Im März 2022 bezeichnete US-Präsident Joe Biden den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Mörder. Schon 1983 hatte sein Amtsvorgänger Ronald Reagan die Sowjetunion – damals noch zum Entsetzen auch vieler US-amerikanischer Politiker – kurzerhand zum »Reich des Bösen« erklärt. Die gegenwärtig amtierende Finanzministerin der USA, Janet Yellen, äußerte jüngst vor laufender Kamera, sie sei »zutiefst beunruhigt über den drohenden Hunger auf der Welt, doch um Rußland zu vernichten, müssen wir das ertragen«.
Am 26. Februar fand in Berlin eine Demonstration mit mehr als 100 000 Teilnehmern statt, auf Schildern stand »Stand for Ukraine«, aber auch »Stop Putin!« und »Mörder Putin«. In einem Online-Artikel verstieg sich Jost Schieren, Professor für Pädagogik an der anthroposophischen Alanus-Hochschule, unter der Überschrift »Kill Putin!« dazu, im Namen der Menschlichkeit und Bezug nehmend auf Augustinus und Bonhoeffer zum Tyrannenmord aufzurufen. Der Artikel wurde kurz darauf aus dem Netz genommen, der Eindruck blieb.
In einem aktuellen Interview auf der Netzpräsenz der linksextremen »Belltower News« erfährt man vom Journalisten und »Ukraine-Experten« Michael Colborne: »Die traurige Realität ist, daß auf dem Maidan die Mehrheitsgesellschaft und die Rechtsextremen einander brauchten. Die Rechtsextremen waren zwar eine Minderheit, aber sie waren notwendig, um zu verhindern, daß die Polizei die Proteste niederschlägt. Und ohne den Rückhalt der Mehrheitsgesellschaft wären die Rechtsextremen sicherlich niedergeschlagen oder gar getötet worden.« Im selben Artikel nimmt Colborne die Asow-Leute auf interessante Weise in Schutz: »Die Art und Weise, wie der Attentäter von Christchurch mit ›Asow‹ in Verbindung gebracht wurde, entsprach nicht ganz der Wahrheit, auch wenn sein Manifest eine ähnliche Sprache und ähnliche Symbole verwendete und Mitglieder von ›Asow‹ sich positiv über ihn äußerten«.
Die orthodoxen Mönche vom heiligen Berg Athos werden in der Neuen Zürcher Zeitung als Putins »Hardliner« bezeichnet, die hartnäckig ein kleines Kloster »besetzt« hielten. Das ÖVP-nahe österreichische Magazin Exxpress veröffentlicht in einer Tour Beiträge über den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, nie fehlen die Attribute »Putins Bluthund« und »Tschetschenen-Bestie«.
Genug. Nicht nur die enorme Wucht der Zuschreibung des »Bösen« im Felde der Politik läßt den aufmerksamen Beobachter aufhorchen, sondern auch die offenkundige Verkehrung, wem dieses Attribut zukommt: Wer den Welthunger in Kauf nimmt, ist »gut«, wenn dies die »Bösen« zu vernichten hilft. Ob ihrer Friedfertigkeit oft verspottete Christen rufen zum Mord am »Bösen« auf. Ukrainische Rechtsextremisten sind die »guten Nazis«, wenn es gilt, den »bösen Faschisten« Putin zu bekämpfen. Mönche sind »böse«, weil sie russisch-orthodox sind, und tschetschenische Moslems, von den »Guten« vor gar nicht langer Zeit willkommen geheißen, verkörpern heute geradezu das Böse schlechthin.
Mit Max Weber, Eric Voegelin, Arnold Gehlen oder Niklas Luhmann ließe sich leicht festklopfen, daß die Kategorie des »Bösen« in der Politik nichts zu suchen hat. Und doch haben wir es vor allem auf seiten des »Wertewestens« mit einer Gut-Böse-Rhetorik zu tun, die ein neues Ausmaß angenommen hat. Auf der anderen Seite rekurriert die russische Parole von der »Entnazifizierung der Ukraine« auf die eingefleischte Assoziation der »guten« Roten Armee gegen die »Nazis«.
Es nützt nun nichts, auf dem Kategorienfehler (Gut / Böse gehören in die Moral oder in die Theologie) herumzureiten, vielmehr ist es notwendig, genauer hinzuschauen, warum das Böse sich nicht von der Politik trennen läßt. Im Ukraine-Krieg kam es vom ersten Tag an zu Propagandaschlachten um die mobilisierende Aufladung der eigenen Truppen gegen das Böse aus dem Osten. Der Verdacht liegt nahe: Diese Verklammerung scheint unausweichlich zu sein, die moralische Diskriminierung des Feindes ist zu verlockend.
