Spätestens seit 2015 kann man erleben, wie eine Krise nach der anderen über uns hinwegrollt und sich dadurch ein Gefühl der Hilflosigkeit und Passivität ausbreitet.
Aber mußten die Dinge wirklich zwangsläufig so kommen, wie sie nun einmal gekommen sind, und werden sie sich mit Notwendigkeit in die angedeutete Richtung weiterentwickeln? Oder kann man dem Rad der Geschichte, das sich ebenso unaufhaltsam wie gnadenlos zu drehen scheint, doch in die Speichen greifen? Diese Fragen zu stellen heißt zugleich, die Frage nach dem Sinn unseres Tuns aufzuwerfen.
Damit sind wir bereits mittendrin in der Geschichtsphilosophie. Bei diesem Thema scheint es auf den ersten Blick eine überraschende Übereinstimmung zwischen der linken Postmoderne und der Neuen Rechten zu geben. Insbesondere mag man einerseits an Jean-François Lyotards Diagnose denken, die »große Erzählung« – und damit auch die Geschichtsphilosophie – habe »ihre Glaubwürdigkeit« verloren, sowie andererseits an den Ausspruch rechter Anti-Gaullisten, den Armin Mohler wohlwollend zitiert hat und der da lautet: »Es gibt keine Geschichtsphilosophie«. (1)
Bei näherer Betrachtung erweist sich diese geschichtsphilosophieskeptische Querfront jedoch als einigermaßen löchrig. So hat etwa Erik Lehnert in der Sezession 94 darauf hingewiesen, daß Mohlers Diktum weniger als Tatsachenbehauptung, sondern vielmehr als Willensbekundung zu verstehen ist: Eine Geschichtsphilosophie, die den gesetzmäßigen Fortgang der Zeitläufte beschriebe und damit zugleich alle Versuche, sie zu ändern, als aussichtlos erscheinen ließe, soll es einfach nicht geben.
Von linker Seite wiederum mag es heute zwar ein Lippenbekenntnis gegenüber dem postmodernen Gemeinplatz von den vielfältigen, sich nicht in ein einheitliches »Metanarrativ« fügenden Erzählungen geben, praktisch aber wird jeder gnadenlos bekämpft, der sich nicht dem geschichtsphilosophischen Ideal einer Zukunft in absoluter Gleichheit und Vielfalt unterwirft. Man könnte mutmaßen, daß diejenigen, die die Geschichtsphilosophie in theoretischer Hinsicht leugnen, sie sich in praktischer Hinsicht um so mehr zunutze machen, wohingegen diejenigen, die die Geschichtsphilosophie denkerisch anerkennen, sie im konkreten Handeln nicht gelten lassen.
Wie also steht es um die Geschichtsphilosophie? Ist sie überhaupt sinnträchtig und welche Rolle spielt sie, wenn es darum geht, in einer konkreten historischen Situation zu handeln?
Zunächst ist eine Tendenz festzustellen, unter »Geschichtsphilosophie« nur eine bestimmte Spielart dieser zu verstehen, nämlich eine linear-fortschrittliche Deutung der Historie. Diese Verengung hat nicht zuletzt damit zu tun, daß der Terminus »Philosophie der Geschichte« (»philosophie de l’histoire«) zum erstenmal bei Voltaire auftaucht. (2) Im Anschluß an diesen Propagandisten der Aufklärung war die Geschichtsphilosophie im Grunde während der gesamten Epoche der Aufklärung eine Fortschrittserzählung im Lichte einer Vervollkommnung von Vernunft und Freiheit. Diese Engführung von naivem Fortschrittsoptimismus und Geschichtsphilosophie als solcher hat etwa den Philosophen Odo Marquard dazu gebracht, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen »Abschied von der Geschichtsphilosophie« zu verkünden. (3)
Allerdings ist die Geschichtsphilosophie höchstens ihrer Benennung nach, nicht aber von ihrem Ursprung her dem aufklärerischen Progressismus verpflichtet. Auch Platon und Augustinus waren nämlich Geschichtsphilosophen – nur eben ohne dieses Wort zu kennen und auch ohne eine simple Fortschrittserzählung vorzutragen. Darüber hinaus ist natürlich auch auf eine Reihe bedeutender Denker zu verweisen, die während und nach der Zeit der Aufklärung auf ganz andere Weise über Geschichte nachgedacht haben. Man denke etwa an Giambattista Vico, Johann Gottfried Herder, Oswald Spengler oder auch Arnold J. Toynbee. Diese Denker haben trotz teils gravierender Unterschiede dem simplen Fortschrittsglauben komplexere Auffassungen der Geschichte entgegengesetzt und dabei – wenn auch auf verschiedene Weise – insbesondere dem Gedanken volks- oder kulturspezifischer Zyklen von Entstehung, Blüte und Verfall Rechnung getragen.
