Sie erinnerten in der altehrwürdigen Bergmannsstadt im Kohlepott zwischen Beuthen (Bytom), Ruda (Ruda Śląska) und Königshütte (Chorzów) an den 78. Jahrestag der »oberschlesischen Tragödie«.
So wird die wilde Vertreibung überwiegend deutschstämmiger Bewohner der geschichtsträchtigen Region durch die sowjetische Rote Armee und polnische Kommunisten genannt.
Ähnliche Gedenkaktionen, zum Teil mit Blasorchestern, gab es in Beuthener Ortsteilen wie Stollarzowitz und Friedrichswille. Neben dem Erinnerungsmarsch in Schwientochlowitz gibt es vor allem dort weitere Aktionen, um an die Verbrechen im Frühjahr 1945 zu erinnern (hier ein sehenswerter aktueller Kurzbericht, Beginn 9:42 Min.).
Daß sich an derlei erinnerungspolitischen Aktionen neben Polen und »Schlonzaken« insbesondere Deutsche beteiligen, liegt daran, daß in der heutigen Woiwodschaft Schlesien, die in etwa das alte Oberschlesien ohne Oppeln und Umgebung umfaßt (Opole ist eine eigene Woiwodschaft), 1945 nicht vollständig Tabula rasa gemacht wurde.
Zwar wurde auch dort das Gros der Deutschen vertrieben. Aber mehrere Hunderttausend Deutsche durften oder mußten (weil sie bspw. unabkömmlich im Bergwerk waren) bleiben. Bis heute hat sich auch deshalb vor allem in Beuthen, Schwientochlowitz und in Teilen von Kattowitz eine aktive deutsche Minderheit halten können, die eine lebendige Kultur‑, Volkstums- und Erinnerungspolitik betreibt – erwartungsgemäß gegen viele Widerstände.
Außerhalb dieser Region sticht insbesondere die »deutsche Hochburg« Oppelner Land hervor, wo etliche Orte rund um die Hauptstadt der Woiwodschaft Opole offiziell zweisprachig sind, und das heißt: Mindestens 20 Prozent der Einwohner hatten bei der letzten Volkszählung angegeben, deutsch zu sein. (Die Ergebnisse der jüngsten Volkszählung liegen noch nicht vor; es droht der Verlust einiger deutsch-polnischer Zweisprachigkeiten).
Das alles steht in schroffem Gegensatz zur minderheitsdeutschen Situation in anderen ehemals deutschen Gebieten wie Niederschlesien, Lebus oder Westpommern. Dort war die Vertreibung total und betraf von 1945 bis 1949 bis zu 99 Prozent der Deutschen.
Es verwundert also nicht, daß in Oberschlesien (Woiwodschaft Schlesien + Woiwodschaft Oppeln) weiterhin deutsche Spuren vorhanden sind. Es verwundert schon eher, daß auch in jenen Gebieten, wo die Vertreibung und die Entdeutschungspolitik der polnischen Kommunisten noch umfassender war, sich noch heute deutsche Spuren gehalten haben.
Diesen widmet sich die Liegnitzer Schriftstellerin Karolina Kuszyk (Jg. 1977) in ihrem unverzichtbaren Werk In den Häuser der anderen: Die deutsche Übersetzung erschien 2022; das polnische Original Poniemieckie (etwa: Post-Deutsch/ehemals Deutsch) bereits 2019. Es löste in Polen lebhafte, teils überaus emotional geführte geschichtspolitische Debatten aus.
Der Grund ist allgemeinverständlich: Kuszyk thematisiert mehrere Tabus, kritisiert die polnische Erinnerungspolitik und geht offen auf Vertreibungen und andere Verbrechen ein.
Das heißt nicht, daß es an politisch korrekten Merkwürdigkeiten mangelt. Ob diese jedoch an Kuszyk liegen oder am deutschen Übersetzer Bernhard Hartmann, ist für den Rezensenten ohne solide Kontakte zum Ch. Links Verlag nicht zu eruieren.
Fest steht jedenfalls, daß es bizarr wirkt, wenn konsequent Warschau und Krakau geschrieben wird, obwohl Warszawa und Kraków erzpolnische Städte sind, wohingegen man sich bei den über Jahrhunderte gewachsenen ehemals deutschen Städten Liegnitz und Breslau auf Legnica und Wrocław festgelegt hat.
Das wäre in etwa so, als würde in einem Italienbuch Mailand (statt Milano) und Neapel (statt Napoli) platziert werden, wohingegen man Bozen konsequent als Bolzano und Meran konsequent als Merano auftreten lassen würde. Die Logik erschließt sich – zumindest mir – nicht.
