Last und Werk und Stunde

Niemand weiß, wohin die Götter Sisyphos verbannten, nachdem er ihnen ins Gesicht gelacht und sich über ihre Ordnungsversuche in der Welt lustig gemacht hatte.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Aber jeder weiß, daß die­ser Mann seit­her Tag für Tag einen schwe­ren Stein zu wäl­zen hat, den Hang hin­auf, und daß es ihm nie gelingt, trotz aller Schin­de­rei, die­sen Stein dort oben abzu­le­gen. Jedes­mal reicht die Kraft nicht aus, ums Ver­re­cken reicht sie nicht für die letz­ten paar Meter, und der Stein gerät ins Rut­schen und pol­tert den Abhang wie­der hinunter.

Dem Sisy­phos bleibt auch am nächs­ten Tag nichts ande­res übrig, als sich erneut hin­ter sei­ne Last zu stemmen.

Die­se täg­lich ver­geb­li­che Arbeit, von den Göt­tern als Stra­fe ver­hängt, ist zum Sinn­bild gewor­den für vie­les, was der Mensch trei­ben muß. Fast jeder durch­lebt das Wäl­zen gan­ze Jah­re lang, die meis­ten leis­tens, ohne daß sie einen Begriff vom Mythos hät­ten – sie erzäh­len die Geschich­te vom Sisy­phos ohne zu spre­chen nach und könn­ten sie nicht benennen.

Ist das Benen­nen­kön­nen eine Erleich­te­rung? Wie lebt es sich, wenn das Absur­de sich zeigt, plötz­lich aus­ge­spro­chen, so, als kratz­te man eine Schei­be vom Eis frei? Leben gera­de wir hier nicht Jahr für Jahr kopf­schüt­telnd, zutiefst empört, weil wir wis­sen, wie das heißt? Und wäl­zen wir nicht trotz­dem täg­lich unse­ren Stein, zurecht­kom­mend, bienenfleißig?

Die Fra­ge lau­tet: Kann man wäl­zen, ohne damit zurechtzukommen?

Albert Camus leg­te 1942 sein heu­te bekann­tes­tes Buch vor, die Schrift Der Mythos des Sisy­phos. Er beschäf­tig­te sich dar­in mit der jäh durch­schie­ßen­den oder schlei­chend ein­träu­feln­den Erkennt­nis, daß wir den Stein wälz­ten, obwohl wir nicht mehr wüß­ten, wozu es gut sei – dabei ahnend, daß sich in unse­rem Leben an die­ser Grund­kon­stel­la­ti­on kaum mehr etwas wer­de ändern lassen.

Trost und Zuver­sicht konn­te für Camus ein Gott nicht spen­den, denn er glaub­te nicht. Er wuß­te bloß vom Tod als der einen ganz gewis­sen Gewiß­heit. Und so such­te er den Aus­weg im Men­schen selbst, in einem Per­spek­tiv­wech­sel, einer Ver­hal­tens­än­de­rung, einer Selbst­ret­tung jener Art, bei der man sich an den eige­nen Haa­ren aus dem Sumpf zieht.

Die­se Selbst­ret­tung dür­fe, so Camus, kei­nes­falls aus betäu­ben­der Betrieb­sam­keit bestehen. Recht hat er: Es gibt (und wir ken­nen!) For­men sys­te­mi­scher Zuver­sicht, die schlim­mer als Ver­zweif­lungs­or­gi­en sind: schlau und so glatt, pro­fes­sio­nell und taxie­rend, oppo­si­tio­nell betei­ligt am Fal­schen, aus­blen­dend zufrie­den – mün­dend in Verbrämung.

Was aber sonst, wie könn­te es gehen? Camus riet zu einem Drei­schritt: Erken­ne die Lage, in dir den Sisy­phos, im Lebens­voll­zug den Stein; nimm die Lage an, als unaus­weich­li­ches Schick­sal; revol­tie­re in ihr gegen sie, denn aus der Erkennt­nis und der Unaus­weich­lich­keit erwach­se die Frei­heit dazu, sie mache den Stein zur Auf­ga­be. Und so steht der Vor­schlag im Raum, daß wir uns Sisy­phos als glück­li­chen Men­schen den­ken soll­ten, denn er mache den Stein zu etwas ihm Zuge­hö­ri­ges, ohne das er nicht sei, wer er sei.