Gegenwärtig bemüht sich etwa David Engels um eine Wiederbelebung dieser Traditionslinie, wobei auch Hegel zu Recht eine Rolle spielt. (4) Denn entgegen einer weitverbreiteten Meinung ist Hegel kein simpler Fortschrittsdenker. Die Träger des die Weltgeschichte bestimmenden Weltgeistes sind ihm zufolge immer einzelne Volksgeister, denen eine je einzigartige Rolle in der Entwicklung der Freiheit zukommt und die die zur Ontogenese analogen Entwicklungsstadien des Jugend‑, Mannes und Greisenalters durchlaufen. (5) Ohne diese Traditionslinie hier näher verfolgen zu können, sei der springende Punkt hervorgehoben: Selbst wenn man sich wie Marquard von der Geschichtsphilosophie eines bestimmten Typs – nämlich der aufklärerischen Fortschrittlerei – verabschieden möchte, folgt daraus nicht, daß alle Geschichtsphilosophie über Bord geworfen gehört.
Daß man sich aber zumindest vom geschichtsphilosophischen Aufklärungsmythos verabschieden sollte, legt ein nüchterner Blick auf die Entwicklung von Freiheit und Vernunft seit der Französischen Revolution nahe. Die Freiheit der Aufklärer hat sich nämlich als individualistische Libertinage und ihre Vernunft als alles zersetzende kapital- und technikförmige Zweckrationalität erwiesen. Diese Freiheit und diese Vernunft haben niemanden wirklich frei und vernünftig gemacht. Statt dessen haben sich die Aufklärungsideale als die Totengräber aller historisch gewachsenen Institutionen erwiesen, aus denen heraus – wie unter anderen Hegel und Gehlen wußten – allein echte Individualität und Persönlichkeit zu entstehen vermögen. Ohne Institutionen gibt es nur eine atomisierte Schwundform des Menschseins, eine kulturell wie geistig homogenisierte – und daher austauschbare – Subjektivität.
Allerdings gibt es Bedenken, die nicht nur den Progressismus, sondern auch die Geschichtsphilosophie insgesamt in ein zweifelhaftes Licht rücken. So könnte man etwa in Anlehnung an die eingangs erwähnte Abneigung Mohlers gegen die Geschichtsphilosophie fragen, ob nicht jedwede Philosophie der Geschichte ein Hindernis darstellt, wenn es darum geht, daß ein Volk in einer konkreten historischen Situation zum Handeln – und selbst ein Unterlassen ist ja ein solches – verdammt ist. Wer sich mit einer unausweichlich waltenden historischen Dynamik konfrontiert sieht, kann, so scheint es zumindest, leicht die Zuversicht in die Sinnhaftigkeit seines Widerstandes gegen den Zeitgeist und damit letztlich den Mut zur Tat verlieren.
Für eine solche Befürchtung gibt es aber weder psychologisch noch logisch zwingende Gründe. Die Überzeugung, daß die Geschichte dem Chaos preisgegeben ist, mag bei dem einen das Handeln genauso lähmen wie beim anderen der feste Glaube an die Unausweichlichkeit des Weltenlaufs. Umgekehrt zwingt nicht einmal die Annahme eines sich mit Notwendigkeit erfüllenden Schicksals dazu, in Defätismus zu verfallen. Ablesbar ist das etwa an Spenglers Reaktion auf den Vorwurf, seine Geschichtsphilosophie sei pessimistisch. »Pessimismus heißt«, so Spengler, »keine Aufgaben mehr sehen«. (6)
Eine solche Einstellung folgt in der Tat nicht aus seiner Kulturmorphologie. Denn der von ihm diagnostizierte »Untergang des Abendlandes« hätte nach eigenem Bekunden genausogut die »Vollendung der Abendlandes« heißen können. (7) In einer Zeit der Vollendung zu leben besagt nun aber in keiner Weise, daß man zur Untätigkeit verdammt wäre. Vielmehr erwächst nach Spengler jedem Menschen gerade aus seiner je besonderen historischen Situation – und sei sie eine des Untergangs oder der Vollendung – ein spezifischer Kreis von Aufgaben. Und man darf ergänzen: Selbst wenn man auf verlorenem Posten steht und alle Handlungsoptionen verschwunden scheinen, geht dem illusionsbefreiten Chronisten niemals die Arbeit aus.