Blendet man derlei sprachpolitische Fragezeichen aus, ist das Buch ein fesselndes Panoptikum »postdeutscher« Geschichte in Nord- und Westpolen. Oberschlesien, wo noch heute bis zu 200.000 Deutsche leben, wird ausgeblendet; Karolina Kuszyk fokussiert sich stringent auf die komplett oder fast komplett entdeutschten Gebiete.
Kuszyk leitet für polnische Durchschnittsleser und deutsche politisch korrekte Leser provozierend ein: Gehe es um die polnische Deutschenpolitik 1945 ff., gäbe es bisher nur eine »lückenhafte und durch politische Instrumentalisierungen verzerrte« Geschichte.
Die polnisch-kommunistische Tilgung aller »Spuren des Deutschtums« macht sie zu ihrem Gegenstand – und Gegenstand heißt hier buchstäblich, daß sie sich ansieht, was zwischen Stettin und Breslau an deutschem Bestand übriggeblieben ist und wie die ab 1945 neu angesiedelten Polen damit umgingen, von Porzellan über bestimmte Küchen- oder Arbeitsutensilien bis hin zu deutschen Friedhöfen.
Sie untersucht, was es für die gezwungenen Neusiedler aus Lemberg oder Wilna bedeutete, wenn sie sich »in den Hinterlassenschaften eines eben noch verfeindeten Volkes ein neues Leben« aufzubauen hatten. Auch dies fand oft unter Gewalt bzw. Gewaltandrohungen statt: Von 1944 bis 1948 wurden mindestens anderthalb Millionen Ostpolen aus den nunmehr sowjetischen Gebieten vertrieben und mal wild, mal organisiert in die nunmehr polnischen Westgebiete gebracht.
Karolina Kuszyk läßt in bezug auf diese Westgebiete – also aus deutscher Sicht: Ostgebiete – keinen Zweifel daran, daß sie das polnisch-nationale »Propagandanarrativ von der Rückkehr auf ureigenes Territorium« verwirft, auch »Wiedergewonnene Gebiete« akzeptiert sie als Terminus nicht.
Wertfrei entscheidet sie sich in der Regel für die Bezeichnung des »ehemals Deutschen« in Polen. Und das betrifft mehr Menschen, als man denken könnte: Fast ein Drittel aller Polen sollen – Stand allerdings 1995 – in ehemals deutschen Häusern leben.
Diese wurden ganz unterschiedlich behandelt. Es gibt, so beschreibt es Kuszyk, »deutsche Häuser, denen es schlecht erging, weil sie von Menschen bewohnt wurden, die sie behandelten wie die Soldaten einer siegreichen Armee die Frauen des Feindes«. Und es gab und gibt Häuser, die gehegt und gepflegt, in den letzten Jahren zudem oftmals mühevoll saniert wurden.
Daß viele Häuser verfielen und nicht gepflegt, sondern ausgenommen wurden, lag auch an der jahrelangen Unkenntnis darüber, wie der endgültige Grenzverlauf zwischen Polen und Deutschland aussehen würde. Man reparierte nichts oder nur das Allernotwendigste, weil man fürchtete, schon bald wieder weiterziehen zu müssen. Hinzu kam das ostentative Gefühl der Fremdheit: Für einen Lemken aus einem entlegenen Weiler im ehemaligen Südostpolen war Niederschlesien naturgemäß eine kleine Weltreise und oftmals ein Kulturschock.
Karolina Kuszyk gelingt es, emphatisch vorzugehen. Sie spielt kein Leid gegeneinander aus, sondern erinnert in einer klugen Vorgehensweise überhaupt wieder an jenes Leid, das heute oft ausgeblendet oder aus ideologischen Gründen verschwiegen wird.
Für bundesdeutsche Leser, deren Geschichtsbild linksliberal geprägt ist, mag es dabei regelrecht schockierend wirken, wenn Kuszyk von einer »Plünderei« an ehemals Deutschem berichtet, »bei der ganz Polen mitmachte«. Sie bezeichnet es sogar als »Ursünde«, »mit der die wahre Geschichte meiner ehemals deutschen Heimat begann«.
Für bundesdeutsche Leser, die eher konservativen Geschichtsbildern zuneigt sind, ist es derweil von besonderem Interesse, wie die Vertriebenenpolitik der alten BRD untersucht wird. Das Leid der Heimatvertriebenen wurde in Wählerstimmen übersetzt, und Erika Steinbach war für die CDU/CSU über Jahrzehnte der gut geölte Motor dieser politischen Übersetzung (und: Neutralisierung) kollektiver Leiderfahrung.
