Schon Otto von Bismarck wußte, daß die Geographie die Konstante der Geschichte ist. Die geographische Lage, um Worte Friedrich Naumanns zu paraphrasieren, ist die Lehrmeisterin jeder Politik. (1)
Wenn die erdgebundenen Züge und die Geographie die politische Lage und die politischen Interessen eines Staates beeinflussen oder sogar bestimmen, wenn also jedes Volk von räumlichen Konstanten politisch bestimmt ist, dann kann man von geopolitischer Identität sprechen, die selbstverständlich mit der kulturellen Identität eng verbunden ist.
Serbien nun ist Teil des Balkans, und »das Wort Balkan beschwört in Europa Bilder von ethnischen Konflikten und Stellvertreterkriegen der Großmächte herauf.« (2) Die erste Assoziation ist immer »Balkanisierung«, also die chronischen Auseinandersetzungen zwischen den zahlreichen ethnischen Gruppen, die politische und territoriale Fragmentierung und die sich kreuzenden Interessen der Großmächte. Das heißt, daß die Großmächte »das Pulverfaß Balkan« relativ einfach aus eigenen Interessen anzündeten und noch immer anzünden können. Die berühmte balkanische Instabilität hatte zu oft raumfremde Ursachen. Die alte Parole aus dem 19. Jahrhundert, »Balkan den Balkanvölkern«, hat in dieser Hinsicht wenig an Aktualität verloren.
Aber warum und für wen ist der Balkan geopolitisch so bedeutend? Man sagt, daß der Balkan einer der wichtigsten Teile Euroasiens ist, weil er eine Verbindung oder eine Brücke und zugleich eine Unterbrechung oder eine Blockade darstellen kann. Deswegen wurde schon in der Renaissance für das zentrale Gebirge des Balkans der Name Catena Mundi genutzt, die Kette der Welt. Die Kette verbindet und hält die Welt zusammen, und wenn sie reißt oder verloren wird, dann fällt die Welt auseinander. Auf dem Balkan berühren sich Mitteleuropa und Kleinasien sowie der orthodoxe, der katholische und der muslimische Glauben. Einer der ersten Balkanologen, Ratko Parežanin, hat 1928 geschrieben: »Der Balkan ist nicht Europa, der Balkan ist nicht Asien. Der Balkan ist die Welt für sich.«
Vor allem ist der Balkan einer der Schauplätze, auf denen die Großmächte ihre Kräfte erproben und einander in Fallen locken. Raumfremde Mächte organisierten Machtwechsel und Staatsstreiche, wie zum Beispiel in Belgrad am 27. März 1941 (als die Briten einen deutschenfeindlichen Putsch durchsetzten) oder im Oktober 2000, als der serbische Ministerpräsident Slobodan Milošević zurücktreten mußte. Die kleinen und bankrotten Balkanländer sind eben recht leicht zu erpressen. Bulgarien zum Beispiel hat 2014 den Bau einer Gasleitung unter russischer Führung blockiert, weil der Westen das Land unter Druck setzte.
Alles, was man über den Balkan sagen kann, betrifft aus drei Hauptgründen besonders Serbien. Zuerst sind die Serben ein recht kleines, aber im Rahmen des Balkans doch ein großes Volk. Der serbische Geograph Jovan Cvijić hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben, daß es von Wien bis Konstantinopel kein größeres Volk gebe. (3) Natürlich hat sich seit dieser Zeit vieles verändert, aber im derzeitigen serbischen Rumpfstaat leben immerhin knapp sieben Millionen Serben.
Der zweite Grund ist die Lage Serbiens. Serbien befindet sich im Zentrum des Balkans in einer Zone zwischen dem Schwarzen und dem Adriatischen Meer. Der schnellste Weg von Kleinasien nach Europa führt durch das Morava-Vardar-Tal, welches in Serbien liegt. Schon bei Belgrad beginnt die Pannonische Tiefebene. Mit anderen Worten: Die am Zusammenfluß von Sava und Donau liegende Stadt Belgrad ist das Tor des Balkans oder Tor von Mitteleuropa. Um Jovan Cvijić noch einmal zu zitieren: Die Serben haben ihr Haus mitten auf der Straße gebaut.
