Der Prozeß des Systemwechsels in Ungarn wurde 2010 mit zwanzigjähriger Verzögerung abgeschlossen, und seither setzt sich in Ungarn nicht nur ein neues politisches System durch, sondern auch eine durch und durch neue Ära.
Die rechte Regierung und das konservative Denken gingen eine historische Allianz ein, als deren Ergebnis das ungarische Modell entstand. Das bedeutet: eine konservative Revolution in allen Belangen, also im politischen, sozialen und kulturellen Sinne.
Seit dem Systemwechsel galt zwanzig Jahre hindurch die Aussage des Religionssoziologen Attila Károly Molnár, daß »die Bewahrung der Tradition, die Förderung der Kontinuität, der Schutz des Bestehenden heute bedeuten würden, nichtkonservative Institutionen und Werte zu schützen«. Aber erst im Jahr 2010 wurde klar, daß dies für Konservative bedeuten müsse, auf der Grundlage konservativer Werte und Institutionen zu revoltieren.
Zwischen 1990 und 2010 entstand aus politikgeschichtlicher Sicht eine ziemlich seltsame Situation, denn in dieser Situation wurden die Linken, die sich als revolutionäre Kraft verstanden, zu Konterrevolutionären, und die Rechten, die Revolution immer gescheut hatten, wurden Revolutionäre. Die Abneigung der letzteren war das stärkste Hindernis für politische Phantasie und kreatives Handeln – sie mußte einfach aufgegeben werden. Dafür gab es gute Beispiele: In der Redensammlung Friedliche Revolution von António de Oliveira Salazar, dem großen portugiesischen Staatsmann, heißt es etwa: »Es gab bisher viele Revolutionen, aber keine richtige.« Und Ronald Reagan erinnerte sich an die 1980er Jahre so: »Viele nannten es die Reagan-Revolution, aber ich denke, es war nur die Wiederentdeckung unseres gesunden Menschenverstandes«.
Viktor Orbán sagte 2010 zum Wahlsieg der Fidesz-KDNP, die erstmals eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit erreicht hatte: »In Ungarn wurde nicht nur die sechste freie Wahl abgehalten, sondern es fand eine Revolution in den Wahlkabinen statt. Wir können so tiefgreifende Veränderungen durchführen, wie es früher nur die Revolutionen konnten.« Es fand also eine echte Revolution statt, nicht nur eine politische Veränderung, die einer Revolution gleichkommt! Nur ihre Form unterschied sich von der üblichen Dramaturgie europäischer Revolutionen, ihr Inhalt aber – so András Lánczi (1) – enthielt die Möglichkeit einer »restaurativen Revolution«, die nach gekappten Wurzeln sucht und zu ihnen zurückgeht – zur Normalität nämlich.
Und tatsächlich: Während man den Postkommunismus mit zwanzigjähriger Verzögerung liquidierte, also den Systemwechsel vollzog, wurde sofort ein neues System geboren, das System der nationalen Zusammenarbeit. Dies war der Beginn einer neuen Ära, also ein historischer Anfang. 2010 bis 2012 kam es zu einer konstitutionell-institutionellen Wende: Das Grundgesetz beispielsweise »öffnet ein Fenster« (Péter Paczolay (2)) zum historisch-normativen Gehalt der Verfassung, das neue Wahlsystem und die damit verbundene nationale Konsultation (3) stärken die Gültigkeit der Mehrheitsdemokratie.
Zwischen 2010 und 2022 wurde zunächst der wirtschaftliche und dann der gesellschaftliche Systemwechsel beendet: mit einer patriotischen Wirtschaftspolitik, der Erhöhung des Anteils inländischen Eigentums und dem Aufbau eines arbeitsbasierten und familienfreundlichen Landes. Die jüngsten Aufgaben verbinden den Schutz nationaler Souveränität mit der Schaffung kultureller Souveränität, so daß die Stärkung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts auf dem Boden eines breiten nationalen Konsenses verwirklicht wird.
