Kriegspropaganda

PDF der Druckfassung aus Sezession 109/ August 2022

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Die nord­ukrai­ni­sche Stadt But­scha in der Oblast Kiew wur­de am 27. Febru­ar 2022 von rus­si­schen Trup­pen besetzt. Der Abzug begann nach lan­gen, erbit­ter­ten Kämp­fen Ende März, am 1. April erlang­ten ukrai­ni­sche Trup­pen voll­stän­di­ge Kon­trol­le über die Stadt.

Zwei Tage spä­ter setz­te eine kon­zer­tier­te, inter­na­tio­na­le Medi­en­kam­pa­gne ein: Angeb­lich hat­te man in But­scha »Mas­sen­grä­ber« von toten Zivi­lis­ten ent­deckt, sys­te­ma­tisch ermor­det von den rus­si­schen Besat­zern. Von drei- bis vier­hun­dert Toten war die Rede, die bri­ti­sche Bot­schaf­te­rin bei der UNO sprach gar von »mehr als acht­hun­dert Leichen«.

Der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wolo­di­mir Selen­ski sah sich die Greu­el­ta­ten vor Ort an, beglei­tet von Fern­seh­teams. Die Auf­nah­men von sei­nem Besuch zeig­ten neben mas­si­ven Zer­stö­run­gen vor allem Tote, die ver­streut auf den Stra­ßen lagen, dar­un­ter etli­che mit einer auf­fäl­li­gen wei­ßen Arm­bin­de, man­che davon gefes­selt und offen­bar aus nächs­ter Nähe exe­ku­tiert. Da waren sie, die »Bewei­se« für einen »Völ­ker­mord«, der »von der Welt aner­kannt« wer­den müs­se, wie Selen­ski for­mu­lier­te. »Sie sehen, was pas­siert ist«, sag­te er mit zer­knirsch­tem Gesicht zu den inter­na­tio­na­len Repor­tern. »Wir wis­sen, daß Tau­sen­de getö­tet und gefol­tert, Glied­ma­ßen abge­ris­sen, Frau­en ver­ge­wal­tigt und Kin­der getö­tet wurden.«

Es gab kei­ner­lei Zwei­fel an die­ser Tat­sa­che; allen­falls Details und Opfer­zahlen waren noch zu klä­ren, das gro­ße Urteil aber war rasch gefällt, auch wenn for­mal nach »Auf­klä­rung« geru­fen wur­de. Kaum ein Bericht­erstat­ter oder Poli­ti­ker, der nicht schon haar­ge­nau Bescheid wuß­te, was pas­siert war, und der wuß­te, daß dar­auf nun wei­te­re wirt­schaft­li­che Sank­tio­nen gegen Ruß­land fol­gen muß­ten. Wie immer waren es »die Bil­der«, die nun »die Welt« zur Empö­rung und zum mora­li­schen Han­deln verpflichteten.

US-Außen­mi­nis­ter Ant­o­ny Blin­ken ließ die alt­be­kann­te Melo­die anklin­gen, die »huma­ni­tä­ren Inter­ven­tio­nen« vor­an­zu­ge­hen pflegt: »Das ist die Rea­li­tät, die sich jeden Tag abspielt, solan­ge Ruß­lands Bru­ta­li­tät gegen die Ukrai­ne anhält. Des­halb muß es ein Ende haben.« Auch aus Euro­pa erklang ein ein­stim­mi­ger Chor: »Putins hem­mungs­lo­se Gewalt löscht unschul­di­ge Fami­li­en aus und kennt kei­ne Gren­zen«, kon­sta­tier­te Anna­le­na Baer­bock auf­grund der »uner­träg­li­chen Bil­der«, die sie im Fern­se­hen gese­hen hat­te. Auch Emma­nu­el Macron fand »die Bil­der, die uns aus But­scha errei­chen«, »uner­träg­lich«, wie er auf Twit­ter schrieb. Der pol­ni­sche Prä­si­dent Andrzej Duda äußer­te, »die Bil­der von But­scha« wür­den »den Glau­ben wider­le­gen, man müs­se um jeden Preis einen Kom­pro­miß fin­den.« Vor allen ande­ren Din­gen brauch­ten die »Ver­tei­di­ger der Ukrai­ne« nun »Waf­fen, Waf­fen und noch mehr Waffen«.

