Standort, Blickpunkt, Strategie

von Ivor Claire -- PDF der Druckfassung aus Sezession 110/ Oktober 2022

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Der fran­zö­si­sche Geo­graph Phil­ip­pe Bou­lan­ger ging 2015 davon aus, daß es immer noch eine Super­macht gebe: »Dank der Beherr­schung aller Räu­me, ob zu Lan­de, zu Was­ser, in der Luft oder im Welt­raum, und dank eines leis­tungs­fä­hi­gen mili­tä­ri­schen Appa­rats« sei­en die USA die ein­zi­gen, die eine ihren Inter­es­sen dien­li­che geo­stra­te­gi­sche Visi­on der Welt umset­zen könnten.

Zugleich ver­wies er jedoch auf eine Ver­la­ge­rung des »geo­po­li­ti­schen Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trums vom Okzi­dent nach Asi­en« und eine wach­sen­de welt­po­li­ti­sche Kom­ple­xi­tät durch Ruß­lands Wie­der­ein­tritt ins gre­at game sowie auf das zuneh­men­de poli­ti­sche Gewicht Chi­nas, ohne dabei Indi­en, Bra­si­li­en und Süd­ko­rea zu ver­ges­sen. (1) Bou­lang­ers nüch­ter­ne, um Objek­ti­vi­tät bemüh­te Ana­ly­se ent­wirft somit die Kon­tu­ren einer Neu­for­mie­rung der glo­ba­len poli­ti­schen Ver­hält­nis­se im 21. Jahr­hun­dert, in der die USA dar­um rin­gen, ihren Sta­tus als – mili­tä­risch und öko­no­misch domi­nie­ren­de – Welt­macht zu erhalten.

Zwar sah man nach dem Kol­laps der Sowjet­uni­on zunächst ein welt­wei­tes »new Athe­ni­an age of demo­cra­cy« anbre­chen, wie der dama­li­ge US-Vize­prä­si­dent Al Gore 1994 visio­när mit Blick auch auf die wuchern­de neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tur des Inter­nets ver­kün­de­te. Tat­säch­lich aber befin­den wir uns nicht erst mit dem seit 2014 schwe­len­den, jetzt auf­ge­flamm­ten Krieg in der Ukrai­ne in einer hei­ßen Pha­se jenes glo­ba­len Rin­gens der USA.

Daß sich dabei unser Jahr­hun­dert als »das erschüt­ternds­te und tra­gischs­te Zeit­al­ter der Mensch­heit« ent­pup­pen könn­te, hat­te der grie­chi­sche Phi­lo­soph Pana­jo­tis Kon­dy­lis schon 1988 aus sei­ner Ana­ly­se län­ger­fris­ti­ger Ent­wick­lun­gen hin zu einer »mul­ti­po­la­ren« Welt nach dem Kal­ten Krieg abge­lei­tet, (2) und sei­ne Fol­ge­run­gen sind unver­än­dert gül­tig, wenn wir unse­re Lage als Deut­sche und Euro­pä­er ernst­haft beden­ken wol­len: »Ob und wie die Nati­on als poli­ti­sche oder auch kul­tu­rel­le Ein­heit erhal­ten bleibt, hängt nicht von irgend­ei­ner unwan­del­ba­ren Sub­stanz ab, die ihr inne­woh­nen soll, son­dern von den lang­fris­ti­gen Erfor­der­nis­sen der pla­ne­ta­ri­schen Lage, genau­er: von der Art und Wei­se, wie die Akteu­re die­se Erfor­der­nis­se begrei­fen und sich dar­auf ein­stel­len.« (3)

Dies scheint banal, ist als Ein­sicht aber unan­ge­nehm: So müs­sen wir uns ohne iden­ti­tä­re Roman­tik ein­ge­ste­hen, daß Euro­pa und mit ihm vor allem Deutsch­land längst nicht mehr Sub­jek­te, son­dern Objek­te einer glo­ba­len Poli­tik sind, die von nicht­eu­ro­päi­schen Mäch­ten gemacht wird. Zudem las­sen beson­ders die deut­schen »Akteu­re« nicht erken­nen, daß sie die Erfor­der­nis­se jener »pla­ne­ta­ri­schen Lage« begrei­fen oder sich gar dar­auf ein­stel­len kön­nen, neh­men wir wei­ter­hin des Bun­des­kanz­lers Amts­eid als Ver­pflich­tung auf eine »Staats­rä­son«, an der sich das Han­deln der poli­ti­schen Klas­se zu ori­en­tie­ren hat: »dem Woh­le des deut­schen Vol­kes« zu die­nen, sei­nen Nut­zen zu meh­ren, Scha­den von ihm zu wen­den, das Grund­ge­setz und die Geset­ze des Bun­des zu wah­ren und zu verteidigen.