Der dritte Grund ist die Tatsache, daß die Serben auch die Territorien außerhalb des heutigen Serbiens besiedeln – Baranja, Slawonien, Dalmatien, Bosnien, Herzegowina, Montenegro, den Norden von Albanien und Nordmazedonien. Der serbische ethnisch-kulturelle Raum wurde durch künstliche Grenzen und die Schaffung neu erfundener ethnischer Identitäten verkrüppelt. Wiederum Jovan Cvijić schrieb, daß in den Randgebieten des serbischen Raums die Bildung einer »ethnisch schwebenden Masse« stattgefunden habe, die dem serbischen Einfluß entzogen worden sei. Wie lange diese künstlichen Nationen bestehen werden, ist eine andere Frage. Sicher ist aber, daß man diese neuen Identitäten sehr einfach von außen manipulieren kann, wenn man eine Instabilität auf dem Balkan schaffen will. Das ist eine sehr nützliche Situation beispielsweise für atlantische Kräfte, die sich als Schiedsrichter und Schlichter inszenieren und unerwünschte Politiker beseitigen können.
Mit anderen Worten: Die Balkanfrage ist in ihrem Kern die serbische Frage – und umgekehrt, und wie der serbische Geopolitiker Milomir Stepić festgestellt hat, ist die serbische Frage vor allem eine geopolitische Frage. (4) Sie ist also weder eine demokratische Frage noch eine der Modernisierung oder der Liberalisierung. Die Geschichte Serbiens des 20. Jahrhunderts ist ohne geopolitisches Wissen schwer zu verstehen.
Andere Faktoren sollten auch in Betracht gezogen werden. Die Serben sind ein slawisches Volk und von der Religion her überwiegend orthodox. Geopolitisch betrachtet, spielt diese Tatsache eine wichtige Rolle. Wie Arnold Toynbee geschrieben hat, gehört Serbien dem »byzantinisch-orthodoxen Zivilisationskreis« an oder nach der Meinung Samuel Huntingtons dem slawisch-orthodoxen Kulturkreis. Das alles impliziert eine gewisse traditionelle Sympathie für Rußland. Die prorussische Haltung ist in Serbien geschichtlich gut begründet.
Schon im 19. Jahrhundert waren die serbischen Liberalen eine stark an Rußland orientierte Partei, während die serbischen Konservativen damals eine Orientierung an Österreich-Ungarn und an Deutschland befürworteten. Die serbische intellektuelle Elite wurde seit dem 19. Jahrhundert an den deutschen und französischen Universitäten ausgebildet. Die englische Politik hat die Serben traditionell als kleine Russen oder russische Stoßtrupps wahrgenommen. Schlechte Erfahrungen mit dem katholischen Proselytismus und mit der Westernisierung überhaupt haben große Teile des serbischen Volkes, vor allem in den Randgebieten, dazu getrieben, in Rußland einen Schützer des orthodoxen Glaubens und der traditionellen Kultur zu sehen. Das alles hat manchmal zu einer unkritischen Romantisierung Rußlands geführt, aber es wirkt sich realpolitisch aus: Serbien schließt sich nicht der Europäischen Union an, denn es lehnt die Werte ab, die heute vom Westen proklamiert werden.
Man darf sich aber von der prorussischen Haltung der Serben kein falsches Bild machen: Obwohl die kulturellen Ähnlichkeiten groß und die traditionellen politischen Beziehungen eng sind, bleiben Serben und Russen zwei verschiedene Völker mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein und eigenen nationalen Interessen. Nach eigenem Selbstverständnis ist Serbien vom kulturellen Standpunkt aus weder im Osten noch im Westen verortet, sondern so etwas wie ein Brückenbauer oder Vermittler, also »Osten für den Westen und Westen für den Osten«.
Woher rühren das ausgeprägte Selbstbewußtsein und der starke nationale Stolz Serbiens? Im Unterschied zu den anderen Balkanvölkern, die von fremden Dynastien beherrscht waren, hatten die Serben drei Volksdynastien im 19. Jahrhundert. Diese Dynastien sind tatsächlich aus dem Volke erstanden und waren volksverbunden. Vor allem die Dynastie der Karađorđević erhob sich während des Ersten Weltkriegs zu mythischer Größe. (5)
Mit dem Willen zur nationalen Selbstbehauptung ist eine starke antiimperialistische Stimmung der Serben eng verbunden. Im Wesen des serbischen orthodoxen Volks liegt es, sich jeder fremden Bevormundung zu widersetzen. Laut Žarko Vidović gehört zur »svetosavischen Nation der Widerstand nicht nur gegen das Imperium, sondern auch gegen jede Art von imperialer Idee, sei sie künstlich, metaphysisch oder theologisch.« (6) Selbstverständlich kann eine autokephale Nationalkirche gegenüber der nationalen Freiheit und dem nationalen Staat nicht gleichgültig sein. Für die serbische Orthodoxie gehören unabhängiger Nationalstaat und selbständige Nationalkirche zusammen wie Körper und Seele, und als Bewahrerin des Gelübdes ist die Kirche das Gewissen von Volk und Staat.