Haben wir aber wirk­lich gese­hen, was wir gese­hen haben, was laut ­Joe Biden angeb­lich »jeder« gese­hen hat? Das ­wahr­neh­mungs­steu­ern­de Framing wur­de von Anfang an mit­ge­lie­fert. Ein You­Tube-Video der Nach­rich­ten­agen­tur AFP vom 4. April bei­spiels­wei­se trägt den Titel »Ukraine’s Pre­si­dent Zel­en­sky visits Bucha, site of mass gra­ves«, aber letz­te­re sind in dem Video nir­gends zu sehen. Ande­re Berich­te zeig­ten einen offe­nen Gra­ben auf einem Kirch­hof, der Nach­rich­ten­agen­tur Reu­ters zufol­ge etwa 13,7 Meter lang, in dem etli­che Lei­chen in schwar­zen Plas­tik­sä­cken lagen. Hat­ten ihn die rus­si­schen Mör­der gegra­ben, aber nicht zuge­schüt­tet, die Lei­chen nicht unter die Erde gebracht? Oder waren es die Ein­woh­ner der Stadt, die den Gra­ben gegra­ben hat­ten, um die sich häu­fen­den und über­all her­um­lie­gen­den Toten zu bestat­ten, wie ein Bericht der Agen­tur Agence France-Pres­se vom 8. April nahelegte?

Auf alter­na­ti­ven Kanä­len tauch­te bald ein Gegen­nar­ra­tiv auf, das weit­ge­hend der offi­zi­el­len rus­si­schen Dar­stel­lung ent­sprach: Am 31. März hat­te der Bür­ger­meis­ter der Stadt, Ana­to­li Fedoruk, in einem Video die Befrei­ung But­schas gefei­ert, lächelnd, gut gelaunt und ohne irgend­ein Mas­sa­ker zu erwäh­nen. Am 3. April gab unter ande­rem die Sei­te ukranews.com eine Erklä­rung der Natio­na­len Poli­zei der Ukrai­ne wie­der: »Am 2. April began­nen Spe­zi­al­kräf­te der ukrai­ni­schen Natio­na­len Poli­zei in der befrei­ten Stadt But­scha in der Regi­on Kiew damit, das Gebiet von Sabo­teu­ren und Kom­pli­zen der rus­si­schen Trup­pen zu säu­bern«. Die wei­ßen Arm­bin­den, die vie­le Opfer tru­gen, sind übli­cher­wei­se das Kenn­zei­chen von rus­si­schen Trup­pen und pro­rus­si­schen Zivi­lis­ten, wes­halb eine rus­si­sche Täter­schaft kei­nen Sinn ergäbe.

Waren die Toten auf den Stra­ßen But­schas also in Wahr­heit Opfer ukrai­ni­scher »Säu­be­run­gen« und Rache­ak­tio­nen an »Kol­la­bo­ra­teu­ren«, an denen auch das berüch­tig­te Asow-Regi­ment und ande­re radi­ka­le natio­na­lis­ti­sche Grup­pen wie die »Boots­mann-Män­ner«, benannt nach dem Spitz­na­men ihres Anfüh­rers, betei­ligt gewe­sen sein sol­len? Oder waren sie zum Teil schlicht zufäl­lig Opfer von Artil­le­rie­be­schuß der ukrai­ni­schen Armee?

