So viel Krise war nie. Besser: So viel wahrnehmbare Krise war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie.
Gewiß: Krisen als Sondersituationen, die einen »Bruch der gewöhnlichen Routine sowohl auf individueller wie auch auf systemischer Ebene« (Sebastian Klauke) bewirken, gibt es seit jeher auch in der BRD; ob wirtschaftliche Rezession 1966, Ölkrise 1973 oder die Folgekrisen auf die Wiedervereinigung bis zur Konsolidierungskrise 1993.
Neu ist einerseits die Verkürzung der Abstände zwischen ebensolchen und andererseits die Intensität, mit der sich Krisen entfalten und in größeren Teilen der Gesellschaft bemerkbar machen.
Spätestens seit 2007, dem Ausbruch der Weltfinanzkrise, ist »Krise« Programm. 2010 folgte ein Höhepunkt der Finanzkrise in der Eurozone, 2015 führte die fehlende Schließung der Grenzen zu einer Migrationskrise neuen Typs, 2020 begann die Coronakrise, 2022 eskalierte erst die Ukraine‑, dann die Energie- und Versorgungskrise, garniert mit einer für die BRD-Historie beispiellosen Inflationskrise. Keine der genannten Krisen ist gelöst, jede dieser Krisen wirkt heute und künftig fort, wenngleich in unterschiedlicher Wirkungsstärke.
Viele dieser Krisen wurzeln in politischen und wirtschaftlichen Prozessen, die Jahrzehnte zurückliegen. Bereits in den 1970er Jahren, so diagnostiziert es der deutsche Politikwissenschaftler Joshua Wullweber, sei
ein Nährboden entstanden, der die Wahrscheinlichkeit von Krisen mit globalem Ausmaß stark erhöhte.
Darauf aufbauend, ergänzt Adam Tooze, sei ein »dynamisches Kräfteparallelogramm« entstanden, »das eine Deeskalation schwer, wenn nicht gar unvorstellbar macht«. Der Wirtschaftshistoriker mahnt: Was wir bisher erlebt haben, das war erst der Anfang.« Tooze ist nicht der einzige mit düsteren Vorahnungen. Der 2012 verstorbene Wertkritiker Robert Kurz sprach schon früh von einer »heranreifenden Metakrise«, und er konstatierte zehn Jahre vor Wullweber, daß niemand ahnen könne, »wo morgen oder übermorgen das Feuer unterm Dach auflodern wird«. Dagegen würden alle
wissen, daß die Brandherde überall lauern und anscheinend auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sind.
Eben dies macht die Sondersituation seit 2022 aus: die explizite Verbindung zwischen unterschiedlichen Krisenkomplexen. Einzelne Krisen, die isoliert voneinander potentiell lösbar wären, spitzen sich zu, erzeugen neue Krisen (auch durch mangelhafte Versuche, sie zu lösen), die sich wiederum verdichten; sie laufen zusammen, sie konvergieren.
Diese Krisenbündelung ist in der jüngeren Geschichte einzigartig. Denn die Krise als Ereignis ist gewöhnlich temporären Charakters. Das heute im Alltagsverstand als Bezeichnung für harte und besonders stressige Zeiten gängige Wort leitet sich ab von der griechischen krísis, was je nach Kontext Unterscheidung, Urteil oder Entscheidung bedeutete; die lateinischen Wurzeln von crisis beschreiben ganz ähnlich den Höhe- und Wendepunkt einer Situation, im Regelfall einer Krankheit.
Daß heute »die Krise« nicht mehr eine kurze Phase mit Richtungsentscheidungen beschreibt, sondern einen fortwirkenden Zustand, liegt – erstens – an ihrem zusammenlaufenden Auftreten: In der Konvergenz der Krisen ist es schwer möglich, eine der Krisen zu »lösen«, ohne die anderen ebenfalls anzugehen: »Die neue Normalität zeichnet sich durch eine politische Governance der permanenten [!] Krise aus« (Wullweber).
Zweitens liegt die Möglichkeit einer solchen permanenten Krise – eigentlich ein Widerspruch in sich – in ihrer weltweiten Ausstrahlung. Wir sind im 21. Jahrhundert mit der »Tatsache des inneren Zusammenhangs aller Erscheinungen in der globalisierten Gesellschaft« konfrontiert, mit der »One World des Kapitals«, wie Kurz akzentuierte. Diese Eine Welt sorgt nicht nur für den reibungslosen Warenverkehr im globalen Maßstab und damit auch im Schnitt für eine globale Wohlstandsvermehrung, sondern seit Jahren auch für einen weltweit interdependenten Krisenzusammenhang mit stetig wachsendem Eskalationspotential.