Was für ein Auf­wand, um aus der Käl­te wie­der in die Wär­me zu gelan­gen! Und über­haupt: Soll also Glück jetzt unse­re Kate­go­rie sein? Im Zara­thus­tra schreibt Nietzsche:

Trach­te ich denn nach Glü­cke? Ich trach­te nach mei­nem Werke!,

und das ist ein ganz ande­rer Weg­wei­ser, einer, der den kal­ten Stil vor­be­rei­tet, die Win­ter­wan­der­schaft, dem Rau­che gleich, und so wei­ter, ein Weg­wei­ser jeden­falls, der uns ange­mes­sen zu sein scheint. Bloß: Was das Werk sei, das dem Glück vor­ge­zo­ge­ne Werk, das müß­te doch ein­mal aus­ge­führt wer­den. Aber ver­mut­lich führt so etwas das Leben aus, und mit Zah­len auf Kon­ten und ande­ren Quan­ti­tä­ten mag es sehr wenig zu tun haben.

Es gibt in Ernst Jün­gers Erin­ne­run­gen an den Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs jene Sze­ne, in der er, zusam­men mit einem Dach­de­cker auf dem Gie­bel sit­zend, die Ankunft des Post­bo­ten erlebt, der die Mobil­ma­chung ausruft.

Der Dach­decker hat­te gera­de sei­nen Ham­mer erho­ben, um einen Schlag zu tun. Nun hielt er mit­ten in der Bewe­gung inne und leg­te ihn ganz sacht wie­der hin. In die­sem Augen­blick trat ein ande­rer Kalen­der bei ihm in Gültigkeit.

Es muß an der Lek­tü­re­ge­stimmt­heit gele­gen haben, war­um sich das Bild vom nicht mehr aus­ge­führ­ten Schlag tief ein­bren­nen konn­te, tie­fer sogar als man­che Sze­ne aus dem Krieg selbst, von denen Jün­ger etli­che zusammentrug.

Es liegt wohl an der jähen Öff­nung: Ein Wort kann die eine Uhr anhal­ten und die ande­re in Gang set­zen, ein Wort kann genü­gen, und der Ham­mer wird zu einem frem­den Gegen­stand, der Schlag – ein Vor­gang von der Dau­er einer hal­ben Sekun­de – zu einer absur­den Tätig­keit, zu einer Hand­lung, die sich nicht mehr ein­fü­gen und nicht mehr aus­füh­ren läßt.

So etwas kann eine gro­ße Erleich­te­rung sein, kann dem Grü­beln ein Ende set­zen. Wozu noch Dächer decken? Manch­mal ist es soweit, dann läßt Sisy­phos den Stein links lie­gen oder zer­schlägt ihn oder tritt ihn zu Tale. Das ist unser Thema.

– – –

Von Götz Kubit­schk erschien zuletzt: Hin und wie­der zurückhier ein­se­hen und bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (34)

Volksdeutscher

20. Februar 2023 23:23

"Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!"
Sisyphos hatte keine andere Wahl, er mußte den Stein wälzen. Das war die Strafe der Götter und er bejahte sein Schicksal. Aber keiner von uns ist ein Sisyphos, der Götter herausfordern könnte, nirgends auch nur einer der Götter zu sehen. Uns bleibt nur der Weg der freiwilligen Nachahmung als die einzige Möglichkeit, Sisyphos zu folgen und im Sinne des imitatio Christi  - nunmehr die imitatio Sisyphi zu betreiben. Das gelingt ganz gut vornehmlich den im ästhetischen Bereich Tätigen, allen voran jenem 95 Prozent von ihnen, das nicht von seiner Arbeit lebt und leben kann und trotzdem mit jedem Tag von vorne beginnt, den Stein zu wälzen. Und wenn das Volk ihn fragt "macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß", antwortet der Ästhet mit kalter Gelassenheit "nein, sie macht mir Arbeit". Ganz im Sinne Nietzsches.

frdnkndr

20. Februar 2023 23:51

Guter Text - für mich eine gelungene Weiterführung des vor ein paar Monaten ebenfalls hier veröffentlichten Beitrags von Fr. Sommerfeld über 'Abschiedlichkeit'.
Das Fragen, für welche Option Sisyphos sich entscheidet und freilich erst recht, was er danach beginnt, erscheinen mir mindestens für all diejenigen, denen das momentane Leben mit dem 'zweiten Gesicht' zunehmends unerträglich wird, in geradezu existenzieller Weise dringlich zu sein.
 

Ein Fremder aus Elea

21. Februar 2023 07:29

"wir den Stein wälzten, obwohl wir nicht mehr wüßten, wozu es gut sei – dabei ahnend, daß sich in unserem Leben an dieser Grundkonstellation kaum mehr etwas werde ändern lassen."