Die »Fak­ten­che­cker« feu­er­ten eben­so rasch zurück. Die New York Times ver­öf­fent­lich­te am 4. April Satel­li­ten­bil­der, die bewei­sen soll­ten, daß schon seit dem 11. März Lei­chen ins­be­son­de­re auf der Jablons­ka-Stra­ße (Welt: »Die Stra­ße des Hor­rors«) gele­gen hat­ten. Hat­ten die Rus­sen kein Inter­es­se dar­an, die Spu­ren ihrer Unta­ten zu ver­wi­schen? Kann man auf einem Satel­li­ten­bild erken­nen, wor­an ein Mensch gestor­ben ist? Bewei­se für sys­te­ma­ti­sche Exe­ku­tio­nen brach­ten die­se Auf­nah­men nicht: Ange­sichts der abge­bil­de­ten Zer­stö­run­gen nähr­ten sie eher den Ver­dacht, daß es sich bei den Toten um zivi­le Opfer von Artil­le­rie­be­schuß handelte.

Wer sich durch die Flut von Pro­pa­gan­da und Gegen­pro­pa­gan­da mit all ihren gro­ßen und klei­nen Geschich­ten gewühlt hat, wird bald die Gren­zen sei­ner Urteils­fä­hig­keit ein­ge­ste­hen müs­sen. Bil­der von Zer­stö­run­gen und Lei­chen sind immer scho­ckie­rend und absto­ßend, gehen direkt in die Ein­ge­wei­de und lösen star­ke Emo­tio­nen aus. Aber für sich genom­men, bewei­sen sie in der Regel wenig. Kur­ze, ver­wa­ckel­te, kon­text­lo­se Sze­nen von Gewalt, Kriegs­hand­lun­gen und Tod, wie sie in den Sozia­len Medi­en von Twit­ter bis Tele­gram seit Beginn des Kriegs von allen Sei­ten mas­sen­haft hoch­ge­la­den wer­den, in Spra­chen, die die meis­ten Men­schen im Wes­ten nicht ver­ste­hen, las­sen sich nicht ohne wei­te­res auf den ers­ten Blick »ein­ord­nen«. Hin­zu kom­men die inzwi­schen außer­or­dent­li­chen Mög­lich­kei­ten, Film- und Ton­auf­nah­men rasch und ein­fach zu »faken«. Daß auch Inter­views und Zeu­gen­aus­sa­gen für die Kame­ra »gestellt« wer­den kön­nen, soll­te eben­falls kei­ne Neu­ig­keit sein.

Hin­zu kom­men merk­wür­dig nai­ve Vor­stel­lun­gen über den Ablauf eines Krie­ges. Im März begann die ukrai­ni­sche Regie­rung, Waf­fen an Zivi­lis­ten und Kamp­fu­n­er­fah­re­ne zu ver­tei­len, um eine Art »Volks­sturm« gegen die Rus­sen zu mobi­li­sie­ren; auch legal im Land leben­den Aus­län­dern und Staa­ten­lo­sen wur­de gestat­tet, an den Kampf­hand­lun­gen teil­zu­neh­men. Man­che deut­sche Medi­en haben die­se Tat­sa­che gera­de­zu roman­tisch ver­klärt, wie über­haupt den gesam­ten ukrai­ni­schen Abwehr­kampf. Daß die logi­sche Fol­ge mehr tote Zivi­lis­ten sind, haben sie wohl nicht bedacht, und auch nicht, daß Artil­le­rie­be­schuß einer Stadt unwei­ger­lich zivi­le Opfer als »Kol­la­te­ral­schä­den« for­dert. Hin­zu kommt, daß Zivi­lis­ten oft von bei­den Sei­ten als »Schil­der« benutzt wer­den, wäh­rend zivi­le Opfer treff­lich zu pro­pa­gan­dis­ti­schen Zwe­cken aus­ge­beu­tet wer­den können.