Nachdem diese naheliegenden Einwände abgewehrt sind, können wir uns nun der Frage nach der Geschichte und ihrem möglichen Sinn zuwenden. Der Ausdruck »Geschichte« birgt eine Doppeldeutigkeit in sich. Gemeint sein können erstens die res gestae, das heißt: die Ereignisse und die Taten, die sich faktisch zugetragen haben, oder es kann zweitens die Rede sein von der historia rerum gestarum, das heißt: der erzählenden Ordnung des Geschehenen. Die Vorkommnisse, um deren Aufarbeitung und Verständnis es der Geschichte im zweiten Sinne geht, betreffen dabei im wesentlichen das menschliche Geschick. Ein Naturereignis wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 ist Teil der allgemeinen menschlichen Historie und nicht bloß einer Naturgeschichte, insofern dieses Unglück den zivilisierten Menschen traf, und zwar nicht nur physisch, sondern auch geistig. Nur so erklärt sich, daß sich durch diese Naturkatastrophe die Theodizeefrage erneut mit voller Wucht dem menschlichen Bewußtsein aufdrängte. Davon zeugt beispielhaft Voltaires Candide oder der Optimismus von 1759, in der Leibnizens These, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, mit satirischem Spott überhäuft wird. An diesem Zusammenhang von Geschichte, Unglück und Theodizee läßt sich ablesen, daß die Geschichtsphilosophie letztlich nicht ohne die Frage nach dem Sinn auskommt.
Theodor Lessing hat gefordert, zwei Bedeutungen des »Sinns« der Geschichte zu unterscheiden, nämlich einerseits »Ordnung (Rhythmus)« und andererseits »Wert (Bedeutsamkeit)«. (8) Gerade am Sinn der letztgenannten Spielart führt kein Weg vorbei, wenn man sich der Philosophie der Geschichte widmet. Das zeigt sich, wenn auch wohl gegen die Intention ihres Autors, nicht zuletzt an Lessings eigener Konzeption: In ihrem Zentrum steht nämlich die These, daß ein solcher Sinn der Geschichte nur als eine menschliche Rückprojektion zustande kommen könne. Die Geschichte sei nichts anderes als die »nachträgliche Sinngebung des Unsinnigen«. (9) Gerade an dieser Definition läßt sich aber aufzeigen, daß die denkende Beschäftigung mit der Geschichte ohne Sinnpostulat unmöglich – oder eben letztlich selbst sinnlos – ist. Wenn der Sinn nämlich nicht objektiv zu finden ist, muß er eben subjektiv unterstellt werden, damit überhaupt von einer Geschichte statt von einem bloßen Geschehen die Rede sein kann.
Die unumgängliche Sinnfrage der menschlichen Geschichte ist letztlich sogar eine Heilsfrage. Josef Pieper hat diesen Gedanken in seinem Buch Über das Ende der Zeit ins Zentrum einer tiefsinnigen Meditation gestellt und in dem Satz zusammengefaßt: »Was nämlich eigentlich und tiefsten Grundes in der Geschichte geschieht, ist«, so Pieper, »Heil und Unheil.« (10) Mit diesen offenkundig theologischen Kategorien ist nun auch die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie aufgeworfen. Es mag zunächst so scheinen, als stellte die Theologie Voraussetzungen auf, die vom Standpunkt der Philosophie prinzipiell ausgeschlossen sind.
Pieper aber betont, daß sich bei genauerer Betrachtung der Geschichte des Denkens die Gleichursprünglichkeit von Philosophie und Theologie zeigt – ja, der Übergang von Philosophie zu Theologie erweist sich selbst als einer, der im konsequenten Philosophieren angelegt ist. Denn das methodisch angeleitete Nachdenken, wie es für die Philosophie charakteristisch ist, muß – um sich nicht in einem endlosen Reflexionsgang zu verlieren – zu guter Letzt in der Schau von etwas münden, das den menschlichen Erkenntnisbemühungen vorhergeht und sie überschreitet. Die Philosophie zielt, mit anderen Worten, letztlich auf die geistige Offenbarung eines Mehr-als-nur-Menschlichen, Transzendenten, Göttlichen.
Gott offenbart sich aber nicht nur auf geistige Weise, sondern auch ganz real in der menschlichen Geschichte, die selbst wiederum wesentlicher Gegenstand der Offenbarung ist. Der vielleicht größte Vorzug der christlichen Geschichtsauffassung ist, so unwahrscheinlich es zunächst klingen mag, gerade ihr Realismus. Denn während die mit Hilfe von Menschenhirnen erdachten Theorien über den Lauf der Geschichte sich im Grunde immer nur mit schematischen Konstruktionen zu behelfen wissen, ist das christliche Geschichtsbild so eigentümlich, seltsam und schillernd, wie es eigentlich nur die Realität selbst sein kann.
Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht in der eigentümlichen geschichtstheologischen Dialektik von Heil und Unheil. Einerseits hat sich mit Geburt, Tod und Auferstehung des Gottesmenschen Jesus Christus das alles entscheidende und heilbringende Geschehen in der Geschichte vollzogen. Die Zeit selbst ist mit der Inkarnation eigentlich schon erfüllt – und doch bleibt noch eine allen, bis auf den himmlischen Vater, unbekannte Dauer bis zur Wiederkehr Christi, die dann im Grunde nur das Ende des Endes bedeuten wird. So gesehen lebten schon die Jünger Jesu in der Endzeit, in einer Art eschatologischen »Posthistoire«.
Das, was man aus der Perspektive des alles entscheidenden Heilsereignisses als Nachgeschichte bezeichnen mag, ist aber in anderer Hinsicht zugleich der Beginn der sich zunehmend politisierenden Geschichte. Diesen Gedanken hat zumindest Donoso Cortés in seinem »Thermometer-Gleichnis« (Maschke) zum Ausdruck gebracht: Die christliche Religion habe ihren unüberbietbaren Höhepunkt bereits im innigen Verhältnis von Jesus und seinen Aposteln gehabt. In dem Maße, in dem in der Zeit danach das religiöse Thermometer fiel, stieg – so Donso Cortés – parallel das politische; beides zuerst kaum merklich und dann immer stärker.
Einen, wenn nicht sogar den entscheidenden Wendepunkt im Verhältnis von Politik und Religion erkennt der spanische Diplomat schließlich in Luthers Reformation, »diesem großen politischen und sozialen wie religiösen Skandal«. (11) Damit beginnt ein Niedergang, der schließlich in der totalen Verkehrung der beiden »Thermometer« kulminiert: der Französischen Revolution. Aus der Totalwerdung der Politik, die aus diesem Prozeß resultiert, zieht Donoso Cortés einen Schluß, den man als Nachgeborener nur als gleichermaßen hellsichtig wie beängstigend bezeichnen kann: »[D]ie Wege sind bereitet für einen riesigen, kolossalen, universellen, ungeheuren Tyrannen […].« (12)
Man mag bei diesem Zitat vielleicht zunächst an die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts denken. Jedoch ist auch ein Bezug auf den Antichrist, dessen Auftreten nach christlichem Verständnis das absolute Ende der Geschichte einläuten wird, zu bedenken. Der Antichrist ist nämlich trotz seiner heilsgeschichtlichen Rolle eine eminent politische Gestalt. Oder anders ausgedrückt: Gerade weil seine heilsgeschichtliche Rolle darin besteht, ein letztlich von Christus zu überwindender Gegenspieler des Heils zu sein, gehört er nicht nur der Sphäre der Religion, sondern auch der Sphäre der Politik an. Die prophezeite Herrschaft des Antichristen ist dabei eine totale und weltumspannende, weshalb Pieper zu Recht feststellt: »Im gleichen Augenblick, in welchem Weltherrschaft im vollen Sinne möglich geworden ist, ist auch der Antichrist real möglich geworden.« (13)
Es spricht zudem viel dafür, daß der Totalitarismus des Antichristen zugleich ein wohltätiger und friedliebender Humanismus sein wird. Wladimir Solowjew hat in seinem in vielen Punkten hellseherisch anmutenden Text Kurze Erzählung vom Antichrist aus dem Jahr 1900 diesen nicht umsonst als Autor eines Werks mit dem Titel »Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Welt« dargestellt. (14) Vor diesem Hintergrund muß man zugeben, daß der Globalismus unserer Tage, wie er sich unter anderem im weltweiten Corona-Regime und den ubiquitären Great-Reset-Plänen des Weltwirtschaftsforums äußert, nicht ganz zu Unrecht teuflischer Mittel und Ziele verdächtigt wird – auch wenn der Antichrist natürlich nicht der Teufel höchstpersönlich, sondern ein Mensch ist, der aber über »die Kraft des Satans« (2. Thess 2,9) verfügt.
Mit dieser wird er auch die Religion selbst korrumpieren. Vorausgesagt ist nämlich ein massenhafter Abfall vom Glauben. Jedoch ist dieser freilich nur das letzte zu überwindende Moment innerhalb der übergreifenden Heilsgeschichte. Kurz: »Das Scheitern des Christentums ist christliche Doktrin«, wie Gómez Dávila sagt. (15) In einer Wendung mit optimistischerem Klang könnte man diesen Satz allerdings auch dahingehend umformulieren, daß das Christentum letztlich über das eigene Scheitern triumphieren wird.
