In Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen (1998) geht es um die Geschichte zweier französischer Brüder, die im selben Maße intellektuelle wie sinnlose Leben führen, das in bloßer Statistik aufzugehen scheint. Das Handeln der Protagonisten ist umzingelt von sexualwissenschaftlichen, soziologischen, New-Age- und 68er-Emanzipationsbegriffen; gegen Ende des Romans zerfasert das Beschreibungsvokabular in eine Art transhumanistische Dystopie (heute würde man sagen: so schaut es wohl nach dem Great Reset aus). Mithilfe von Anleihen aus diversen Vokabularen gelingt es Houellebecq, das (vor fünfundzwanzig Jahren) populäre anthropologische Paradigma vorzuführen.
Vergleichbares findet man, wenn man sich über die meisten Schriften der klassischen europäischen Moralistik des 16. bis 18. Jahrhunderts beugt: exzentrische Fallbeispiele, Konstellationen des gesellschaftlichen Umgangs bei Hofe, Grotesken, physikalische und medizinische Reduktionen des Menschen in schier unendlichen Charakteristiken. Die Zusammenführung von Zeitdiagnose, pessimistischem Menschenbild, Beobachtung des Lebens als großen Gesellschaftsspiels und unerfüllten ethischen Ansprüchen macht Elementarteilchen zu einem moralistischen Text. Die Moralistik, in deren Tradition der Roman sofort nach Erscheinen eingeordnet wurde, kennzeichnet anthropologische Beobachtung der Handlungsmöglichkeiten des Menschen in einem sozialen Umfeld, das keinen Spielraum für eine »eigentliche« oder »sittliche« Existenz läßt.
Ich nenne diese Attribute in Anführungsstrichen, weil es ein Kennzeichen moralistischer Philosophie ist, authentisches Selbstsein durch Klugheitsregeln, Gewohnheiten, Manieren und Konventionen als Werkzeuge der Lebenskunst zu ersetzen. Anthropologie in diesem Sinne ist keine Teildisziplin der akademischen Philosophie, sondern seit Montaignes Essais, Baltasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugkeit oder La Rochefoucaulds Reflexionen ein eigenes essayistisches oder aphoristisches Literaturgenre.
Alles dies scheint weit von Kants Philosophie entfernt zu liegen. Von Klugheitsregeln, Manieren und Takt als Werkzeugen der Lebenskunst, von Völker- und Charakterkunde ist in Kritik der reinen Vernunft (Erkenntnistheorie), Kritik der praktischen Vernunft (Ethik) und Kritik der Urteilskraft (Ästhetik) keine Rede. Auch seine Metaphysik der Sitten zieht eine scharfe Grenze zwischen Vernunft, Pflicht und Verstandeswelt auf der einen Seite und Weltklugheit, Neigung und Sinnenwelt auf der anderen Seite. Die Aufgabe der Metaphysik liegt in der unaufhebbar dualistischen Unterscheidung zweier Welten.
Doch Immanuel Kant war ein genauer Kenner der moralistischen Schriften und der Anthropologie seiner Zeit. Seine 1798 verfaßte Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schöpft aus dem vollen: die Gepflogenheiten und die klimatischen Prägungen fremder Völker, höfische und bürgerliche Sitten, Wortherkünfte, »Erfahrungsseelenkunde«, Porträts großer Zeitgenossen und historischer Figuren, moralistische Aphorismen, medizinische und physikalische Neuerungen – alles wird aufgegriffen und auf aphoristische Formeln gebracht, die oft beinahe putzig den Allgemeinaussagen philosophischer Systeme (wie denen von Spinoza oder Leibniz und in Kants eigenen kritischen Schriften) ähneln.
Kants Anthropologie tritt als »pragmatische« Anthropologie auf. Damit meint er im Gegensatz zu einer »physiologischen« Anthropologie, die die Naturbeschaffenheit der Menschen zum Gegenstand hat, eine Anthropologie, die untersucht, »was der Mensch aus sich selber macht«. Sie untersucht Motive und Zwecke des Handelns, und nicht allein dessen physische Ursachen.
Der Begriff des Pragmatischen wird in Kants Anthropologievorlesungen in zwei Bedeutungen gebraucht. Zum einen bezeichnet er eine Klugheitslehre, die Fähigkeit des »Weltweisen«, sich in der Welt zu orientieren, und zum anderen wird ausdrücklich eine Zwecksetzung hin zur Sittlichkeit betont. Das wahrhaft kluge Handeln, zu dem die Anthropologie Anleitungen geben will, ist, wenn nicht identisch, so doch kompatibel mit dem moralischen Handeln, dem Kant in der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten sowie deren Grundlegungsschrift die bekannte rationalistisch-pflichtethische Begründung gibt.
Besonders interessantes Untersuchungsmaterial liefern hierzu die 1997 herausgegebenen Nachschriften der Vorlesungen Kants zur Anthropologie. Hier unternimmt Kant den Versuch, Anthropologie als Teil der »Weltweisheit« vor seinen Hörern in Königsberg zu entfalten. Der Moralphilosophie kommt in den sechs Leitnachschriften jeweils ein unterschiedliches Gewicht zu, alle thematisieren sie jedoch die Diskussion um Schein und Illusion und den Begriff des Pragmatischen als Klugheit oder Sittlichkeit. Kant geht es um eine haltbare Verknüpfung des Sittengesetzes mit pragmatischen Erwägungen der Lebensführung. Diese Verknüpfungsfunktion übernimmt die Anthropologie.