Jen­seits gele­gent­li­cher Beteue­run­gen, das Bes­te für das Kol­lek­tiv­sub­jekt des Grund­ge­set­zes, das Volk, zu wol­len, läßt sich kaum noch ein schlüs­si­ges staat­li­ches Han­deln zu die­sem Zweck fest­stel­len – was all­mäh­lich zu einem erns­ten Legi­ti­mi­täts­pro­blem des deut­schen Staa­tes wird.

Der Grund für das erra­ti­sche Han­deln unse­rer poli­ti­schen Klas­se liegt in ihrer Lage­ver­ges­sen­heit als Besieg­te von 1945, wie sie der Poli­to­lo­ge Hans-Joa­chim Arndt bereits in der west­li­chen Repu­blik des geteil­ten Deutsch­land her­aus­prä­pa­riert hat­te, (4) eine Dia­gno­se, die Kon­dy­lis nach 1989 wei­ter­hin teilt: »Zu jeder Zeit lie­fert die Ideo­lo­gie der Sie­ger den Besieg­ten einen Rah­men zur Inter­pre­ta­ti­on der Wirk­lich­keit« – eine sol­che inzwi­schen voll­kom­men inter­na­li­sier­te »Über­nah­me des Sie­ger­stand­punk­tes« bil­det den Schlüs­sel auch zur gegen­wär­ti­gen deut­schen Poli­tik. (5)

Ein Stand­punkt, der bezo­gen und von dem aus geur­teilt wird, ist immer an einen Stand­ort gebun­den, ob man will oder nicht: Er prä­for­miert den Blick, bedingt die Per­spek­ti­ve. Die meis­ten Poli­ti­ker, Jour­na­lis­ten, Wis­sen­schaft­ler, Unter­neh­mer und aka­de­misch aus­ge­bil­de­ten Durch­schnitts­men­schen hier­zu­lan­de rich­ten ihre Welt­sicht an schein­bar uni­ver­sel­len Idea­len aus, wor­über sie den rea­len Stand­ort ver­ges­sen haben, von dem aus der Rah­men für ihre Inter­pre­ta­ti­on der Wirk­lich­keit gesteckt wird: »Die­se Nor­men wer­den von den Mäch­ten fest­ge­setzt, die pla­ne­ta­ri­sche Poli­tik in die­ser oder jener Inten­si­tät trei­ben kön­nen, also von den Sub­jek­ten und nicht von Objek­ten pla­ne­ta­ri­scher Politik.«

Als »Anhäng­sel einer pla­ne­ta­ri­schen Macht« (6) urtei­len die ver­meint­lich kos­mo­po­li­ti­schen Deut­schen also meist von einem Stand­punkt aus, des­sen Stand­ort weder in Deutsch­land noch in Euro­pa zu fin­den ist: Er liegt für die meis­ten, auch die urba­nen Schein­linken, »im Wes­ten« und damit kon­kret in den USA, für eini­ge sel­te­ne Fos­si­le noch in der Sowjet­uni­on, dem ver­sun­ke­nen Reich ihrer kom­mu­nis­ti­schen Träume.

Infol­ge die­ser Lage­ver­ges­sen­heit ist man einem jen­seits des Atlan­tiks ver­or­te­ten, über­mäch­ti­gen »Bünd­nis­part­ner« voll­ends ver­fal­len: Die BRD bil­det des­sen Brü­cken­kopf auf dem euro­päi­schen Fest­land, der durch ame­ri­ka­ni­sche Trup­pen mit ato­ma­rer Bewaff­nung gesi­chert und von den Deut­schen gehal­ten wird. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg als Sie­ger und Hege­mon nur durch die Sowjet­uni­on ange­foch­ten, in West­eu­ro­pa als Schutz­macht gegen die »Gefahr aus dem Osten« legi­tim und akzep­tiert, hat­ten sich seit 1989 die Beur­tei­lung der Lage durch die USA und damit auch ihre Stel­lung zu Euro­pa ändern müs­sen – nicht jedoch der Stand­punkt der deut­schen Politik.