Drei Verdachtsmomente: 1. Das anthropologische Moment: Könnte es sein, daß es in der Natur der Politik liegt, das Böse im Menschen hervorzulocken? 2. Das »Sprachregime«-Moment: Könnte es sein, daß die Vokabel »Faschismus«, mit Brecht gesprochen, »in die Funktionale gerutscht« ist und so zur Steuerung ganzer Gesellschaften dient? Und schließlich: 3. Das eschatologische Moment: Könnte diese Kulmination des Bösen in der Sprache und durch die Sprache den höheren Sinn haben, uns den »Riß« (durch Gesellschaften, durch unsere Seelen und durch die geistigen Reiche) vorzuführen, dessen wir westlichen Menschen jetzt bedürfen?
1. Beginnen wir holzschnittartig scharf: Politik ist bekanntlich, mit Carl Schmitt gedacht, die Sphäre der Macht, in der Freund von Feind geschieden wird. Macht zu haben bedeutet, die eigenen Interessen gegen die Interessen des Feindes notfalls mit Gewalt durchsetzen zu können. In der Sphäre der Politik ist strukturell jedes Mittel recht, der Zweck heiligt es. Jeder moderne Staat, so Schmitt, ist folglich auf »politische Theologie« angewiesen, nämlich die Markierung des Feindes als »böse« – hierdurch wird der Staat nach innen geordnet, nach außen mobilisiert.
Anders als rohe Gewalt ist Politik durch einen hohen Grad an Vernunft gekennzeichnet, das Böse bedarf der List, nicht der Keule. Selbst die scheinbar weit vom »bösen Feind« entfernte Konkurrenz zweier lokalpolitischer Kandidaten folgt dieser Logik. Wer sich in das Feld der Politik begibt, beginnt von der Macht zu naschen. Christi dritte Versuchung in der Wüste gilt »allen Reichen der Welt mit ihrer Pracht«, die er gewänne, wenn er sich dem Teufel unterwürfe. Daß sie sprichwörtlich »den Charakter verdirbt« oder Psychopathen anzieht, zeigt nichts weniger, als daß das Wirkprinzip der Politik das Böse ist. Die Existenz guter Herrscher, die es zweifelsohne gibt, erklärt sich daher, daß diese den Verlockungen der durch den Zweck geheiligten Machtmittel so selten wie möglich nachgeben.
2. Totalitäre Systeme sind unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß in ihnen die Politik den gesamten Alltag und jeden Lebensbereich durchdringen will. Es darf keinen machtfreien Bereich geben – wenn meine unter 1. getroffenen Vorannahmen stimmen, befindet sich in einem totalitären Staat jeder Mensch tendenziell in den Fängen der Versuchung der Macht und nicht nur diejenigen, die Politik betreiben. Denunziationsbereitschaft, Manipulation und Gefügigkeit (neudeutsch: »compliance«), Blockwartverhalten und strategische Nutzenmaximierung deuten darauf hin.
Es betrifft also nicht nur »unsere Politiker«, sondern jeden Menschen qua Menschsein – jeder ist korrumpierbar, verführbar, manipulierbar. Wenn ein politisches System in alle Ritzen dringt, steigt die Gefahr dieser Verführung. Insofern der Mensch Triebwesen ist, kann er ihr allein nicht widerstehen und kippt bald in diese, bald in jene vorgefertigte Kampfpose.
Die innerhalb weniger Monate stattgefundene Re-Nationalisierung, Militarisierung, Kollektivierung und Feindschafts-Rhetorik der westlichen Nationen (gehe ich fehl, wenn ich den Eindruck habe: besonders der deutschen?) sind Ausdruck einer Verführung zum Bösen, zum spezifisch politischen Bösen. Während der »Corona«-Abrichtung der Völker konnte man dies bereits schauerlich-schön beobachten, im Zeichen des »Stand for Ukraine«-Ersatznationalismus setzt es sich nahtlos fort. Der politische Haß ließ sich hierzulande erst auf »die Ungeimpften«, jetzt auf die »Putin-Versteher« und »die Russen« kanalisieren. Von eigenständigem, individuellem Gewissen fehlt weiträumig beinahe jede Spur.
3. Der Begriff »Faschismus« ist zu einem Lenkungsinstrument geworden. Dieser Trick der »Sprachregime« (Michael Esders) in Ost und West gleichermaßen ist überaus banal und unterkomplex in seiner Struktur – doch gerade deshalb ist er so wirksam, weil die »Gesellschaften« auf diese Banalisierung, diesen Schematismus jahrzehntelang vorbereitet worden sind.
Hans-Helmuth Knütter hat das Schlagwort »Faschismuskeule« 1993 geprägt, primär bezogen auf die bundesdeutsche Linke. Dieser Rahmen wird mittlerweile gesprengt. Im Zusammenhang mit den Maidan-Ereignissen von 2014 und der Zugehörigkeit der Krim ging es im Westen los, Putin als »autoritären Faschisten« zu titulieren, der mit »russischen Bots«, Propaganda und Rubeln die europäische Rechte und sogar die amerikanischen Wahlen steuere. Die gegenwärtige russische, euphemistisch so genannte militärische Spezialoperation in der Ukraine definiert als Kriegsziel die »Entmilitarisierung und Entnazifizierung« des Landes.