Für das Zeitalter des digitalisierten und finanzialisierten Weltkapitalismus – der kein monolithischer Block ist, sondern nationale und kontinentale Spezifika aufweist – ist der neue Grad der Virtualität und Vernetzung, der gegenseitigen Abhängigkeiten, der Anfälligkeit und »Vulnerabilität« weltweiter Wertschöpfungsketten usf. kennzeichnend.
Eine solche hyperglobalisierte Konstellation nährt apokalyptische Deutungsmodelle von links wie von rechts. Robert Kurz, als Vertreter einer grundsätzlich operierenden intellektuellen Linken, witterte ungeahnte Schreckensentwicklungen, die in der »weltgesellschaftlichen Dimension« ebenso begründet lägen wie in der »ungeheuren Dynamik dieses Systems«, das in die Phase des »größten historischen Krisenzeitalters« übergegangen sei.
Guillaume Faye, als Vertreter einer grundsätzlich operierenden intellektuellen Rechten, folgte Kurz und überbot ihn sogar: Für den 2019 verstorbenen französischen Denker war das von Kurz angezeigte Krisenzeitalter bereits beendet; die Epoche der »Konvergenz der Katastrophen« habe begonnen. Auch Faye zielte auf das Zusammenwirken unterschiedlicher Problemstränge ab. »Zum ersten Mal in der Weltgeschichte«, prophezeite er, »könnte die Katastrophe globale Züge in einer globalisierten Welt« tragen. Auf den Konjunktiv verzichtete Faye alsbald:
Die katastrophalen Ereignisse, die eintreten, werden um einiges bedeutender sein als diejenigen, die das Ende des Römischen Reiches herbeiführten, weil sie die ganze Welt betreffen und sich viel schneller vollziehen werden.
Faye ließ keinen Zweifel an seiner Prognose: Wir leben kurz vor dem Einsetzen eines globalen Chaos. Fayes Thesen, die bisher stärker im anglo-amerikanischen und französischen Sprachraum zirkulieren als im deutschen, lohnen einer näheren Betrachtung, weil sie zum einen in diffusen und schwer überschaubaren Krisenzeiten neue Anhänger finden und weil man zum anderen anhand ihrer verdeutlichen kann, wo die politische Opposition gerade nicht »falsch abbiegen« sollte. Denn obschon Fayes Analysen einen Wahrheitskern aufweisen (er selbst bezeichnete seine Arbeit euphemistisch als »rational und beobachtend«), führen sie aufgrund ihrer Maßlosigkeit und ihres Determinismus, die diesen Kern überlagern, in die Irre.
Fayes Konzept basiert auf der Grundannahme, daß die Menschheit erstmals überhaupt von einer »Konvergenz der Katastrophen« heimgesucht werde. Er vermengt Krisen- und Katastrophenbegriff ohne jede Not, denn die Konvergenz der Katastrophen besteht für ihn unter anderem in der islamischen Zuwanderung und dem ethnischen Bürgerkrieg, in der Demographie, in der Weltfinanzkrise, in der Umwelt- und Klimakrise und in der nahenden Implosion der Europäischen Union.
Faye läßt bei seiner Prognose keine Alternativdeutung zu. Die EU, heißt es apodiktisch, »wird verschwinden«, der »unausweichliche Kollaps« stehe vor der Tür. Einzelne Katastrophen würden sich bündeln, was den breaking point hervorrufe. Der »globalisierte bürokratische Ultraliberalismus« könne dem Ansturm des Globalen Südens, der durch den Klimawandel und seine Folgen (Dürren, Wasserknappheit, Hitze- und Kältewellen usf.) eskaliert, nichts entgegensetzen. Eine »permanente Krise, die die Völker in Armut stürzt«, werde begleitet durch Bürger- und reguläre Kriege. Aus den Trümmern entstehe eine neue Welt: jene, die auf der Weltsicht des »Archäofuturismus« – ganz Altes und ganz Neues werden synthetisiert – beruhe und das Post-Katastrophen-Zeitalter mit stark reduzierter Weltbevölkerung einleite. Vorher aber erweist sich – als conditio sine qua non – für Faye eine Katastrophenkonvergenz als Zusammenlaufen von brutalen Eskalationen.
Diese Sichtweise ist, läßt man – wie Faye – nur sie als Erklärungsmodell zu, zweifellos zu deterministisch. Denn Faye geht in seinem in mehrere Sprachen übersetzten Schlüsseltext von inneren Gesetzmäßigkeiten aus, die das westliche System zum Einstürzen bringen werden. Der rationale Kern seiner Analyse besteht darin, daß Probleme und Widersprüche, die er anführt, tatsächlich bestehen: Massenzuwanderung und massive Überalterung, flächendeckende Ausblutung des Mittelstands und Vermögenskonzentration an der Spitze sowie die Veränderung der bisher bekannten Klimakonstellation sind real.