Naja, was ist denn die Ordnung der Götter? Die einzelnen Götter im Polytheismus stehen für Haltungen, in welchen die verschiedenen Arbeiten auszuführen sind. Sich über diese Ordnung lustig zu machen, heißt, den Halt dieser Haltungen bei der Ausführung der eigenen Arbeit zu verlieren. Der Mythos ist erklärt schlicht die Bedeutung der Götter. Und sicher, Nietzsche hat dieses Denken wiederbelebt, am schönsten im Anderen Tanzlied. Ist aber völlig anachronistisch, zum Beispiel im Krieg: Waffen fernzusteuern hat mit der Haltung eines Ares halt nichts mehr zu tun. Das war übrigens bereits 34 A.D. ein Problem: Der Verfall der Daimonen...

Ein Fremder aus Elea

21. Februar 2023 07:44

"Manchmal ist es soweit, dann läßt Sisyphos den Stein links liegen oder zerschlägt ihn oder tritt ihn zu Tale. Das ist unser Thema."

Ja, einmal im Jahr Karneval, alle neun Jahre Blut, alle zwölf Jahre Kumbh Mela, das ist auch eine typische Erscheinung im Polytheismus, man könnte noch die Olympiaden nennen, oder die Dionysien oder schintoistische Prozessionen oder tibetische Dämonentänze, übrigens sehr schön eingefangen von Ernst Schäfer damals.

Mitleser2

21. Februar 2023 09:07

"Manchmal ist es soweit, dann läßt Sisyphos den Stein links liegen oder zerschlägt ihn oder tritt ihn zu Tale. Das ist unser Thema."
Man helfe mir. Was will GK für die heutige Situation damit ausdrücken? 
 

Volksdeutscher

21. Februar 2023 09:13

@Ein Fremder aus Elea"Ist aber völlig anachronistisch, zum Beispiel im Krieg: Waffen fernzusteuern hat mit der Haltung eines Ares halt nichts mehr zu tun."
Sollten Pfeil und Speer wirklich nicht die Vorfahren unserer modernen Raketen in technischem Sinne sein? Wäre die Haltung der einzige Weg zur Deutung? Am Grundcharakteristikum des Krieges hat sich seit Urzeiten nichts geändert, d.i. die physische Vernichtung des Feindes. In welcher Haltung dies geschieht ist eine andere Frage.

Adler und Drache

21. Februar 2023 10:05

Synoptisch zur Anabasis des Sisyphos sei auf die Anabasis des Jesus verwiesen: Nach einer Zeit des Sicheinstimmens, von der wir nicht wissen, wie lange sie genau währte, unternahm er den letzten, entscheidenden Gang nach Jerusalem, um dort ein königliches Werk zu verrichten - wohl wissend, dass er damit scheitern würde. Und tat es dennoch. Unserem Effizienzdenken ist das nicht zu vermitteln, das kann man sich nur meditierend erschließen. 
Warum etwas tun, wenn man weiß, dass es umsonst ist?
Offensichtlich begegnet man hier einem anderen Denken, das nicht in erster Linie nach Erfolg oder Misserfolg eines Werks fragt, sondern danach, ob es getan wird oder nicht. Leben und Werk, verbunden im Lebenswerk: Es ist die Bestimmung des Einen, den Stein zu wälzen, und die des Anderen, die Mächtigen herauszufordern. Es nicht zu tun, weil "es nichts bringt", wäre Verfehlung des Lebens gewesen.  

-- -- --

Endlich aber, nachdem er den Stein vor die Höhle gewälzt hatte, darinnen der verstorbene Herr lag, überkam Sisyphos ein drei Tage währender, traumloser Schlaf ...

Laurenz

21. Februar 2023 10:34

@Volksdeutscher (& Ein Fremder aus Elea)
Aber keiner von uns ist ein Sisyphos, der Götter herausfordern könnte, nirgends auch nur einer der Götter zu sehen.
Bin GK sehr dankbar, eine wesentlich realere Weltsicht des Heidentums auf uns zu werfen. Die ist, wie im Artikel auch beschrieben, einerseits spirituell, geleichzeitig immer auch physisch. Diese Themenwahl passiert auf der SiN selten genug. Ich bezeichne Götter lieber mit einem mehr modernen Begriff & zwar als kosmische Energien. Entscheidend ist der Status, ist man sterblich oder nicht. Natürlich kann man als Sterblicher gegen die Götter antreten, denn man hat etwas zum Einsatz, was Götter nicht haben, das eigene Leben. Natürlich können auch Götter sterben, aber so einfach ist das für diese nicht. Sisyphos ist ein sterblicher König, der mit einer Plejade verheiratet ist, einem bereits kosmischen Wesen. Die Strafe der Götter entzieht ihn sogar der Sterblichkeit, was die eigentliche Absicht des Sisyphos war. Im Prinzip gewann er den Kampf.