Seit Kriegs­be­ginn wächst täg­lich der Umfang der inter­na­tio­na­len Wiki­pe­dia-Arti­kel über »Kriegs­ver­bre­chen im rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg«. Die deut­sche Ver­si­on stellt gleich im ers­ten Satz die Behaup­tung auf, die­se sei­en »über­wie­gend durch Ange­hö­ri­ge der rus­si­schen Streit­kräf­te« began­gen wor­den, wäh­rend Kriegs­ver­bre­chen auf ukrai­ni­scher Sei­te nur »ver­ein­zelt« auf­ge­tre­ten sei­en. Die eng­li­sche Fas­sung räumt nicht ein­mal das ein: Im Ein­lei­tungs­ab­schnitt ist aus­schließ­lich von Kriegs­ver­bre­chen durch rus­si­sche Auto­ri­tä­ten und Streit­kräf­te die Rede, die »sowohl geziel­te Angrif­fe auf zivi­le Zie­le als auch wahl­lo­se Angrif­fe in dicht besie­del­ten Gebie­ten« durch­ge­führt haben sol­len. Auch ange­sichts von But­scha wur­de rasch die Paro­le aus­ge­ge­ben, daß es sich hier nicht um einen »Ein­zel­fall« handle.

Rus­si­sche Medi­en hin­ge­gen, die im Wes­ten teil­wei­se gesperrt oder nur auf Umwe­gen zu fin­den sind, zeich­nen ein gänz­lich ande­res Bild: Sie zei­gen unter ande­rem Fol­te­run­gen und Tötun­gen von rus­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen und »Kol­la­bo­ra­teu­ren« durch regu­lä­re und irre­gu­lä­re ukrai­ni­sche Kom­bat­tan­ten, berich­ten schon seit Jah­ren über den »Geno­zid« an rus­si­schen Sepa­ra­tis­ten in der Ost­ukrai­ne und die Gewalt­ta­ten der dort ope­rie­ren­den »Faschis­ten«.

Der Krieg hat alte Geis­ter wie­der auf­ge­weckt; Ruß­land sti­li­siert ihn zu einer Neu­auf­la­ge des anti­fa­schis­ti­schen »Vater­län­di­schen Kriegs«, wäh­rend auf ukrai­ni­scher Sei­te Erin­ne­run­gen an die sowje­tisch-rus­si­sche Gewalt­herr­schaft wie­der wach wer­den. Wer sich ein his­to­ri­sches Bewußt­sein bewahrt hat, wird jeden­falls seit Febru­ar star­ke Déjà-vu-Erleb­nis­se gehabt haben.

Das »Mas­sa­ker von But­scha« kam dem Wes­ten äußerst gele­gen, als ver­däch­ti­ger Höhe­punkt einer extrem ein­sei­ti­gen und auf­ge­reg­ten Ver­teu­fe­lung der rus­si­schen Kriegs­par­tei. »But­scha« soll­te von Anfang an für den rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg eine ähn­li­che Rol­le spie­len wie »Sre­bre­ni­ca« für die Jugo­sla­wi­en-Krie­ge. Mit die­sem Schlag­wort sind Mas­sa­ker gemeint, die im Juli 1995 in der Nähe der bos­ni­schen Stadt Sre­bre­ni­ca statt­fan­den und die bis zu 8000 mus­li­mi­schen Bos­ni­ern, vor allem Män­nern und Jun­gen, das Leben gekos­tet haben sol­len. Von der UNO als »Völ­ker­mord« dekla­riert, dien­te ­Sre­bre­ni­ca dazu, im Wes­ten eine anti­ser­bi­sche Stim­mung zu erzeu­gen, die poli­tisch im NATO-Ein­satz von 1999 kul­mi­nier­te, der nach Anga­ben der jugo­sla­wi­schen Regie­rung bis zu 2500 zivi­le Todes­op­fer gefor­dert hat.