De Gaulles Ver­such, für Frank­reich durch die Force de frap­pe bzw. die Force de dis­sua­si­on nuclé­ai­re eine gewis­se Eigen­stän­dig­keit gegen­über den USA zu behaup­ten, ähn­li­che Vor­stö­ße des frü­hen Franz ­Josef Strauß in West­deutsch­land und vor allem aber Egon Bahrs neue Ost­po­li­tik eines »Wan­dels durch Annä­he­rung« der bei­den deut­schen Teil­re­pu­bli­ken hat­ten zwar gezeigt, daß eine von eige­nen Inter­es­sen gelei­te­te Poli­tik selbst in der rela­tiv star­ren Welt­ord­nung des Kal­ten Krie­ges denk­bar und mög­lich war.

2007 hin­ge­gen sol­len die Kanz­le­rin Mer­kel und ihr dama­li­ger Außen­mi­nis­ter Stein­mei­er ein Ange­bot des fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten Sar­ko­zy, sich an der Ent­schei­dungs­ge­walt über die für Euro­pa bestimm­ten fran­zö­si­schen Atom­waf­fen zu betei­li­gen, sogleich abge­lehnt haben (7) – tem­po­ra mutan­tur. Von die­ser poli­ti­schen Klas­se eine eigen­stän­di­ge, auf Deutsch­land bezo­ge­ne Lage­be­ur­tei­lung oder gar Initia­ti­ve für eine kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­sche Frie­dens­ord­nung zu erwar­ten ist unrea­lis­tisch, denn ihre rai­son d’être liegt fern der Hei­mat, wenn sie denn über­haupt eine hat.

Die Spiel­räu­me sind heu­te, in der neu­en »Mul­ti­po­la­ri­tät«, auch für Regio­nal- und Mit­tel­mäch­te grö­ßer gewor­den, das Spiel frei­lich auch erheb­lich ris­kan­ter als in jenem einst durch das ato­ma­re Patt still­ge­stell­ten West- und Mit­tel­eu­ro­pa. Die Gefahr jedoch, auf dem »Grand Chess­board« für frem­de Inter­es­sen als Bau­ern ohne eige­ne Opti­on geop­fert zu wer­den, ist groß und offen­sicht­lich wie sel­ten zuvor. Kurz­fris­tig läßt sich dage­gen wenig aus­rich­ten, dafür fehlt der aktu­el­len polit­me­dia­len Klas­se in Deutsch­land – par­tei­en­über­grei­fend – jene Men­ta­li­tät, die in Frank­reich auf­grund einer Prä­gung der poli­ti­schen Eli­ten in Insti­tu­tio­nen wie der Sci­ence Po und der vor­ma­li­gen Éco­le Natio­na­le d’Administration noch beob­ach­tet wer­den kann, auch wenn es dort kei­nen de Gaul­le mehr gibt: die Selbst­ver­ständ­lich­keit eige­ner natio­na­ler Inter­es­sen und deren Vor­rang in der Außen- und Bünd­nis­po­li­tik. (8)

Was also tun? Zwar kann der Wech­sel von Stil­le zu Sturm sehr rasch erfol­gen in einem rea­li­ter auto­kra­ti­schen Land, des­sen herr­schen­de Klas­se ver­sucht, die innen­po­li­ti­sche Lage repres­siv und medi­al unter Kon­trol­le zu behal­ten, deren Ernst aber ver­kennt wie einst Ceaușes­cu. Die alte jako­bi­ni­sche Hoff­nung auf einen revo­lu­tio­nä­ren Eli­ten­aus­tausch wäre hier jedoch ver­blen­det – eine auf­grund ihres Selbst­ver­ständ­nis­ses dafür prä­de­sti­nier­te Lin­ke gibt es nicht mehr, sie hat sich längst unter die Fit­ti­che der Bour­geoi­sie bege­ben, wie Lenin sagen wür­de. Von der mar­gi­na­li­sier­ten, unver­dros­sen staats­tra­gen­den Rech­ten braucht nicht gespro­chen zu wer­den, auf eine »Mas­sen­ba­sis« wäre in bei­den Fäl­len nicht zu bauen.