Obwohl die beiden jugoslawischen Staaten unter dem Einfluß atlantischer, also gegenkontinentaler Kräfte standen, ist Serbien seiner geopolitischen Identität nach ein ausgesprochen tellurokratisches Land. Ihre gegenatlantische Haltung haben die Serben am Ende des 20. Jahrhunderts deutlich gezeigt. Die Serben sind das einzige europäische Volk, das nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Verbündete hinter sich, ohne durchgedachte Strategie, ganz allein und ganz instinktiv den atlantischen Kräften Widerstand geleistet hat. Dieser instinktive Widerstand ist natürlich mit dem ausgeprägten nationalen Bewußtsein eng verbunden. Der Konflikt mit dem politischen Westen war kein Mißverständnis. Obwohl manche glaubten, daß die Probleme durch die Absetzung von Slobodan Milošević gelöst wären und daß der Westen Serbien nun in Ruhe ließe, vollzog sich der umgekehrte Vorgang. Als Serbien sich zurückzog, dehnten sich andere aus und verlagerten den Fokus des geopolitischen Kampfes auf das Territorium Serbiens.
Aus den Kriegen, die um das jugoslawische Erbe geführt worden sind, sind die Serben als Verlierer herausgegangen. Wir haben es sogar mit einem doppelten Verlust zu tun: Zuerst hat die Schaffung des übernationalen südslawischen Staats für die Serben eine »nationale Demobilisation« (Slobodan Jovanović) (7) bedeutet. Für die jugoslawische Illusion haben die Serben nicht nur Blut und Kraft geopfert, sondern sie haben auch ihren eigenen Name aufgegeben. Wie der wichtigste serbische Schriftsteller, Miloš Crnjanski, geschrieben hat, war Jugoslawien für die Serben »ein Verzicht auf ihren Namen, ihr staatliches Wesen, ihre Fahnen, und was noch mehr ist, auf ihren Sieg, Stolz und ihre Moral.« (8)
Jugoslawien war eine Tragödie für das Serbentum. Trotzdem spricht man nur von der serbischen Hegemonie. Serbien ist aus dem jugoslawischen Alptraum als territorial verkrüppelte und besiegte Nation hervorgegangen. Die Serben wurden aus vielen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens vertrieben, das Land wurde zerstört und am Ende von der NATO bombardiert. Diskussion über Schuld an Kriegen, Schuldbekenntnisse der Besiegten und die Prozesse vor dem Gericht in Den Haag dienen nicht historischer Wahrheitssuche. Sie stellen vielmehr eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln dar und verhindern die Wiederherstellung eines stabilen politischen Selbstbewußtseins. »Schuld« ist keine politische Kategorie, schrieb Bernard Willms.
Materielle und territoriale Verluste sowie schwere Armut sind nicht die schlimmsten Folgen dieser unglücklichen Entwicklung. Schlimmer noch sind der moralische Verfall, der Defätismus und »der Geist der Selbstverleugnung« (Milo Lompar),(9) die der Jugoslawismus hervorgebracht hat und die in Teilen der serbischen Intelligenz zum autodestruktiven Nationalmasochismus (10) führen.
Selbstverleugnung und nationale Demut gehen in Serbien mit einer atlantischen Orientierung einher und mit der unkritischen Idealisierung der EU und des politischen Westens überhaupt. Die ehemaligen Kommunisten haben eine neue universalistische Ideologie des Linksliberalismus in der Gestalt der EU gefunden, und im Namen der westlichen Werte bekämpfen sie aufs neue die traditionelle Kultur der Serben, den vermeintlichen serbischen Hegemonismus und das »Großserbentum«. (11) Umerziehungstrieb und moralischer Imperialismus stammen aus dem Westen. In Serbien wird das Wort »Westen« als Synonym für nichttraditionelle oder sogar komplett dekadente Kulturen wahrgenommen. Daraus folgt, daß die geopolitische Orientierung Serbiens auch aus der geistigen Orientierung rührt.