Mit »Sre­bre­ni­ca«, dem angeb­lich »größ­ten Mas­sen­mord seit dem Zwei­ten Welt­krieg«, wur­den zahl­rei­che ande­re Mas­sa­ker und Kriegs­ver­bre­chen der Jugo­sla­wi­en-Krie­ge, began­gen von mus­li­mi­schen Bos­ni­ern, Kroa­ten und Alba­nern, über­schat­tet und rela­ti­viert, so daß die Ser­ben in den Augen der »Welt­öf­fent­lich­keit« als die Haupt­übel­tä­ter dastan­den, ver­gleich­bar mit den his­to­ri­schen »Nazis«. So recht­fer­tig­te der dama­li­ge deut­sche Außen­mi­nis­ter Josch­ka Fischer den Aus­lands­ein­satz der Bun­des­wehr im Koso­vo mit den Wor­ten »Nie wie­der Ausch­witz«. Die »Wahr­heit« über Sre­bre­ni­ca ver­fes­tig­te sich rasch zum poli­ti­schen Dog­ma, und wer die­ses anzu­zwei­feln wagt, ris­kiert auch heu­te noch, nach einem alt­be­kann­ten Strick­mus­ter als »Geno­zid­leug­ner« oder »-rela­ti­vie­rer« abge­stem­pelt zu werden.

Auch die »Wahr­heit« über But­scha wird ver­mut­lich nicht mehr umge­schrie­ben wer­den; ob sie wie Sre­bre­ni­ca eine lang­fris­ti­ge Bedeu­tung im kol­lek­ti­ven Bewußt­sein der Welt­öf­fent­lich­keit erlangt, wird sich noch zei­gen. Abhän­gen wird dies von ihrem poli­ti­schen Nut­zen. Die­ser ent­schei­det stets, ob bestimm­te his­to­ri­sche Nar­ra­ti­ve in Fra­ge gestellt wer­den dür­fen oder nicht. Revi­sio­nis­ti­sche Dar­stel­lun­gen bei­spiels­wei­se von »Guer­ni­ca« oder »Ora­dour-sur-Gla­ne« und ande­ren Ver­bre­chen des Zwei­ten Welt­kriegs fris­ten ein Dasein in ver­fem­ten Sami­s­dat-Nischen, wäh­rend ihre Autoren zum Teil juris­tisch ver­folgt wer­den. In ande­ren Berei­chen gibt es kei­ner­lei Hem­mun­gen, jahr­zehn­te­lang gül­ti­ge Opfer­zah­len dras­tisch her­un­ter­zu­rech­nen, wie es die »His­to­ri­ker­kom­mis­si­on zu den Luft­an­grif­fen auf Dres­den zwi­schen dem 13. und 15. Febru­ar 1945« im Jahr 2010 tat.

Han­delt es sich um kom­plet­te Erfin­dun­gen, wie die berüch­tig­ten »abge­hack­ten Hän­de bel­gi­scher Kin­der« im Ers­ten Welt­krieg, die »Brut­kas­ten­lü­ge« anläß­lich der ira­ki­schen Inva­si­on Kuwaits im August 1990 oder die angeb­li­chen »Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen« Sad­dam Hus­s­eins, so ver­schwin­den sie mit­un­ter rasch aus der Geschichtsschreibung.

Was sich am zähes­ten hält, sind ein­sei­ti­ge Dar­stel­lun­gen und Über­trei­bun­gen mit einem mehr oder weni­ger gro­ßen Kern Wahr­heit, ver­bun­den mit einem groß­zü­gi­gen »Ver­ges­sen« und Her­un­ter­spie­len der Taten der eige­nen oder der ver­bün­de­ten Sei­te. All dies liegt in der inten­siv par­tei­ischen Natur der Kriegs­pro­pa­gan­da selbst begrün­det, wie sie Baron Arthur ­Pon­son­by (1871 – 1946) in sei­nem Klas­si­ker Lügen in Kriegs­zei­tenFal­se­hood in War­ti­me, Lon­don 1928) beschrieb.