Laurenz

21. Februar 2023 11:00

@Ein Fremder aus Elea
Waffen fernzusteuern hat mit der Haltung eines Ares halt nichts mehr zu tun.
Das kann man so nicht stehen lassen. Schon im Trojanischen Krieg sind Götter dabei, Waffen fernzusteuern. C.S. Forester war ein Autor, der als Segler selbst die eigenene Kämpfe gegen die Götter (Naturgewalten) in seinem Anti-Helden Hornblower unsterblich machte. Im Buch Hornblower wird Kommandant bezieht Er sich mit der Luv-Position der Atropos auf einen mythlogischen unsichtbaren Schild gegen die überlegene spanische Castilla in Lee. Im Buch Lord Hornblower beschreibt Forester, in einer Übersetzung auf allerhöchstem literarischem Niveau, wie seine Brigg im Sturm gegen die Französische Küste zu Luv kreuzt & welches hochjauchenzende Gefühl es ist, wie Prometheus (ein Titan), der den Göttern das Feuer stahl (um es den Menschen zu geben), als Sterblicher mit der Kraft der Götter selbst, dem Wind, gegen die Götter siegreich anzutreten.

Franz Bettinger

21. Februar 2023 11:17

Sisyphos verspottet die Götter, indem er jedem Tag aufs Neue einen Sinn gibt und den Stein wälzt. Im Nicht Aufgeben liegt sein Spott. Wie Ameisen, denen ein böser Bube jeden Tag die Burg zertritt, fangen die Guten von vorne an. Was sonst auch sollten sie tun? Absurd? Nein. Die Alternative wäre ja: der Tod. Am Ende bringen wir den Bösen dazu, verrückt zu werden oder aufzugeben. Schön, nicht wahr?! 
Die Götter der griechischen Mythologie sind mMn eifersüchtig auf den Menschen und ihm feindlich gesinnt. (Sind sie das nicht immer, auch in vielen anderen Religionen? Siehe Babel.) Die Menschen huldigen diesen Mächtigen aus Zwang und Angst heraus. Nur deshalb. Nicht aus Bewunderung oder aus Dankbarkeit. Dabkbarkeit wofür? 
Nicht die Götter, sondern ein Titan erschuf (der Gr. Mythologie zufolge) den Menschen. Prometheus  wurde (was untypisch ist für die Olympier) nach seiner Befreiung durch Herkules von denen oben begnadigt. Wo ist dieser Menschen-Schöpfer und Titan heute?  (In uns?) 

Hesperiolus

21. Februar 2023 11:51

Zu jener dekonstruktiven Werkzeugniederlegung erinnere ich mich bei Jünger, ausgerechnet im Abenteuerlichen Herzen zweiter Fassung, als vielleicht merkwürdig fassungsepistemischen Widerpart, nun des (nachbildhaften) Hervortretens des „schwarzen Sparrengerüstes“ der Welt, vom  βάναυσος  zum  φιλόσοφος , an die exzentrische Position, die „einen Grad des Erstaunens“ ermöglicht, „der die Furcht verdrängt“ und auf „eine tiefere Wirklichkeit als die des Sieges“ verweist. Und grade  ultima Bachanaliorum die bemerkt , die Ekstasis aus dem „Dienst“ („preußisch gesprochen“) einer methodischen Narrheit („die Welt ein riesiges Narrenhaus“).

Simplicius Teutsch

21. Februar 2023 11:59

Bei mir hat sich das Dilemma von Sisyphos endloser Stein-Wälzerei mit einem etwas abgewandelten Bild im Kopf verfestigt, nämlich:
Sisyphos schafft es zwar den schweren Stein unter größtem Einsatz den Berg hinaufzurollen, aber oben ist der Bergesgrat so spitz und schmal, dass der Stein aufgrund der Erdanziehungskraft nicht zu halten ist, entgleitet und auf der anderen (!) Seite wieder hinunterrollt bzw. aus deutscher Sicht: hinunterkracht! Weil wir Deutsche uns oft die höchsten und steilsten Grate als Ziel aussuchen.