Indes: Das sind vorerst Krisen, keine Katastrophen. Als Katastrophe begreift man gewöhnlich einen plötzlichen, extern verursachten Bruch, der nicht erwartbar ist; man denkt an Naturereignisse wie Vulkanausbrüche, Erdbeben, eine Flut oder ähnliches. Katastrophe im Alltagsverstand heißt: Ein Ereignis ist nicht auf menschliches Handeln zurückzuführen – Krisen sind es in der Regel schon. Das Gros der heutigen Krisen in der Epoche der Krisenkonvergenz ist explizit menschengemacht und entspringt keinem plötzlichen, gewaltsamen Einbruch in die Realität, keiner sprunghaften Situationsveränderung, wie es für Katastrophen typisch ist.
Fayes Modell blendet nicht nur die zugrundeliegende Begriffsklärung aus, sondern steht pars pro toto für eine Tag-X-Mentalität, die Jahrzehnte vor ihm sein Landsmann Dominique Venner als entmutigend und lähmend denunzierte. Denn in einem solchen Modell ist kein eigener Handlungsspielraum vorgesehen. Man kann als einzelner und als Kollektiv nichts tun, der Niedergang des Bestehenden ist zwingend – es gilt zu warten, bis das »Unvermeidliche« eintritt.
Schließt man sich Fayes interessanter Gegenwartsanalyse und seiner alarmistisch-verstiegenen Zukunftsschau an, ist das Risiko groß, in einen zur Untätigkeit treibenden Fatalismus zu verfallen. Aus diesem Grund ist es besser, von einer »Konvergenz der Krisen« als von einer »Konvergenz der Katastrophen« auszugehen. Denn eine Krise ist, wie alle menschengemachte Geschichte: kontingent, ergebnisoffen. Im »Wesen der Krise« liege es, notierte Reinhart Koselleck, »daß eine Entscheidung fällig ist«, aber »offenbleibt, welche Entscheidung fällt«. Bei Faye und seinen Anhängern überwiegt indes die bleierne Sehnsucht nach Tabula rasa angesichts eines allumfassenden Ekels ob der herrschenden Verhältnisse.
Das heißt nicht, zu leugnen, daß eine real existierende Konvergenz der Krisen durch externe Schocks und historische Zufälle in eine Katastrophe umschlagen kann; das scheint aber ein Extremfall zu sein, weniger ein ehernes Gesetz, als welches es bei Faye eingeführt wird. Ohnehin sollte nicht das Katastrophale, sondern das Krisenbehaftete in den Vordergrund treten:
Das Katastrophale verunmöglicht eigene Handlungsoptionen, die Krise ermöglicht sie. In der Krise leben heißt, in einer herausfordernden Lage zu leben, in einer Phase, die – je nach Verhalten der Krisenakteure, je nach Dynamik – das Potential zu Umbrüchen und Wenden, aber auch zur bloßen Krisenvertagung in sich trägt. Krisen sind »produktiv, denn sie normieren, aktivieren und regulieren gesellschaftliches Handeln«. Indem sie mit Gewohnheiten und Routinen »brechen«, rufen sie »weitere Krisen hervor und sind in der Lage, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu erneuern oder instabil werden zu lassen«.
Letzteres ist Oppositionsbegehren. Denn erst in der »Krise der Autorität«, so der italienische Linksrevolutionär Antonio Gramsci, verlieren die herrschenden Eliten den gesellschaftlichen Konsens; sie führen nicht mehr, sondern herrschen nur. Teile der Bevölkerung wenden sich vom Alten ab (von den bisherigen Parteien, von bisher konsumierten Medienangeboten etc.), aber noch nichts Neuem zu. Sie haben Gewißheiten und Sicherheiten verloren, aber noch nichts neues Stabilisierendes gefunden. Es hat noch keine »Katharsis« im Sinne Gramscis stattgefunden, da eine Krisenwirklichkeit, die Unzufriedenheit mit dem Etablierten mit sich bringt, nicht automatisch Krisensolidarität mit nonkonformen Akteuren gebiert. Vertrauen muß man sich erarbeiten, und Hegemonie will erkämpft sein; die Krisen schaffen die objektiv erforderliche Ausgangsbasis.
