ort der Gebor­gen­heit kommt dabei beson­de­re Bedeu­tung zu. In sei­nem ver­mut­lich bekann­tes­ten Werk, Mensch und Raum, (17) das noch immer an eini­gen Hoch­schu­len auf dem Kanon steht, fin­den sich unter ande­rem groß­ar­ti­ge Gedan­ken über Bedeu­tung und Funk­ti­on des Woh­nens, des Wan­derns und selbst des Bet­tes. Die­ses Buch ist her­vor­ra­gend für den Ein­stieg in Boll­nows Den­ken geeignet.

In sei­nem Spät­werk wand­te sich Boll­now einem wei­te­ren The­men­ge­biet zu: der Spra­che. Erneut rei­chen die Wur­zeln weit zurück: Boll­now war mit dem Sprach­phi­lo­so­phen Hans Lipps, 1941 gefal­len, befreun­det und tat viel dafür, des­sen wenig beach­te­tes Werk immer wie­der in Erin­ne­rung zu rufen. Ins­be­son­de­re in Spra­che und Erzie­hung (18) sinnt er, aus­ge­hend von einer kon­sta­tier­ten »Sprach­feind­schaft der Päd­ago­gik«, den ethi­schen und onto­lo­gi­schen Dimen­sio­nen des Spre­chens, des Gesprä­ches und des Wor­tes nach und endet – wie in fast allen sei­nen Arbei­ten – mit päd­ago­gi­schen For­de­run­gen. Denn das ist das kon­sti­tu­ti­ve Bin­de­glied, das Ziel sei­nes gesam­ten Den­kens in der hier dar­ge­stell­ten Fül­le: die Erzieh­bar­keit des Men­schen. Ein Vier­tel sei­nes Œuvre wid­met sich die­ser Fra­ge kon­kret, der Rest indirekt.

Ein letz­tes Mal setzt Boll­now mit der pro­duk­ti­ven Dif­fe­renz zur Exis­tenz­phi­lo­so­phie ein, »nach der im Men­schen jede Ste­tig­keit und all­mäh­li­che Ver­voll­komm­nung aus­ge­schlos­sen ist« (19) und sich kei­ne Türen in die Päd­ago­gik öff­nen, aber just dar­in sieht er das Poten­ti­al, denn die klas­si­schen Erzie­hungs­leh­ren irren gera­de im Glau­ben an eine Kon­ti­nui­tät. Ent­wick­lun­gen sind sprung­haft von der Geburt bis zum Tod; der Erzie­hungs­be­griff wird auf die Gesamt­heit des mensch­li­chen Lebens aus­ge­dehnt. Die Dis­kon­ti­nui­tät spie­gelt sich auch in Boll­nows Werk – wenn man die Drauf­sicht wagt – wider, denn er lehn­te die stren­ge Sys­te­ma­ti­sie­rung ab, bestand auf der »Unmög­lich­keit eines archi­me­di­schen Punk­tes in der Erkennt­nis«, nahm jedes zu erhel­len­de Phä­no­men aufs neue und mit ver­schie­de­nem her­me­neu­ti­schen Besteck oszil­lie­rend in Angriff, wes­halb es irri­ger­wei­se als frag­men­ta­risch erschei­nen kann.

In der Anthro­po­lo­gi­schen Päd­ago­gik – das meint den Titel und das Kon­zept – lau­fen jedoch alle Denksträn­ge und Lebens­the­men Boll­nows zusam­men: Exis­tenz­phi­lo­so­phie, Lebens­phi­lo­so­phie, Tugend­leh­re, Übung, Stim­mun­gen, Raum, Zeit, Spra­che sowie Erkennt­nis­theo­rie  (20) und die nur frag­men­ta­risch aus­ge­ar­bei­te­te Her­me­neu­tik, (21) die hier aus Platz­grün­den aus­ge­spart wurden.