Wenn Deutsch­land die öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Kri­sen­kul­mi­na­ti­on rege­ne­ra­ti­ons­fä­hig über­ste­hen will, wer­den sich aus schie­rer Not Fach­leu­te von den Ebe­nen unter­halb der poli­tisch besetz­ten Lei­tungs­funk­tio­nen und noch zurech­nungs­fä­hi­ge Ver­tre­ter jener poli­ti­schen Klas­se fin­den müs­sen, die das tech­no­lo­gisch, orga­ni­sa­to­risch und zivi­li­sa­to­risch kom­ple­xe Sys­tem BRD zumin­dest als Rumpf zu ret­ten ver­su­chen. Sol­ches wird kein Jung-Sieg­fried aus der Pro­vinz leis­ten kön­nen, und in Etzels Hal­le dür­fen die Deut­schen kein drit­tes Mal zie­hen, so hero­isch-kleid­sam der­lei Mythen für his­to­ri­sches Ver­sa­gen auch sein mögen.

Auf mitt­le­re und län­ge­re Sicht wäre es indes­sen eben­so illu­sio­när und dog­ma­tisch, fähi­gen und ehr­gei­zi­gen Nach­wuchs aus den eige­nen Rei­hen davon abbrin­gen zu wol­len, sich unter genann­te Fit­ti­che der Bour­geoi­sie zu bege­ben, also in Par­tei­en, Ämtern, Behör­den, Medi­en, Uni­ver­si­tä­ten, Schu­len oder Unter­neh­men Kar­rie­re zu machen. Neben einer lebens­tüch­ti­gen Spe­zia­li­sie­rung in einem wert­schöp­fen­den oder ‑erhal­ten­den Beruf, der Grün­dung und der Erhal­tung eige­ner Fami­li­en ist dabei wei­ter das zu tun, was noch nicht genug getan wird: in die­sem Nach­wuchs ein Bewußt­sein der eige­nen Lage und Auf­ga­be zu ent­wi­ckeln, ihm nicht durch aktio­nis­ti­sche Spon­ta­nei­tät eine bür­ger­li­che Lauf­bahn zu ver­bau­en, son­dern sie viel­mehr zu for­dern, und ermög­li­chen, daß die Besieg­ten von 1945 sich all­mäh­lich und end­lich aus die­ser sozi­al­psy­cho­lo­gi­schen Zwangs­ja­cke befrei­en und eine neue, den deut­schen Inter­es­sen dien­li­che polit­me­dia­le Klas­se heranwächst.

Zeit­schrif­ten, Zei­tun­gen, Sen­der, Netz­platt­for­men, Stif­tun­gen, Insti­tu­te und Aka­de­mien blei­ben die unver­zicht­ba­ren Medi­en und Mit­tel auf die­sem Gebiet der Kul­tur, um einem ver­nünf­ti­gen poli­ti­schen Dis­kurs in der zutiefst neu­ro­ti­schen, irra­tio­na­len »Öffent­lich­keit« der BRD vor­zu­ar­bei­ten: Das sind die Mühen der Ebe­nen, und die­se Ebe­nen erstre­cken sich noch in wei­te Ferne.

Eine wich­ti­ge Bin­sen­weis­heit bleibt, daß bestehen­de Struk­tu­ren zu nut­zen, aus­zu­bau­en und neue zu errich­ten sind – es bedarf hier der mas­si­ven Unter­stüt­zung bereits finanz­kräf­ti­ger und orga­ni­sa­to­risch sta­bi­ler Insti­tu­tio­nen, etwa einer Par­tei, die frei­lich so gut wie mög­lich ver­su­chen muß, par­tei­ty­pi­scher Kli­en­tel­wirt­schaft zu ent­sa­gen, um auf Qua­li­tät der Per­so­nal­aus­wahl für genann­te Struk­tu­ren zu setzen.