RMH

21. Februar 2023 12:16

"Am Grundcharakteristikum des Krieges hat sich seit Urzeiten nichts geändert, d.i. die physische Vernichtung des Feindes."
@ V.D.,
Das ist er nur, wenn man in den biblischen Kategegorien des Bannes lebt oder denkt - und auch dort wurde der Bann ganz offenbar als Novum erzählt und nicht als historische Konstante. Ansonsten war der Grundcharakter des Krieges das Gewinnen von Machte, Beute, Herrschaft und wer sicht widersetzt, der wurde eben erschlagen - wenn sich ein Feind unterwarf, wurde er nicht vernichtet. Selbst beim beliebten Brettspiel "Risiko" wurden die Auftragskarten von vom "Vernichten Sie ..." auf "Befreien Sie ..." umgestellt. Diese Art von Auftragskarten werden seitdem überall in den Medien im Falle von Kriegen vorgelesen, so auch von Radio Moskau "wir befreien die Ukraine von Nazis" etc.

RMH

21. Februar 2023 12:21

"Man helfe mir. Was will GK für die heutige Situation damit ausdrücken?"
@Mitleser2,
ich interpretiere das deutlich weniger metaphysisch und philosophisch als die meisten bisherigen Debattenbeiträge. Ich sehe dies als Aufforderung aus dem Hamsterrad ab und einmal auszusteigen und konkret zu handeln. Die Zeit für Aktionen für das Handeln ist da oder soll zumindest vorbereitet werden. So lese ich das, aber es ist eben nur meine Interpertation, G.K. wird sich schon etwas dabei gedacht haben, es so zu schreiben, wie er es geschrieben hat.

Adler und Drache

21. Februar 2023 12:24

@Franz Bettinger: Wo ist dieser Menschen-Schöpfer und Titan heute? 
An Titanischem, auch schöpferischen Wollen ist die moderne Zeit überreich. Man könnte es fast synonym bezeichnen: modernes Zeitalter - titanisches Zeitalter. Wobei ... Gerade jetzt will es ja scheinen, als zerstörten die Titanen, was sie vorher aufgebaut haben. 
Mir scheint, es fehlt doch viel eher der Geist, der zumisst, begrenzt, veredelt, erhebt, nicht nur bewahrt, sondern auf ein Ziel hinführt und verewigt. Vielleicht zerstören die Titanen deshalb, weil sie wissen, dass sie den Geist nicht erzeugen können? 

Adler und Drache

21. Februar 2023 12:36

@Mitleser 2: Man helfe mir. Was will GK für die heutige Situation damit ausdrücken? 
Die Figur des Sisyphos hat, aus unserer Perspektive gelesen, etwas zumindest Doppeldeutiges. Zum einen ist er einer, der trotz aller Widrigkeiten den Stein - seinen Stein - den Berghang hinaufschiebt. Es gehört schon eine ordentliche Portion Mut und Selbstüberwindung dazu, daran nicht zu verzweifeln, sondern die Aufgabe immer wieder anzupacken. Zum andern ist er einer, der den Hammer einfach nicht aus der Hand legen kann, der aus den Routinen nicht aussteigen kann, sondern weiter wie blöde sein Dach deckt, als wäre in der Statik des Weltgehäuses nicht etwas Tragendes zerbrochen, sodass es nun schwankt und der Fußboden unter einem einzustürzen droht. Beides kann man in Sisyphos sehen, beide Typen kann man in den heutigen Verhältnissen sehen.  
Welcher Typ sind Sie? 

Ein Fremder aus Elea

21. Februar 2023 12:49

Volksdeutscher,

zum Teil stehen die Götter für die Gesetzmäßigkeiten der Natur, etwa die Bahnen, auf welchen sich die Planeten bewegen, aber wenn man sich fragt, was die Gesetzmäßigkeit ist, welche die Handlungen der Menschen bestimmt, so kommt man eben auf die Haltung. Platon argumentiert, daß sich Planeten auf Kreisbahnen bewegen, weil der Kreis am ordentlichsten sei und damit den Seelen der Götter am angemessensten, und wiederum: Was ist es, das (dem beweglichen Abbild) der Seele eines Menschen Ordnung gibt? Seine Haltung.

Deshalb auch der Hinweis, daß im Goldenen Zeitalter die Daimonen regiert hätten: Jedem Menschen war das Gesetz seines Daimons eingeschrieben, des ersteren Haltung stand direkt unter der Kontrolle des letzteren, eines jeden (urbildliche) Seele gab ihm jederzeit seine Haltung vor.

Das ist die klassische Sicht, ob es irgendjemand noch anders deuten könnte, kann ich natürlich nicht sagen. Wie auch immer, heute können sie die Menschen nicht mehr in diese Formen gießen, das ging schon zu Christi Lebzeiten nicht mehr.