In ihr wird die anthro­po­lo­gi­sche Betrach­tungs­wei­se in der Päd­ago­gik begrün­det, deren Gewinn weni­ger kon­kre­te Hand­lungs­wei­sen sind, aber das »erzie­he­ri­sche Tun in einem all­ge­mei­nen Sinn zum Bewußt­sein sei­ner selbst« (22) erhebt und dadurch neue Hand­lungs­räu­me erschließt. Des Men­schen Erzieh­bar­keit wird drei­fach vor­aus­ge­setzt: als Erzo­ge­ner, Erzie­hen­der und der Erzie­hung Bedürf­ti­ger, lebens­lang und inter­ge­ne­ra­tio­nal, beim gesun­den Kind auch als erzie­hungs­wil­li­gem und erziehungsfreudigem.

Geh­lens Fra­ge nach dem Män­gel­we­sen – der hilf­lo­se, unan­ge­paß­te Mensch – wird im Sin­ne des Aus­druck­ge­dan­kens Dil­theys umge­kehrt in die Fra­ge nach dem Vor­zug der Erzie­hungsbedürf­tig­keit. In den Blick gerät die »päd­ago­gi­sche Atmo­sphä­re«. Dar­un­ter ver­steht Boll­now »das Gan­ze der gefühls­mä­ßi­gen Bedin­gun­gen und mensch­li­chen Hal­tun­gen, die zwi­schen dem Erzie­her und dem Kind bestehen«. (23) Die Gebor­gen­heit bekommt eine neue Facet­te als der »schüt­zen­de Umkreis des Hau­ses und der Fami­lie«. (24)

Ins­be­son­de­re der Mut­ter fällt die Auf­ga­be zu, das Unbe­kann­te ins Ver­trau­te zu holen; ihre Emana­tio­nen sind »freu­di­ge Gestimmt­heit«, »Offen­heit«, »Welt­ver­trau­en«, »Gleich­ge­wicht«, »Hoff­nung«. Vor­aus­set­zung ist der »päd­ago­gi­sche Bezug« Nohls, die lie­ben­de Zuwen­dung des Erzie­hers. Jedoch beschreibt Boll­now kei­ne Idyl­le, denn das Leben kennt das Auf und Ab, Rück­schrit­te, Sta­gna­tio­nen, trau­ma­ti­sche Ein­schnit­te, und die Päd­ago­gik muß mit »unste­ti­gen For­men der Erzie­hung« reagie­ren. Die­se wer­den als »Kri­se«, »Erwe­ckung«, »Ermah­nung« und »Begeg­nung« klas­si­fi­ziert, auf die das Kind vor­be­rei­tend hin­zu­füh­ren und zu beglei­ten sei, auch wenn Art und Zeit unver­füg­bar bleiben.

An die­sen Ereig­nis­sen wird sicht­bar, daß auch das Leben sich nach her­me­neu­ti­schen Gesetz­mä­ßig­kei­ten orga­ni­siert: Es gehört zum Wesen des Men­schen, »nicht im direk­ten, vor­wärts­schrei­ten­den Gang, son­dern immer nur im rück­läu­fi­gen Ver­fah­ren, in der kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit einem ent­ar­te­ten Dasein zu einem unver­fälsch­ten rei­nen Wesen vor­drin­gen zu kön­nen.« (25)

Die Vor­aus­set­zun­gen einer geglück­ten Erzie­hung ent­wi­ckelt Boll­now dann in sei­nem hells­ten Buch: Die päd­ago­gi­sche Atmo­sphä­re, das auch heu­te noch zum Kanon einer nicht-»entarteten« erzie­he­ri­schen Aus­bil­dung gehö­ren soll­te. Daß Boll­now kon­trär zum heu­ti­gen Zeit­geist steht, erklärt wohl sein Ver­schwin­den aus dem phi­lo­so­phi­schen und dem päd­ago­gi­schen Dis­kurs – und genau des­halb soll­te man ihn wie­der lesen und diskutieren.