In einer materialistischen Gesellschaft erfolgen diese Sortierungsprozesse – Abwendung, Suche, Zuwendung – primär auch auf materialistischem Grunde. Gramsci vermied dabei ökonomistischen Reduktionismus; Wirtschaftskrisen allein erzeugen keine Katharsis und keinen anschließenden Umschwung. Aber ganz ohne sie kann es nicht funktionieren, da der Auslöser für eine geballte Krisensituation historisch oftmals auf wirtschaftlichem Terrain zu suchen ist.
Für unsere Gegenwart heißt das konkret: »Kriselt das Finanzsystem, funktionieren auch andere Bereiche der Ökonomie nicht mehr reibungslos.« Populistisch ließe sich diese Abfolge so fortschreiben: Erst wenn das reibungslose Funktionieren weiter Versorgungsbereiche lädiert scheint (ob es das ist, bleibt sekundär), wenn es also weiten Teilen der Gesellschaft materiell gefühlt oder real an den Kragen geht, öffnen sich größere Wirkungsfenster für nonkonforme Politik. »Wenn der prospektive Hegemon weder körperliche Sicherheit noch materielle Bedürfnisbefriedigung bieten kann«, prognostizierte mit Wolfgang Fritz Haug ein weiterer Krisendenker von links, »wird sich seine Macht in Luft auflösen«.
Daß wir auch Anfang 2023 nicht so weit sind, gehört zum Bestandteil einer realistischen Lageauffassung ebenso wie das Fazit, dem zufolge man sich im Wirkungsfeld erreichbarer Nahziele geistig zurüsten muß für das Fernziel, dem man durch eigene Schaffenskraft näherkommen kann. Das gelingt über eine Annahme der Deutungskämpfe, die um jede einzelne Krise geführt werden. Krisen können im Rahmen dieser gestellten Hegemonie- und Machtfragen eine aktivierende Wirkung auf die eigenen Zusammenhänge ausüben, selbst wenn man sich gesamtgesellschaftlich in einer Minderheitsposition befindet, wie die Coronaproteste gut, die schwächelnden Energieproteste weniger gut verdeutlicht haben.
Doch auch das Gegenteil, eine passivierend-demotivierende Wirkung, ist nicht ausgeschlossen; die Ergebnisoffenheit der Krise liegt auch hier vor. Der Kipp-Punkt, an dem die Verhältnisse im eigenen Sinne zum Tanzen gebracht werden, kann nicht »geplant« werden, weil zu viele Variablen auf die Situation einwirken. Sehr wohl muß aber auf diesen hingearbeitet werden. Erschwerend wirkt hingegen, daß just »in den großen Krisen charismatische Persönlichkeiten gefragt [sind], die eine bewegende Stimmung des Aufbruchs erzeugen können«, wir aber einstweilen kaum über derartige Charaktere verfügen.
Bis sich entsprechende Hoffnungsfiguren zu erkennen geben, bleibt einiges zu tun: Deutungskämpfe annehmen und führen; Mitmenschen Wissen über Krisen und ihre Bedeutungen vermitteln; lokale / regionale Leuchttürme politischer Projekte schaffen; Verzahnung von außerparlamentarischen Gruppen mit zugänglichen Parteistrukturen fördern; arbeitsteilig und sich stetig professionalisierend an der Wende im Kleinen arbeiten, indem man konkrete Erfolge produziert, statt irreale und latent gefährliche Tag-X-Phantasien von der großen Katastrophenflut (Faye) zu reproduzieren.
Dies sind realistische Zielpunkte unserer Arbeit in der soeben erst eingeleiteten Epoche einer Konvergenz der Krisen.
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Dieser Beitrag erschien in der 112. Sezession vom Februar 2023 und liegt mit allen Quellennachweisen hier als pdf vor.
Niedersachse
Deutschland ist das Epizentrum von diveren fatalen politischen Weichenstellungen, die den Bürgern als "Krisen" dargestellt werden. Eine ähnliche volksverneinende und wertezersetzende Politik findet sich in abgemilderter Form auch bei unseren westlichen Nachbarstaaten wieder. Das es sich - um beispielsweise bei der Migrationspolitik zu bleiben - nicht um eine wirkliche Krise handelt, wo die Regierung die Kontrolle verloren hat, sondern um einen perfiden Plan, um die Bevölkerungsstruktur in Deutschland nachhaltig zu verändern, sollte mittlerweile jedem aufgefallen sein. Den perfekten Anschauungsunterricht bot dafür der Herbst 2021: Während Polen einen Grenzzaun zwischen sich und Weißrussland errichtete, stockte die unsägliche BRD die "Kapazitäten der Asylzentren auf"(O- Ton ZDF). Die Ansiedlung von Asyltouristen über sichere Drittstaaten ist demnach das wichtigste Ziel einer volksfeindlichen Regierung und keine wirkliche Krise. Es wird den Bürgern nur als eine solche verkauft.