Volksdeutscher

21. Februar 2023 12:59

@Laurenz - "Ich bezeichne Götter lieber mit einem mehr modernen Begriff & zwar als kosmische Energien."
Wenn Sie das tun, entmythologisieren Sie den Mythos, Sie entziehen ihm die zur Wirkung nötige ästhetisch-imaginative Grundlage durch die begriffliche Abstraktion. Die bildhafte Anschaulichkeit ist eine wichtige Komponente der Identifikation mit der dargestellten Geschichte. Das ist auch bei den Juden nicht anders: sie kennen aufgrund des bei ihnen geltenden Bilderverbotes zwar keine Bildästhetik. Aber wenn Sie Texte des Alten Testaments in die Hand nehmen, werden Sie eine immense Bildhaftigkeit in den Formulierungen entdecken.

Frieda Helbig

21. Februar 2023 13:22

Ich werfe ein: Es gibt viel zu viele, die nicht erkennen, daß sie Sisyphos sind. Und wenn sie es flächendeckend erkennen würden, würden sie den Stein zerschlagen oder ins Tal hinabstoßen? Denn dann bräche das inzwischen morsche System zusammen. 

Wuwwerboezer

21. Februar 2023 13:25

I
Rudolf Bahros Abrechnung mit Günter Kunert in der "Forum" (1966) unter dem Titel "Wozu wir diesen Dichter brauchen":
"Wenn schon Mythos, dann Prometheus und nicht Sisyphos. ... Was ganz gewiß nicht hilft, sind kulturkritische Lamentationen. Kunert nimmt den Kampf auf dem historisch neuen, höheren Niveau erst gar nicht auf, wenn er mit den von den bürgerlichen Ideologen aus ihrem Weltzustand abgeleiteten (???, - W.) Klischees und Mythen (???, - W.) unsere Arena betritt." Forum, 12 (1966), Seite 17
Historisch auf ein Spezialgebiet einzugrenzen, machtpolitisch instrumentell gemeint sowie in der Formulierung mißglückt - und doch zeitlos für alle, die das Elite-Sklave-System zurückweisen, kein "Neues Finsteres Zeitalter" fördern wollen - vielmehr am emanzipatorischen (prometheischen) Selbstverständnis dranbleiben. Bahro hat anders als Kubitschek einen Freiheitsvortex erfaßt, der besonders eindrucksvoll in der Schiller-Strömung durchgebrochen war. Auf die Wiederbelebung dieser Strömung durch die Deutschen wartet die ganze nicht dem oligarchischen Prinzip folgende heutige Welt. Bitter! Was hätten sich Friedrich Schiller und Ernst Jünger zu sagen - wohl nicht sehr viel.

Wuwwerboezer

21. Februar 2023 13:26

II
Die Erzählung von Sisyphos ist mit dem Steinerollen übrigens nicht zu Ende. Er schart sich später bei Orpheus` (Liebes-)Tartarosfahrt (welche in gewisser Weise die Höllenfahrt Christi antezipiert) gemeinsam mit Tantalus und den Danaiden um Orpheus, während sogar den Eumeniden das Herz weich wird.
- W.

frdnkndr

21. Februar 2023 15:02

Ich glaube nicht, dass ausgerechnet Sisyphos nun zum Akzelerationisten wird; den Stein links liegen lassen und somit 'dem System verloren' gehen erscheint mir wahrscheinlicher.
So weit, so gut - die Tribalisierung der Gesellschaft wird seit Langem vorhergesagt, genauso wie die Brasilianisierung des Landes.
Eine erstrebenswerte, lebenswerte Zukunft vermag ich darin allerdings nicht zu erkennen, zumal ich es für mehr als fraglich halte, ob die schon länger hier Lebenden überhaupt noch zu einem selbst rudimentären Zusammenhalt in der Lage sind. 
Was bleibt?

Nitschewo

21. Februar 2023 15:57

Was für ein großartiger Text, aber was ist mit dem Apfelbäumchen?