Nach der dritten Parlamentswahl in Folge mit einer Zweidrittelmehrheit für die Regierung wurde zunächst nur aus politisch-ideologischer, dann vier Jahre später aus historischer Perspektive klar, daß das System der nationalen Zusammenarbeit in seinem Wertgehalt und seiner Wirkungsweise ein revolutionär-konservatives Phänomen ist. Interessanterweise wurde dessen Dimension von denen erkannt, die am meisten Angst vor ihr haben, ihren Umfang aber nicht begreifen. Der Volkswirt und Politologe Zoltán Balázs zum Beispiel erklärte schon nach dem dritten Zweidrittelsieg, Radikalismus als Programm sei für ihn alarmierend, und er nannte die Regierung revolutionär rechts. Bereits damals wurde im Ausland wahrgenommen, daß sich in Ungarn etwas tat – Le Figaro schrieb: »Der Schutz der nationalen Identität ist eines der Schlüsselthemen der seit 2010 von Fidesz angekündigten konservativen Revolution.«
Die politischen Realitäten gingen Hand in Hand mit der Realität des Geistes, als die Erlangung der dritten Zweidrittelmehrheit mit der Erneuerung der Vierteljahresschrift Kommentár im Frühjahr / Sommer 2018 zusammenfiel. Danach definierten sich auch diejenigen, die sich der konservativen Revolution im Inland widersetzten, über die Zeitschrift. So war im Mai 2019 im Nachfolgeblatt der ehemaligen Heti Válasz (4) zu lesen: »Eine der wichtigen Entwicklungen im innerstaatlichen Kulturkampf der vergangenen anderthalb Jahre ist das entschiedene Auftreten der sogenannten ›Neuen Rechten‹. Obwohl die Neue Rechte Vorläufer hat, betrachten wir die Veröffentlichung des Magazins Kommentár im Herbst 2018 als das Hissen der Flagge.«
Die konservativen Gegner monierten, daß »die Nummern des neuen Kommentár die Kombination von ›Tradition und Revolution‹, das heißt die ›konservative Revolution‹ verkünden«. Drei Jahre später – nach der vierten Zweidrittelmehrheit – wiederholte einer der Mitautoren des Textes, der Politologe András Körösényi, diese Worte unverändert auf einer Konferenz. Die Anklagepunkte dieses »wahren Konservatismus« (auch bekannt als enttäuschter Fidesz, kritische Konservative) gegen die »Neue Rechte« sind immer die gleichen.
Körösényi hat sie bei der eben erwähnten Veranstaltung aufgeführt, und zwar wie folgt: ein Radikalismus, der sich in der permanenten Verfassungsgebung, in der kontinuierlichen Reorganisation institutioneller Strukturen, in der Entleerung der Gewaltenteilung und des Repräsentationssystems begreifen lasse; außerdem die Ablehnung der Rechtsstaatlichkeit, die zu einem Werkzeug des politischen Voluntarismus und der Willkür werden könne. Zudem handle es sich um eine autoritäre Machtausübung, wodurch das Orbán-Regime nicht einfach nur autoritär, sondern autokratisch sei. Schließlich folgt der erstaunlichste Vorwurf, nämlich der ständige Hinweis auf den Willen des Volkes, also der Mehrheit der Wählerschaft – dank dieser, so heißt es, werde der amtierende Ministerpräsident zum »gewählten Diktator«.
Die einzelnen Anklagepunkte sind nichts weiter als eine Mischung aus westlicher Transitologie und einer Abstraktion, die aus dem Zwang, westlichen Liberalen entsprechen zu wollen, geboren ist, die aber gerade am Wesentlichen vorbeigeht. Was wäre zum Beispiel aus konservativer Sicht das Problem, die Verfassung von 1989 durch ein Grundgesetz zu ersetzen? Denn warum hätte man eigentlich am zusammengeflickten, stalinistisch strukturierten 20. Gesetz von 1949 festhalten sollen? (5) Warum sollte ferner jene Einrichtung eine »plebiszitäre Führerdemokratie« mit einem »gewählten Diktator« an der Spitze sein, in der die Rechte bei vier aufeinanderfolgenden Gelegenheiten – in zwei verschiedenen Wahlsystemen! – ein verfassunggebendes Mandat erhält?
Es kann auch nicht schaden, sich bewußt zu machen, daß in demokratischen Verhältnissen allein die Meinung des Volkes, also der Wähler, zählt, die die Regierung und die dahinterstehenden Parteien regelmäßig in verschiedenen Formen erbitten (Unterschriftensammlung, nationale Konsultation, Referendum). Abschließend muß zur Kenntnis genommen werden, daß die zu Zeit und Ort passenden Antworten der ungarischen Nation von Eigeninteressen geleitet und nicht von außen, entsprechend den Erwartungen der internationalen akademischen Elite und der globalen Finanzkreise, gelenkt werden.
1989 machten externe und interne, gegenläufig interessierte Seiten, die zu gegebener Zeit auch Bündnisse miteinander eingingen, (6) es unmöglich, den ursprünglichen Sinn des Systemwechsels zu erfüllen. Obwohl die rechten Kräfte (national, bürgerlich, konservativ, christdemokratisch) zweimal an die Macht kamen, war das Moment der jüngst vergangenen Ohnmacht zu groß. In der Folge schien man beim zweiten Mal, zwischen 1998 und 2002, den Systemveränderungsprozeß abschließen zu können (»Die Zukunft hat begonnen«), doch der Frühling erstarrte.