Eben­so wich­tig, wenn nicht Schwer­punkt muß eine Art von grund­sätz­li­chem Cur­ri­cu­lum sein, das dar­auf zielt, ein lage­ad­äqua­tes Den­ken im Sin­ne des Gemein­wohls und eine ste­te intel­lek­tu­el­le Neu­gier zu erzeu­gen. Dies ist des­we­gen nötig, weil spä­tes­tens seit unse­rem Staats­phi­lo­so­phen Hegel ein­sich­tig sein müß­te, daß schon Kaf­fee und Zucker auf dem Tisch eines schwä­bi­schen Land­pas­tors kei­ne Pro­duk­te die­ser Pro­vinz sind, son­dern »sogleich auf einen ganz ande­ren Zusam­men­hang, auf eine fremd­ar­ti­ge Welt und deren man­nig­fa­che Ver­mitt­lun­gen des Han­dels, der Fabri­ken, über­haupt der moder­nen Indus­trie hin­wei­sen.« (9) Die­se Ein­bin­dung auch des abge­le­gens­ten deut­schen Dor­fes in den so kom­pli­zier­ten »Welt­ver­kehr« macht bereits die Über­nah­me eines Bür­ger­meis­ter­amts zu einer enor­men Her­aus­for­de­rung, nicht nur für oppo­si­tio­nel­le Kräf­te – dafür muß man geeig­net sein, dar­auf muß man sich vor­be­rei­tet haben.

Poli­tik als Beruf kann aber kaum Spe­zi­al­wis­sen für alle nöti­gen Berei­che in einem Men­schen ver­ei­ni­gen. Ent­schei­dend ist daher vor allem die Fähig­keit, gege­be­ne Pro­ble­me rich­tig ein­zu­ord­nen und zu beur­tei­len, sich dabei geeig­ne­ter Stä­be mit den nöti­gen Fach­leu­ten zu bedie­nen und die­se zu füh­ren, um so zu ange­mes­se­nen Ent­schei­dun­gen zu kom­men und die­se umzusetzen.

Arndt hat­te daher in sei­nem Gegen­ent­wurf zur Pra­xis eta­blier­ter Poli­to­lo­gie eine an kon­kre­ten Gege­ben­hei­ten ori­en­tier­te Lage­ana­ly­se gefor­dert und dafür, als ehe­ma­li­ger Mari­ne­of­fi­zier, modell­haft auf Ele­men­te des mili­tä­ri­schen Füh­rungs­pro­zes­ses zurück­ge­grif­fen: Wie ein Kreis­lauf, der immer wie­der neu anset­zen muß, ist ein kla­res Lage­bild durch Erhe­bung mög­lichst vie­ler Daten zu gewin­nen, das eine Beur­tei­lung die­ser Lage bzw. Lage­än­de­run­gen vom eige­nen Stand­ort und dem Stand­punkt des eige­nen Auf­trags aus erlaubt, wobei die Kräf­te im Fel­de abge­wo­gen wer­den und alle räum­li­chen, zeit­li­chen und sons­ti­gen Fak­to­ren zu beden­ken sind.

Dies mün­det in eine Prü­fung der eru­ier­ten Hand­lungs­mög­lich­kei­ten, aus der ein Ent­schluß für die sinn­volls­te Opti­on her­vor­geht. In der mili­tä­ri­schen Füh­rer­aus­bil­dung wird die­ser for­ma­li­sier­te ana­ly­ti­sche Pro­zeß immer wie­der ein­ge­for­dert und somit habi­tua­li­siert, er geht bes­ten­falls vom Wis­sen in ein Kön­nen über.

Über­tra­gen auf die Poli­tik, sind bei einer sol­chen dyna­mi­schen Analyse­struktur auch Kate­go­rien zu berück­sich­ti­gen, die mili­tä­risch vor allem auf der ope­ra­ti­ven und stra­te­gi­schen Ebe­ne grei­fen, daher ent­spre­chend in den Füh­rungs­grund­ge­bie­ten und Orga­ni­sa­ti­ons­be­rei­chen abge­bil­det sind, sich aber auch in den minis­te­ria­len Res­sorts und den Behör­den der Poli­tik wiederfinden.

Es sind dies jene »Räu­me«, die von Geo­stra­te­gen hin­sicht­lich Res­sour­cen, Trans­port, Mobi­li­tät, Kom­mu­ni­ka­ti­on und Krieg­füh­rung beson­ders in den Blick genom­men wer­den, aber auch von uns hin­sicht­lich der glo­ba­len Wech­sel­wir­kun­gen mit selbst kleins­ten loka­len Ein­hei­ten immer mit­zu­be­den­ken sind: Land, Gewäs­ser, Luft­raum, Orbit und Welt­all, aber auch »die Infra­struk­tu­ren, die Medi­en­pro­duk­ti­on, der Medi­en­kon­sum und der Infor­ma­ti­ons­fluß« im Cyber- und Infor­ma­ti­ons­raum, (10) der zugleich einen höchst wirk­sa­men Psy­cho­raum formt.