Lassen Sie mich kurz das Dilemma seiner rationalistischen Ethik umreißen. Der kategorische Imperativ zwingt aufgrund seiner jenseits jeglicher Erfahrung geltenden Absolutheit den Menschen zum sittlich guten Handeln. Wer den Imperativ vernimmt, kann ihm nicht mehr zuwiderhandeln, es sei denn, er will gegen das »moralische Gesetz in mir« (Kant) absichtlich verstoßen, also böse sein. Das moralische Gesetz entspricht jederzeit und bei jedermann seinem eigentlichen Wollen. Doch dies zu wissen führt nicht automatisch zum guten Tun.
Die Einsicht in die Notwendigkeit kann man auf theoretischem Wege gewinnen: Man kann rational einsehen, daß man die Negation des kategorischen Imperativs nicht wollen kann.
Diese rationalistische Moralbegründung ist von vielen Kritikern (Schiller, Hegel, Schopenhauer, Steiner sind nur die besonders bekannten) für so wahr wie unpersönlich und unrealistisch gehalten worden. Die Pflicht gilt unumstößlich und überpersönlich – aber ich als besonderes Individuum muß sie erst in mir »wirken machen«. Wie kommt ein Individuum dazu, ein moralischer Mensch zu werden? Begründungstheoretisch ist es bereits qua Vernunftfähigkeit moralisch, aber »zwischen dem Gesollten und der Tat fehlt noch viel«, wie Kant in einer posthum herausgegebenen Vorlesung über Ethik einräumt.
Die Anthropologie springt hier in die Bresche, indem Kant in dieser Schrift und in den Anthropologievorlesungen detailliert ausführt, »was der Mensch ist, aus sich selber machen kann und machen soll«.
Um nichts weniger als um die Beschreibung des menschlichen Charakters und um den Prozeß der Kultivierung dieses Charakters ging es schon der moralistischen Ethik, nur hat keiner der klassischen Moralisten (ob man Descartes und Spinoza dazuzählen sollte, wäre Gegenstand einer eigenen Diskussion) die Notwendigkeit empfunden, pragmatische Lebensklugheit mit der Elle einer metaphysischen Moralbegründung zu messen, und also auch niemals das Problem der konkreten Motivation zum abstrakt geltenden Sittengesetz gesehen, das zu lösen Kant als den »Stein der Weisen« bezeichnet hat. Der Begriff der »Lebensklugheit«, wie er bei Balthasar Gracián vorkommt, oder eben jener der »Weltweisheit« bei Kant sind gewissermaßen Vorbegriffe zur Moralisierung des Menschen. Ohne pragmatische Einübung durch motiva auxiliara (»Hilfsmotive«) ist das Sittlichwerden des Individuums unmöglich.
Kant hat vor seinen Studenten der Anthropologie im Wintersemester 1772 / 73 eine Art Programm einer moralistischen Ethik vorgetragen: »Das ist die Pflicht eines Moralisten nicht wieder die menschliche Natur zu handeln, sondern sich der Neigung der Menschen zu accomodiren und die Tugend ihnen Liebenswürdig vorzutragen. Ihr wahres Bestreben soll seyn, die Tugend nicht als eine schwere Pflicht vorzutragen, sondern sie sollen suchen eine Lust zur Ausübung der Tugenden hervorzubringen, nicht deßwegen weil ein Richter da ist, sondern weil sie das Leben angenehm macht, und an sich was vollkommenes ist; (sie ist auch in der That nicht schwer vor den, der durch Albernheit noch nicht verdorben ist) so müßte die ganze Moral vorgetragen werden.« Sein »moralistisches Programm« kann man es nennen, weil er versucht, in der Anthropologie, sowohl in der schließlich publizierten Fassung von 1798 als auch in den Vorlesungen zwischen 1772 und 1789, populäre Moralphilosophie in diesem Sinne zu betreiben.
Nicht deswegen, weil ein Richter da sei, sondern weil sie das Leben angenehm mache, solle man sich Moral aneignen. Dazu sei eine »Lust« an der Ausübung der Tugenden notwendig. Wie aber ist das vereinbar mit der Kantischen Begründung des Gehorsams gegenüber dem Sittengesetz »ohne Beimischung von Neigung«?
Der Witz der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist: Kant lagert die Idee des »eigentlichen Selbstseins« in die metaphysische Ethik aus und beschränkt sich auf die Beschreibung der Kultivierung der äußeren Formen des Miteinanders. »Vom erlaubten moralischen Schein« überschreibt er ein berühmtes Kapitel. Neben dem Schein (»daß etwas zunächst nur gekünstelt sei, aber nach und nach in die Sitten übergehe«) sind es vor allem die bewußt gepflegte Gewohnheit (habitus libertatis), die Erziehung (und Selbsterziehung) und die Religion als praxis pietatis, die den empirischen Menschen erst empfänglich machen für die in ihm als Vernunftwesen bereits vorhandene Moralität.
So kann man die Anthropologie als großes Lob der Äußerlichkeit lesen: Es geht nichts über das Spiel der Konventionen. Hier trifft Kant auf Houellebecqs moralistische Diagnose – doch diesem ist die Tugend »zu schwer«, so daß die allmähliche Versittlichung leider ausfallen muß. Dem an Kant geschulten Verdacht, daß er und seine Romanfiguren womöglich »durch Albernheit verdorben« seien, würde Houellebecq gewiß zustimmen.