Die bel­gi­sche His­to­ri­ke­rin Anne Morel­li hat dar­aus zehn Prin­zi­pi­en destil­liert, deren Wie­der­erken­nungs­ef­fekt anläß­lich des lau­fen­den Krie­ges in der Ukrai­ne enorm ist, ins­be­son­de­re die Punk­te »Der Füh­rer des Fein­des hat dämo­ni­sche Züge«, »Der Feind begeht mit Absicht Grau­sam­kei­ten, wenn uns Feh­ler unter­lau­fen, dann nur ver­se­hent­lich« und »Wer unse­re Bericht­erstat­tung in Zwei­fel zieht, ist ein Verräter.«

Der Witz ist, daß sich die­se Prin­zi­pi­en spie­gel­bild­lich bei allen Kriegs­par­tei­en fin­den, denn es han­delt sich hier um den psy­cho­lo­gi­schen Modus des Krie­ges selbst, dem sich kein Teil­neh­mer ent­zie­hen kann: Wir sind die Guten, sie sind die Bösen, wir sind im Recht, sie sind im Unrecht, sie haben grund­los mit der Gewalt begon­nen, wir ver­tei­di­gen uns ledig­lich oder üben gerech­te Ver­gel­tung, wir sagen die Wahr­heit, sie lügen. Die »libe­ra­len Demo­kra­tien« sind in die­ser Hin­sicht kei­nen Deut bes­ser als die »auto­ri­tä­ren Sys­te­me«, die sie zum Feind- und Gegen­bild erho­ben haben. Damit ist frei­lich noch nicht geklärt, was in einem kon­kre­ten Fall, wie etwa But­scha oder Sre­bre­ni­ca, tat­säch­lich pas­siert ist.

Alle Vor­wür­fe gegen den Feind kön­nen theo­re­tisch stim­men, aber fast immer wird der eige­ne Anteil an dem Gesche­hen und sei­ner Eska­la­ti­on aus­ge­blen­det oder ver­klei­nert. Gewiß gibt es auch das Phä­no­men des »über­zo­ge­nen Skep­ti­zis­mus«, der »in bedau­er­li­che Dumm­hei­ten wie die Leug­nung von Fak­ten« mün­det, wie Morel­li for­mu­liert, und gewiß ist es so, »daß Skep­ti­ker im Lager des Fein­des begrüßt, im eige­nen dage­gen abge­lehnt wer­den«, womit man durch­aus Gefahr lau­fen kann, dem Feind des eige­nen Lan­des in die Hän­de zu spie­len. Dies erscheint Morel­li jedoch als das klei­ne­re Übel gegen­über »blin­der Leicht­gläu­big­keit«: »Sys­te­ma­ti­scher Zwei­fel scheint mir noch als das bes­te Gegen­gift gegen das Gift der täg­li­chen Gesin­nungs­pro­duk­te, die uns über die Medi­en ins Haus gelie­fert wer­den, ob nun bei inter­na­tio­na­len Krie­gen, ideo­lo­gi­schen oder sozia­len Konflikten«.

Lei­der haben sich vie­le, die die media­le Herr­schaft der »Gesin­nungs­pro­duk­te« erkannt haben, mit­tels der anti­rus­si­schen Pro­pa­gan­da wie­der in ihren Bann zie­hen las­sen. Die­sel­ben Instan­zen, die uns über Mas­sen­mi­gra­ti­on, Bevöl­ke­rungs­aus­tausch und »Coro­na« belo­gen haben, belü­gen uns selbst­ver­ständ­lich auch über den rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg, der weder in euro­päi­schem noch in deut­schem Inter­es­se ist. Es sind immer »die Bil­der«, die jeg­li­ches Den­ken aus­schal­ten sol­len: ein totes Flücht­lings­kind am Strand, Wagen­ko­lon­nen auf dem Weg ins Kre­ma­to­ri­um in Ber­ga­mo oder eben die Lei­chen in den Stra­ßen von Butscha.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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