Man mag sich fra­gen, was ein Bür­ger­meis­ter mit einem Cyber- und Infor­ma­ti­ons­raum, gar mit Orbit und Welt­all zu schaf­fen hät­te – spä­tes­tens bei sei­nen vor­sorg­li­chen Über­le­gun­gen, was im Fal­le eines Black­outs in sei­nem beschau­li­chen Beritt noch funk­tio­nie­ren wür­de, muß er sich mit Din­gen wie Satel­li­ten­funk und Netz­werk­sta­bi­li­tät aus­ein­an­der­set­zen. Daher ist es für alle Ebe­nen der poli­ti­schen Füh­rung und Bera­tung unab­ding­bar, ein Ver­ständ­nis all die­ser genann­ten Zusam­men­hän­ge zu gewin­nen, das der Grö­ße des jewei­li­gen Ver­ant­wor­tungs­be­rei­ches ange­mes­sen ist.

Wer es gelernt hat, in sol­chen Kate­go­rien zu den­ken, und dar­an gewöhnt wur­de, kon­kre­te Lagen auf den eige­nen Stand­ort zu bezie­hen, zu beur­tei­len und dar­aus zu fol­gern, der begibt sich spie­le­risch und doch sys­te­ma­tisch immer wie­der auch auf den Stand­ort und den Stand­punkt sei­ner Kon­kur­ren­ten und Geg­ner, um aus deren Sicht Lage und Hand­lungs­op­tio­nen ein­schät­zen zu können.

Neh­men wir pro­be­wei­se etwa die Sicht einer glo­bal agie­ren­den Super­macht ein, der es um die Beherr­schung aller Räu­me welt­weit geht, erscheint unse­re Lage in Euro­pa und der deut­schen Pro­vinz schlag­ar­tig in einem ande­ren, fah­le­ren, für den fer­nen Hege­mon unbe­deu­ten­den Licht – das kann weg. Auf die­ses haben wir uns ein­zu­stel­len: Ler­nen, ler­nen und noch­mals lernen!

– – –

(1) – Vgl. Phil­ip­pe ­Bou­lan­ger: Géo­gra­phie mili­taire et géostra­té­gie. Enjeux et cri­ses du mon­de con­tem­po­rain, Paris 2015, S. 9, 15.

(2) – Vgl. Pana­jo­tis Kon­dy­lis: Das Poli­ti­sche im 20. Jahr­hun­dert. Von den Uto­pien zur Glo­ba­li­sie­rung, Hei­del­berg 2001, S. 12.

(3) – Kon­dy­lis: Das Poli­ti­sche im 20. Jahr­hun­dert, S. 109.

(4) – Vgl. Hans-Joa­chim Arndt: Die Besieg­ten von 1945. Ver­such einer Poli­to­lo­gie für Deut­sche samt Wür­di­gung der Politik­wissenschaft in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Ber­lin 1978.

(5) – Kon­dy­lis: Das Poli­ti­sche im 20. Jahr­hun­dert, S. 7 f.

(6) – Pana­jo­tis Kon­dy­lis: Pla­ne­ta­ri­sche Poli­tik nach dem Kal­ten Krieg, Ber­lin 1992, S. 3 f.

(7) – Vgl.»Sarkozy bot Deutsch­land Atom­waf­fen an«, in: Der Spie­gel vom 15. Sep­tem­ber 2007.

(8) – Vgl. Mar­kus C. Ker­ber: Euro­pa ohne Frank­reich? Deut­sche Anmer­kun­gen zur Fran­zö­si­schen Fra­ge, Ber­lin 2017.

(9) – Georg Fried­rich Wil­helm Hegel: Vor­le­sun­gen über die Ästhe­tik I, Frank­furt a. M. 1997, S. 339.

(10) – Phil­ip­pe Bou­lan­ger: Planè­te médi­as. Géo­po­li­tique des réseaux et de l’influence, Mala­koff 2021, S. 11.

 

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