Laurenz

21. Februar 2023 16:55

@Franz Bettinger & RMH
Viele hier, auch die Redaktion, haben bei dem Blick auf Sisyphos Schwierigkeiten mit der eigenen orientalischen Sozialisierung. In der schamanistischen Weltsicht ist die hellenistische Beschreibung der Götterwelt teils schon vermenschlicht degeneriert. Die Götter der griechischen Mythologie sind den Menschen feindlich gesinnt. Nein, eben nicht. Der hungrige Löwe ist dem Zebra feindlich, aber nicht feindlich gesinnt. In der Natur existiert keine Moral, kein gut oder schlecht, es existiert nur soziale Bindung, wie Kosten-/Nutzenrechnung. Die Götter tun einfach das, was sie wollen, abseits jeglicher Bewertung. Deswegen existieren auch keine Strafen, nur Verantwortung & Konsequenzen. Bei @RMHs Beitrag habe ich mich gewundert. Im Gegensatz zu religiösen Wundergeschichten, existiert im Heidentum bei aller Spiritualität immer eine reale Paralelle. Das weiß RMH eigentlich. ZB unser Plejadenmythos ist das Märchen, der Wolf & die 7 Geislein. Es stellt exakt den kosmischen Vorgang dar, verpackt in ein spirituelles Bild von Wahrnehmung.

Laurenz

21. Februar 2023 17:07

@Volksdeutscher L.
Wie im Schintoismus, war im Heidentum ursprünglich alles beseelt. Daher existieren in dieser Weltanschauung organische & anorganische Wesenheiten. Militante Veganer haben heute schon Schwierigkeiten Pflanzen als organische Wesenheiten wahrzunehmen, deren Lebenswillen mindestens genauso intensiv ist, wie der von faunischen Wesenheiten. Die Mythologie beschreibt im Gegensatz zu Wundern immer die spirituelle Wahrnehmung von realen Ereignissen des Erzählers oder Autoren, nicht mehr und nicht weniger. Die Midgard-Schlange ist die Eisgrenze von England bis Kiew. Wenn sie sich bewegte verbreitete sie Furcht & Erschrecken der Menschen auf dem Helweg. Nachvollziehbar, nicht? Der Skalde, der die Eisgrenze in der EDDA beschrieb, nahm sie eben als beseelte Schlange wahr.

Zauberer von Oz

21. Februar 2023 18:14

Sind wir nicht alle Sisyphos? Ob ich als Lehrer den ewig gleichen Lernstoff neuen Schülern beibringe, als Maurermeister ewig neue Mauern baue, oder als Gärtner den Rasen auf ewig neu mähe? Sinnstiftend ist jede Arbeit (auch Laub im Herbste fegend). Der deutsche Sisyphos macht(e) es eben etwas gründlicher, der protestantische Arbeitsethos "zwingt" einen zur Dienststelle. Ich empfinde das als befreiend, denn die Arbeit muss ja gemacht werden. Ab und zu kann man aus dem Hamsterrad hüpfen, sich des Hamsterrades bewusst machen und dann zur rechten Zeit wieder hineinhüpfen.

Mboko Lumumbe

21. Februar 2023 18:33

@ GKVielen Dank für Ihre Gedanken und Anregungen, dafür wieder double Thumps-up und fettes Love-Like.@ Mitleser2Im Text ist Nietzsche aus Zarathustra zitiert, vielleicht finden Sie dort Ihre eigene Antwort oder Anregungen dazu.
Jeder Leser macht sich seine eigenen Gedanken und auch ich habe meine eigene Antwort darauf und hör dazu:
Metal Church - Watch the children pray
We hold our fate and make the choiceBut we'll not listen to that still small voiceAre we just crazy, out of our mindsWish this were someplace, another timeWe watch the children praySave us, God todayCome whatever mayAnd I know we're goingSo far away from this wretched life we leadWith open arms meet catastropheIn the valley of the damned we'll be

Der_Juergen

21. Februar 2023 19:11

Eindrücklicher Text von Kubitschek; ich erhielt heute das neue Heft und habe diesen Aufsatz als ersten gelesen. Natürlich habe ich mir noch nicht alles zu Gemüte führen können, doch fest steht, dass auch diese Ausgabe der Sezession sich auf höchstem Niveau bewegt und allen Autoren Dank dafür gebührt.
@Adler und Drache
Nachdem mir Ihre Kommentare auf einem der letzten Stränge, es ging um die Hintergrundmächte, sprich die Freimaurerei, nicht so gut gefallen haben, empfinde ich die vorliegenden als sehr tiefsinnig. Auch diejenige des @Fremden aus Elea.

Flaneur

21. Februar 2023 20:03

Ein sprachlich schöner Artikel zum großen Thema Leben im Falschen und dennoch sich selbst und den eigenen Überzeugungen treu bleiben. Sprachlich sind Kubitscheks Artikel immer ein großer Genuss, der Mann kann schreiben. Das ist heute selten, Hochachtung. 
Vom politischen und sozio-kulturellen Gegner wird ein derartiger Artikel freilich immer als Versuch interpretiert werden, das von Selbstzweifeln und Frustration geplagte oppositionelle Lager bei der Stange zu halten, als Aufsummierung von Durchhalteparolen und damit als Zeichen von Schwäche.
Insofern ist meine Haltung zu diesem Artikel ambivalent. 