Die entscheidende Frage für uns heute ist nun, ob eine solche heilsgeschichtliche Konzeption das politische Handeln nicht geradezu überflüssig macht. Wenn die Herrschaft des Antichristen ohnehin unabwendbar ist und letztlich ja sogar den Auftakt für das Heilsereignis der Wiederkunft Christi bildet, muß sich der Christ nicht sogar nach dem Antichrist sehnen? Daß dem nicht so sein kann, zeigt sich insbesondere an der Figur des Katechon, des »Aufhalters«, die Paulus im zweiten Brief an die Thessalonicher thematisiert und die Carl Schmitt in besonderer Weise für sein Denken fruchtbar gemacht hat.
Schmitt erkennt im Katechon eine notwendige geschichtsphilosophische Bedingung dafür, daß im Christentum so etwas wie politisches Handeln und weltliche Herrschaft überhaupt möglich wird: »Ich glaube nicht, daß für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Kat-echon überhaupt möglich ist. Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt.« (16)
Die Möglichkeit politischen Handelns im Rahmen des Christentums ist damit aufgespannt zwischen drei Punkten: erstens dem Bewußtsein, daß eines unbekannten Tages der völlige Zusammenbruch jeder gedeihlichen sittlichen, politischen und religiösen Ordnung sowie die Errichtung eines erdumspannenden Totalitarismus von geradezu satanischer Qualität welthistorisch gesehen unvermeidlich sind; zweitens dem Wissen um die Existenz der ebenso politischen wie heilsgeschichtlichen Rolle des Katechon, der die Herrschaft des Antichristen zurückhält; und drittens der festen Hoffnung, daß die Herrschaft des Antichristen durch Christus beendet wird, wodurch zugleich die unglückselige Zeit und die Geschichte an ihr absolutes Ende kommen.
Wer diese Spannung aus- und aufrechterhalten kann, ermöglicht sich eine eigentümliche Kombination aus Gelassen- und Entschlossenheit im politischen Denken und Handeln. Denn einerseits kann er gänzlich illusionslos auf die Gegenwart und die Zukunft blicken, ja er kann sogar gelassen der Möglichkeit des unvermeidlichen Niedergangs ins Angesicht schauen. Andererseits verhindert die niemals ganz auszuschließende Möglichkeit eines erfolgreichen katechontischen Aufbäumens die verzweifelte Flucht ins Nichtstun. Wer wie der Christ weiß, daß sich das Heil in der Geschichte gerade über den Umweg des Untergangs verwirklicht, kann selbst in einer als ausweglos empfundenen Lage entschlossen zu Werke gehen.
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(1) – Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986, S. 112; Armin Mohler: Die Fünfte Republik, München 1963, S. 101.
(2) – Vgl. Artikel »Geschichtsphilosophie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. v. Joachim Ritter, Basel / Stuttgart 1974, S. 416.
(3) – Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973, S. 20 f.
(4) – Vgl. David Engels: »›Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit?‹ Hegel und der ›Fortschritt‹ in der Weltgeschichte. Überlegungen zur Verbindung von Dialektik und Kulturmorphologie«, in: Olaf Breidbach, Wolfgang Neuser (Hrsg.): Hegels Naturphilosophie in der Dritten Moderne. Bestimmungen, Probleme und Perspektiven, Berlin 2010, S. 21 – 40.
(5) – Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 7, Frankfurt a. M. 1986, § 347.
(6) – Oswald Spengler: »Pessimismus?«, in: Reden und Aufsätze, München 1937, S. 74.
(7) – Vgl. ebd., S. 62.
(8) – Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1921, § 40, S. 75.
(9) – Ebd.
(10) – Josef Pieper: Über das Ende der Zeit, Neuaufl., Kevelaer 2014, S. 15.
(11) – Juan Donoso Cortés: »Rede über die Diktatur«, in: ders.: Diktatur. Drei Reden, hrsg. v. Günter Maschke, 2., vermehrte Aufl., Wien /Leipzig 2018, S. 47 f.
(12) – Cortés: Diktatur, S. 50.
(13) – Pieper: Über das Ende der Zeit, S. 93.
(14) – Wladimir Solowjew: Kurze Erzählung vom Antichrist, 11. überarb. Aufl., Trier 2019, S. 23.
(15) – Nicolás Gómez Dávila: Sämtliche Scholien zu einem inbegriffenen Text, Wien /Leipzig 2020, S. 92.
(16) – Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1974, S. 29.