Michel Houellebecqs Roman Karte und Gebiet erschien 2011 und ist vielleicht sein bestes Buch. Für unseren Zusammenhang ist das erste Viertel wichtig.
Houellebecq beschreibt darin, wie der Künstler Jed Martin beim Anblick einer Michelin-Departement-Karte eine »ästhetische Offenbarung« erfährt. Er nimmt diese Karte als etwas Erhabenes wahr: »Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen.«
Was Houellebecq damit meint, wird im Fortgang deutlicher: »Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben.«
Jed Martin erwirbt alle verfügbaren Michelin-Karten und fertigt mit bestimmten Bildwinkeln und Nachbereitungsschritten am Computer Hunderte Aufnahmen an, die sein Wahrnehmungserlebnis nachvollziehbar machen sollen: Der Blick in die Karte spiegelt, so er ausreichend empathisch erfolgt, die Möglichkeiten des pulsierenden und vielfältigen Lebens im Raum und in seiner räumlichen Vernetzung wider.
Aber gleichzeitig ist der Blick in die Karte abstrahierende Wahrnehmung, gewichtete Abstraktion: Welches Sträßchen wird noch aufgenommen ins Kartenbild? Welches Beziehungsnetz wird über eine Region gelegt, welche Besonderheit unterschlagen, welches Raumbild erstellt, welche Höhenstufung geschieden?
Fein ist der Einfall Houellebecqs, nicht nur die Faszination des Künstlers und seines Publikums zu beschreiben, sondern auch die Arbeitsweise der Kunstkritik, die zwischen Treffsicherheit und Originalitätszwang auf schmalem Grat unterwegs ist und genau deswegen die Tiefendimension der Karten-Kunst aufschließt: Jed Martin throne über seinem Gegenstand und habe insofern den Standpunkt Gottes eingenommen, als er mit der Rekonstruktion der Welt befaßt sei. Und so habe er »zwischen der mystischen Vereinigung mit der Welt und der rationalen Theologie seine Wahl getroffen.«
Ist das zuviel? Ist das zu dick aufgetragen? Natürlich ist es das, wo es nur um ästhetisch verblüffend gut aufgenommene Karten geht. Aber Houellebecq läßt Jed Martin seine große Michelin-Fotoausstellung unter dem genialen Motto »Die Karte ist interessanter als das Gebiet« eröffnen, veranschaulicht durch zwei Fotos desselben Mittelgebirgsausschnitts, von denen das eine ein indifferentes Luftbild ist, das andere der tiefenscharf fotografierte Teil einer Karte. Hier verschwimmende Konturen und unklare Bezüge, dort Reduzierung auf das für Kartennutzer Wesentliche – und dadurch Nutzbarmachung des Vorhandenen; hier das amorph Wuchernde und Ausfransende von Natur, Leben, organischem Übergang, dort die Klarheit in der Raumanordnung, das Freischneiden der Kulturlandschaft, die über der Natur liegt, vom Menschen als Kulturleistung erbracht und nun in Form von Karten als Triumphbilder der eigenen Schöpfungskraft ausgebreitet.
Karten sind Distanzierungsleistungen, sind Raumaufschlüsse, sind Inbesitznahmen. Wer kartiert, erhebt sich und gewinnt Überblick. Wer Karten nutzt, akzeptiert stillschweigend jene Entfremdungsleistung, die Arnold Gehlen als wesentlich für den Menschen erkannte und betonte und dem Marxschen Entfremdungsgewäsch entgegenstellte: Der Mensch als solcher ist immer schon ein Sich-selbst-Entfremdender, insofern er die Natur überformt, sich von ihr emanzipiert und dadurch ein Kulturwesen wird.
Daß diese notwendige Entfremdung des Menschen hin zur Freiheit vom Amorphen, Zufälligen, Unkalkulierbaren ihre Kehrseite habe, daß die Kulturleistung »Nutzung« umschlagen könne in »Vernutzung«, hat Gehlen mitbedacht. Vielleicht so: Die Karte kann den Raum aufschließen, sie kann ihn lesbar machen und ein erhebendes Bild von ihm vermitteln, das wir nie gewännen, wenn wir uns nicht ermächtigten.
Aber fragt mal einen, der bloß nach Navi fährt, wo im Raume Köln liegt oder Hannover oder Löbau. Er wird es am Ende einer blauen Linie vermuten, der er nachfuhr, ohne in Jed Martins Raum-Erregung geraten zu sein. Denn die Raum-Erschließung nahm ihm sein Kistchen ab.