Vordergründig geht es um die von der NATO seit Jahren unterstützten nationalistischen Milizen des sogenannten Asow-Bataillons, des Rechten Sektors – jene Einheiten brüsten sich in den Sozialen Medien mit grotesker Nazi-Symbolik, bevorzugt als Ganzkörpertätowierung. Gemäß der in Rußland nie aufgegebenen Dimitrow-Doktrin, die besagt, Faschismus sei die am weitesten entwickelte Form des Kapitalismus, richtet sich die »Entnazifizierung« a fortiori gegen den »kollektiven Westen« insgesamt und seine zur Hochblüte gelangte Ideologie des woke capitalism, die alle gesellschaftlichen Bereiche der westlichen Nationen (und zunehmend auch der osteuropäischen bis hin nach Rußland selbst) durchsetzt hat. Die Ukraine ist so gesehen nur der Schauplatz eines geopolitischen Ideologie-Krieges – eines Krieges der Phrasen.
Wenn ich nun die Gut-Böse-Versatzstücke, die ich eingangs aus den verschiedenen Ecken dieses Ideologie-Krieges zusammengesammelt habe, näher betrachte, entsteht vor meinem geistigen Auge ein Bild: Je größer die Lüge anschwillt, desto größer wird die Versuchung des Politischen. Der Mensch ist selbst als ein Heiliger noch der Versuchung unterworfen. Überhebt er sich über den geringsten seiner Brüder und hält sich für den drüberstehenden Durchblicker und bloß immer die anderen für vom Bösen Verführte, so erliegt er ihr.
Wenn ich mich daher vom Politischen verabschiede, wenn ich im Kampf um die Macht nicht gewinnen will, wenn ich mich vielmehr vor der Versuchung der Macht hüten will, schaffe ich dadurch das politische Böse nicht aus der Welt. Ich kann nicht mehr tun, als in den politischen Strukturen (des Staates, der Partei, der Bewegung, der Medien), auf deren Sieg ich gehofft habe, allenthalben dieselben Köder zu entdecken und zu versuchen, andere davon abzuhalten, sie gierig zu verschlingen. Und selber in mich gehen und erkennen, daß auch ich immer wieder versucht bin, mich der Hoffnung auf politische Siege hinzugeben, und dadurch leicht steuerbar bin. Daß »aufgewachte« deutsche Systemkritiker und Rechte die kommende Erlösung von der »Neuen Weltordnung« durch den Sieg Rußlands über die Dekadenz (und die BRD) ersehnen, basiert genauso auf politischer Machtbesessenheit.
In meinem kaplaken-Bändchen Versuch über den Riß habe ich beschrieben, daß der politische Riß kommen muß. Die Völker, die Familien, die Einzelseelen müssen mitten hindurchgerissen werden. »Gut« und »Böse« müssen rhetorisch dermaßen verkehrt und entstellt werden, daß kaum jemand mehr ihre wahre Unterscheidung kennt. Die Phrase vom »Faschismus« hat Ost und West fest im Griff. Aber auch ins Kleine, in die scheinbar bloß privaten Beziehungen, sickern trennende Gut-Böse-Zuschreibungen ein und verrichten ihr Zerstörungswerk. Es ist unmöglich, sich darüber zu erheben und eine »vernünftige« und endlich wieder »den deutschen Interessen dienende« Politik zu fordern, zu eng ist der Würgegriff der Phrase.
Wir westlichen Menschen (für die östlichen Menschen liegen die Dinge anders, dies zu erörtern, obliegt mir aus der existentiellen Teilnehmerperspektive nicht) müssen, so scheint es mir, in dieser Zeit durch die Gefahr der Begriffsverwirrung und der Totalpolitisierung hindurchgehen. Hölderlin hinterließ die berühmten, rätselhaften Zeilen »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«. Ganz ähnliches habe ich bei Rilke entdeckt – vielleicht hilft sein Gedicht uns Phrasenkranken dabei, zu verstehen, daß »gut« und »böse« vollkommen entstellt sein können und doch in Wirklichkeit beide in Gott aufgehoben sind. Um das allerdings wirklich begreifen zu können, muß der Krieg in und außerhalb von uns wohl noch anwachsen:
Herr, sei nicht gut: sei herrlich; widerleg
das Hörensagen, das sie an dir rühmen:
zerbrich das Haus, zerstör den Steg
und wälz ein Nest von Ungetümen
dem Flüchtling in den Nebenweg.
Denn so sind wir verkauft an kleine Nöte,
daß alle meinen Jahr um Jahr
wenn einer ihnen beide Hände böte
so wär ein Gott. Du Notnacht voller Röte,
du Feuerschein, du Krieg, du Hunger: töte:
denn du bist unsere Gefahr.
Erst wenn wir wieder unsern Untergang
in dich verlegen, nicht nur die Bewahrung,
wird alles dein sein: Einsamkeit und Paarung,
die Niederlage und der Überschwang.
Damit entstehe, was du endlich stillst,
mußt du uns überfallen und zerfetzen;
denn nichts vermag so völlig zu verletzen
wie du uns brauchst, wenn du uns retten willst.