Ab 2010 bot sich die Chance, eine durch und durch neue Ordnung zu schaffen: politisch, gesellschaftlich und kulturell. Damals wurde nicht nur ein neues System geboren, sondern eine neue Ordnung, nicht einfach die Beendigung der alten, sondern die Eröffnung einer neuen Ära. Dies war nicht nur das Ende von etwas, sondern ein Neuanfang. Von da an betraten wir unsere eigene Zukunft.
Ein integraler Bestandteil dieses Prozesses ist, daß in Ungarn in mehr als dreißig Jahren (1990 bis 2022) der rechte Flügel von der Peripherie in die politische Mitte und der linke Flügel von der Mitte an den Rand gewandert ist.
Die liberale Hegemonie ist langsam zerfallen, und in den letzten zwölf Jahren wurden die institutionell-intellektuellen Voraussetzungen einer konservativen Ära geschaffen, was den Beginn einer historischen Periode bedeutet, in der Grundwerte (Gott, Heimat, Familie, Arbeit, Heim, Sicherheit) mit revolutionärer Kraft zurückkehren. Wenn überhaupt, ist dies eine wahre konservative Revolution.
Derselbe Wunsch trieb die überall in der westlichen Zivilisation auftauchenden souveränistischen Bewegungen an – man denke nur an den Brexit (»Take back control«) oder den Sieg von Donald Trump (»Make America great again«); während diese aber auf Teilprobleme der Globalisierung reagierten und damit auch von ihr abhängig blieben, hat das ungarische Modell eine völlig neue Welt geschaffen. Die Rechte ist hierzulande nicht nur ein politisches Gegengewicht, sondern ein nationales Kapitalgewicht, und wir haben auch erkannt, daß der Konservatismus von heute nicht der Liberalismus von gestern ist.
Graf István Széchenyi (7) formulierte es in seinem Buch Über den Credit hinsichtlich der Reformzeit während des 19. Jahrhunderts so: »Ich gestehe, daß ich nicht so sehr zurückschaue wie viele meiner Landsleute, sondern eher nach vorne. Über die Vergangenheit haben wir keine Macht, wir sind Meister der Zukunft.« Wir befinden uns jetzt mitten in einer weiteren großen nationalen Erneuerung. Das historische Bündnis des breit verstandenen konservativen Lagers und der regierenden Rechten bildet das geistige und politische Zentrum Ungarns. Es bleibt nichts anderes übrig, als vorwärts zu gehen. Vorwärts, nicht rückwärts. (8)
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(1) – Philosoph und Politologe (geboren 1956), Rektor der Corvinus-Universität. Autor von Political Realism and Wisdom, New York 2015, Co-Autor von Renovatio Europae (hrsg. von David Engels), Lüdinghausen 2019.
(2) – Rechtswissenschaftler (geboren 1956), Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
(3) – Volksbefragung.
(4) – Ehemals Fidesz-nahe Zeitung. Das Nachfolgeblatt ist jetzt »kritisch konservativ«.
(5) – Die angeblich neue Verfassung der »Wende« 1989 war nichts als eine »Fassung« jener von 1949:
»Verfassung der Ungarischen Republik vom 20. August 1949 (Gesetzesartikel Nr. XX/1949) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Oktober 1989, in Kraft getreten am 23. Oktober 1989«.
(6) – Anspielung auf die von Postkommunisten und westlichen Finanzkonglomeraten bedrohte erste konservative »Kamikaze-Regierung« unter dem Ministerpräsidenten József Antall (Ung. Dem. Forum) und auf den Verrat der liberalen angeblichen Wendepartei SZDSZ, die bei der ersten Gelegenheit (1994) mit den Postkommunisten koalierte.
(7) – Graf István Széchenyi (1791 – 1860), liberaler Politiker des Vormärz, wegen seiner Leistungen »der größte Ungar« genannt. Hitel (Über den Credit) ist sein volkswirtschaftliches Hauptwerk.
(8) – Wahlkampfslogan des Fidesz 2022 (Előre, nem hátra!). Hátra heißt sowohl »übrig« als auch »zurück« oder »rückwärts«. Békés’ Wortspiel ist kaum übersetzbar; wörtlich: Es bleibt nichts anderes rückwärts (also: übrig), als vorwärts zu gehen. Vorwärts, nicht rückwärts.