War das ein Irrweg? Serbien jedenfalls braucht Ordnung, Stabilität, Halt und einen gesunden Skeptizismus. Nach einem verlorenen Jahrhundert werden keine neuen Experimente und Illusionen gebraucht, sondern eine nüchterne Geopolitik, die den eigenen Interessen und der serbischen Lage angemessen ist. Das setzt klares Selbstbewußtsein voraus. Denn –wie Johannes Groß geschrieben hat: Wer kein Selbstbewußtsein hat, kann keine Politik formulieren und keine Politik betreiben. Um also über das eigene Schicksal frei entscheiden zu können, muß ein Volk klare Vorstellungen von seiner Identität und seiner Lage besitzen.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hat Serbien weder von einer Europäischen Union noch von Amerika noch von den atlantischen Kräften überhaupt etwas Gutes zu erwarten. Und wenn man sich gegen die amerikanische Hegemonie, den Atlantismus, den moralischen Imperialismus und gegen alles, was damit einhergeht, wehren will, muß ein kleines Land einen Verbündeten finden. Im Moment ist eine weitere Stärkung der geopolitischen Position Serbiens nur mit einer strategischen Partnerschaft Rußlands machbar. Auf keinen Fall bedeutet das eine unkritische Idealisierung Rußlands oder eine Moralisierung russischer Positionen. Die eine, westliche Ideologie der Hypermoral kann nicht mit der anderen bekämpft werden. Die Bindung an Rußland soll also kein Resultat der emotionalen Betrunkenheit oder der romantischen slawischen Brüderlichkeit sein, sondern aus nüchterner, politischer Erwägung erfolgen.
Zu vermuten ist, daß eine multipolare Welt kleinen Staaten etwas mehr Spielraum läßt. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, Rußland zu unterstützen. Gleichzeitig muß Serbien seine guten Beziehungen vor allem zu Ungarn erhalten und vertiefen. Die Auszeichnung Viktor Orbáns durch den Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche, Porfirije, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Auf der anderen Seite wäre eine neue »übernationale Integration«, ein Jugoslawien unter neuem Namen und unter atlantischer Kontrolle (wie etwa die Initiative Open Balkan), für das serbische Volk nicht nur ein Beweis seines kurzen politischen Gedächtnisses, sondern politischer Selbstmord.
Man muß bedenken, daß der souveräne Nationalstaat der einzige bekannte Rahmen für nationale Selbstbestimmung, für Demokratie, für eindeutige politische Verantwortung, für die Herrschaft des Rechts, für Bürgerfreiheit, soziale Solidarität und die Erhaltung eigener Kultur und Überlieferung ist. Für die Serben mit ihren geschichtlichen Erfahrungen und in ihrer Lage ist die Erhaltung des Nationalstaats auf svetosavischer Grundlage existentiell wichtig. Diesem Erhalt sind die meisten anderen politischen Ziele unterzuordnen.
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(1) – Vgl. Friedrich Naumann: Bulgarien und Mitteleuropa, Berlin 1916.
(2) – Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a. M. 42001, S. 181.
(3) – Vgl. Јован Цвијић: Говори и чланци, Сабрана дела, књига 3 (том 1), Књижевне новине; Завод за уџбенике и наставна средства, Београд 1987, S. 66.
(4) – Vgl. Миломир Степић: Српски геополитички образац, Catena Mundi, Београд 2019.
(5) – Vgl. Miloš Crnjanski: »Die jugoslawische Dynastie«, in: Volk und Reich, Heft 1, Berlin 1938, S. 5 – 7.
(6) – Жарко Видовић: Историја и вера, Београд 2009, S. 49.
(7) – Слободан Јовановић: »Српски национализам у Југославији«, Сабрана дела 12, Београд 1991, S. 563.
(8) – Милош Црњански: »Трагедија српства«, Политички чланци 1919 – 1939, Задужбина Милоша Црњанског, Catena Mundi, Београд 2017, S. 352.
(9) – Мило Ломпар: Дух самопорицања, Orpheus, Нови Сад 2012.
(10) – In Serbien verwendet man den Begriff »Autochauvinismus«.
(11) – Für strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Kommunismus und dem heutigen Liberalismus siehe: Ryszard Legutko: Der Dämon der Demokratie. Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften, Wien / Leipzig 2017.