Franz Bettinger

21. Februar 2023 21:46

@frdn: „Man muss die Führung erledigen, dann hat man ein Volk erledigt“. Das könnte die Losung der Elitioten sein. Und leider scheinen sie recht zu haben. Unsere Führung ist verrottet, gekauft und verdorben vom Feind. Die Sklaven hatten (73 vor 0) Spartakus. Selbst die 1789-er hatten Führer. Ohne Führer kein revolvere; ohne Führer bewegt sich nichts. Auf das Volk zu hoffen? Das Volk als Masse hat noch nie was aus sich heraus bewegt. Wie auch? 

Martin Heinrich

21. Februar 2023 23:20

Sisyphos sollte den Stein nicht links sondern rechts liegen lassen und auf ihm sitzend ein gutes Frühstück einnehmen. Die Götter wären völlig ratlos ...

Eo

21. Februar 2023 23:43

 
@ Adler und Drache 21. Februar 2023 12:24
An Titanischem, auch schöpferischen Wollen ist die moderne Zeit überreich. Man könnte es fast synonym bezeichnen: modernes Zeitalter - titanisches Zeitalter. Wobei ... Gerade jetzt will es ja scheinen, als zerstörten die Titanen, was sie vorher aufgebaut haben. 
...........
Das Problem mit den Titanen, wiewohl auch das Problem solch übermächtiger Kreaturen, ist, daß sie keinen 'Sensor' für das Ganze haben, welches erst in Harmonie zur vollen Entfaltung kommt. Denn sie sind in ihrem Kern exzentrisch und denken von daher stets an sich und von sich aus, indem sie sich selbst zum Dreh- und Angelpunkt machen wollen und also dazu neigen, ihre Sicht und ihre Macht zu verabsolutieren.
Das scheint dann auch der Grund zu sein, weswegen die Titanen von den Göttern so massiv bekämpft werden, da sie, ungebärdig und zügellos wie sie sind, letztlich jede gut eingependelte und eingespielte Ordnung angreifen und zu Fall bringen.
Dieser Zug ins Exzentrischeist übrigens auch bei den Parasiten vorzufinden, die allerdings im Gegensatz zu den Titanen einen längeren Vorlauf brauchen, da sie sich aus niederen Strukturen heraus entwickeln.

RMH

22. Februar 2023 07:08

"den Stein links liegen lassen und somit 'dem System verloren' gehen erscheint mir wahrscheinlicher."
@frdnkndr
Gibt keine Rückzugsmöglichkeiten, selbst das Schneckenhaus, in welches man sich sprichwörtlich zurückzieht, wird besteuert, braucht teure Energie.
Das System packt jeden langsam und zart am Wickel, damit es bei Bedarf ordentlich kneifen kann. Aktuell werden Reisen & Urlaube, aller Inflationsraten zum Trotz, ohne Einschränkungen gebucht. Immerhin, hier herrscht im Reich der Ameisen noch Normalität. Ende Januar hat die Urlaubsplanung in den Firmen erledigt zu sein, die Mutti hat die Reise gebucht & irgendwie ist es ja schon immer jut gegangen (nach Corona hat man es sich "verdient"). Auch eine Variante von Sisyphos: Der Alternativ-Politiker hat diesesmal, Lenin folgend, genügend Bahnsteig-Karten in der Hand, aber bevor es zum Sturme kommt, gibts wieder irgendein 49,99 Euro Ticket und alle im Hamsterrad haben für eine Zehntelsekunde wieder ein Lächeln und hoffen darauf, dass die Pumpe den Dienst so einstellt, dass sie die Transition vom Bejahend-Schaffenden zum in der Öko-Urne ein Plätzchen im Friedwald Belegenden möglichst schmerz- und ankündigungsfrei hinbekommen. Brave New World.

Niekisch

22. Februar 2023 10:42

Wir wissen um die Lage, wir erahnen das Werk. Saß auch Stefan George auf dem First?

Dies Leid und diese Last

Dies Leid und diese Last: zu bannen,
was nah erst war und mein.
Vergebliches die Arme Spannen
nach dem, was nur mehr Schein.
 
Dies heilungslose sich Betäuben
mit eitlem Nein und Kein.
Dies unbegründete sich Sträuben.
Dies Unabwendbar -  sein.
 
Beklemmendes Gefühl der Schwere,
auf müd geword´ner Pein:
dann dieses dumpfe Weh der Leere.
O dies: mit mir allein!

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