– – –

(1) – Hein­rich Roth: Päd­ago­gi­sche Anthro­po­lo­gie. Band 1: Bild­sam­keit und Bestim­mung. Band 2: Ent­wick­lung und Erzie­hung, Han­no­ver 1966 ff.

(2) – Wil­helm Dil­they: Der Auf­bau der geschicht­li­chen Welt in den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten. Gesam­mel­te Schrif­ten VII, Leip­zig 1927, S. 146 ff.

(3) – Vgl. Dil­they. Eine Ein­füh­rung in sei­ne Phi­lo­so­phie, Leip­zig 1936.

(4) – Das Wesen der Stim­mun­gen, Frank­furt a. M. 1941.

(5) – Vgl. Die Päd­ago­gik der deut­schen Roman­tik. Von Arndt bis Frö­bel, Stutt­gart 1952.

(6) – Etwa in: Exis­tenz­phi­lo­so­phie, Stutt­gart 1955.

(7) – Vgl. Fran­zö­si­scher Exis­ten­tia­lis­mus, Stutt­gart 1965.

(8) – Dazu: Micha­el Land­mann: Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie, Ber­lin / New York 1982, S. 41 ff.

(9) – Die Lebens­phi­lo­so­phie, Ber­lin / Göt­tin­gen / Hei­del­berg 1958, S. 2.

(10) – Ebd., S. 139.

(11) – Theo­dor W. Ador­no: Jar­gon der Eigent­lich­keit. Zur deut­schen Ideo­lo­gie, Frank­furt a. M. 1964.

(12) – Hans-Peter ­Göb­be­ler, Hans-Ulrich ­Les­sing (Hrsg.): O. F. ­Boll­now im Gespräch, Frei­burg i. Br. / Mün­chen 1983, S. 33.

(13) – Neue Gebor­gen­heit. Das Pro­blem einer Über­win­dung des Exis­ten­tia­lis­mus, Stutt­gart 1955, S. 18.

(14) – Vgl. Her­man Nohl: Die Deut­sche Bewe­gung. Vor­le­sun­gen und Auf­sät­ze zur Geis­tes­ge­schich­te von 1770 – 1830, Göt­tin­gen 1970.

(15) – Vom Geist des Übens. Eine Rück­be­sin­nung auf ele­men­ta­re didak­ti­sche Erfah­run­gen, Frei­burg i. Br. 1978, S. 16.

(16) – Vgl. Das Ver­hält­nis zur Zeit. Ein Bei­trag zur päd­ago­gi­schen Anthro­po­lo­gie, Hei­del­berg 1972.

(17) – Mensch und Raum, Stutt­gart 1963.

(18) – Spra­che und Erzie­hung, Stutt­gart 1966.

(19) – Exis­tenz­phi­lo­so­phie und Päd­ago­gik, Stutt­gart 1959, S. 70.

(20) – Vgl. Phi­lo­so­phie der Erkennt­nis. Das Vor­ver­ständ­nis und die Erfah­rung des Neu­en, und: Das Dop­pel­ge­sicht der Wahr­heit. Phi­lo­so­phie der Erkennt­nis, Stutt­gart 1970 / 75.

(21) – Stu­di­en zur Her­me­neu­tik. Band I: Zur Phi­lo­so­phie der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten. Band II: Zur her­me­neu­ti­schen Logik von Georg Misch und Hans Lipps, Frei­burg i. Br. 1982 / 83.

(22) – Anthro­po­lo­gi­sche Päd­ago­gik (1971), in: Schrif­ten, Bd. 7, Würz­burg 2013, S. 114.

(23) – Die päd­ago­gi­sche Atmo­sphä­re. Unter­su­chung über die gefühls­mä­ßi­gen zwi­schen­mensch­li­chen Vor­aus­set­zun­gen der Erzie­hung (1968), Essen 2001, S. 11.

(24) – Anthro­po­lo­gi­sche Päd­ago­gik, S. 39.

(25) – Ebd., S. 62.

 

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