Diese Erfahrung endete für viele Vertriebenen und Aussiedler nicht in der »neuen Heimat«, die oftmals eine »kalte« war. Auch darüber berichtet Karolina Kuszyk mit viel Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis.
Letztere beweist sie auch, als sie nonkonforme Phänomene der Gegenwart skizziert. So berichtet sie von einem konservativen Journalisten Wojciech Cejrowski, der vorschlug, man möge Stettin an Deutschland geben und im Gegenzug Kriegsreparationen erhalten, woraufhin deutschstämmige Polen eine Facebookseite »Szczecin jest niemiecki« gründeten, in der sie diese Aussage aufgriffen und für eine Grenzkorrektur plädierten.
Neben diesen Sonderfällen beschreibt Karolina Kuszyk eine allgemeine Neuorientierung an vergangene Epochen: Postkarten aus alten (deutschen) Zeiten würden heute bei Polen ebenso gefragt sein wie Stadtführungen mit dem Fokus auf das Einstige, das ab 1945 dem verordneten Vergessen anheimgefallen war.
Vorsichtig optimistisch sieht Kuszyk denn auch, daß der »ambivalente Reiz« ehemals deutscher Regionen »erhalten bleibt und uns weiter daran erinnert, dass das Eigene und das Fremde hier zwei Gesichter ein und desselben sind«.
Karolina Kuszyks Buch ist dabei im besten Sinne aufklärend und Wissen vermittelnd. Wer es gelesen hat, versteht nicht nur die »ehemals deutsche« Situation besser, sondern auch jene der Polen, die heute dort leben und selbst keinerlei Anteil an der wilden respektive organisierten Aussiedlung der Deutschen haben.
Eine Marginalie schließlich ist noch erwähnenswert: Karolina Kuszyk ärgert sich über die Unkenntnis jüngerer Polen, was die deutsche Vorgeschichte des heutigen West- und Nordpolens anbelangt. Viele Schüler wüßten nicht, daß beispielsweise niederschlesische Städte von Deutschen errichtet wurden und daß Polen oftmals erst seit mehr als 70 Jahren dort leben. Gemäß der Maxime, vor der eigenen Haustür zuerst zu kehren, muß man hier ergänzend einwerfen: Wieviele junge Deutsche wissen das?
Subjektive Beispielfalle: Als ich einem – unpolitischen, gleichwohl akademisch gebildeten – Freund enthusiasmiert von einem Oberschlesienaufenthalt berichtete, wußte dieser nicht, wo dieses Oberschlesien denn liegen könnte, geschweige denn, daß dort heute noch hunderttausende Deutschstämmige leben. Das finde medial nicht statt. (Was stimmt.)
Das ist freilich kein Einzelfall. Unkenntnis herrscht allerorten, und wer interessiert sich denn im patriotischen Lager im allgemeinen oder in der AfD im besonderen für die Lage der deutschen Minderheit zwischen Oppeln und Kattowitz? Will heißen: außerhalb der Zeilen der Volkstumszeitschrift Der Eckart?
Man sollte das nicht falsch verstehen: Das ist kein Plädoyer für eine rachsüchtige Polenpolitik seitens der deutschen Rechten. Im Gegenteil: Eine Aussöhnung und Vertiefung der Zusammenarbeit ist vonnöten, eine Annäherung und Überwindung jeweiliger chauvinistischer Vorurteile geboten.
Eine solche freundliche Neujustierung deutsch-polnischer Verquickungen darf aber nicht auf Kosten der deutschen Minderheit erfolgen. Wenn die polnische Rechte antideutsche Ressentiments reproduziert, darf das kritisiert werden, auch wenn man ansonsten – je nach Neigung – bei der Regierungsrechten um PiS oder der rechten Opposition um Konfederacja positive Anknüpfungspunkte sieht.
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Karolina Kuszyk: In den Häuser der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, 2022, 400 S., 25 € – hier bestellen.
Hajo Blaschke
Die Idee des polnischen Herrn Cejrowski, Stettin gegen Reparationen an Deutschland zurückzugeben, ist auch nur eine Nuance der polnischen Reparationsrafferei.
Stettin und das Umland und auch der Osten von Usedom inc. Swinemünde sind erst im November polnisch okkupiert worden. Stettin z.B. hatte einen Stadtrat aus Deutschen. Zurückgeben - ja, Reparation - nein.