Was ich als Kind und Heranwachsender erlebt habe, ist das, war das wahr? Es ist vergangen, heißt es; es war alles einmal wahr. Früher eben. Ein paar Kulissen mögen noch stehen, aber was in ihnen an Leben war, ist fort, überwachsen, verweht, verwest, hat also sein Wesen verloren.
Kann man dieses Verlorene aber noch immer für eine Tatsache halten, gewissermaßen eine ohne Bestand?
Wesen soll einst als eigenes Verb im Gebrauch gewesen sein; existiert aber über das Partizip anwesend hinaus nurmehr mit dem Vergänglichkeit anzeigenden Präfix: verwesen. Was ich früher erlebte, was ich einst war, was mein Leben ausmachte, das ist verwest, verlor also, was sein Wesen ausgemacht hatte.
Wo von Verwesung gesprochen wird, geht es im engeren Sinne um den Tod und das eingesargte oder in Urnen verschlossene Vergängnis auf Friedhöfen, die vor allem eines bieten – diesen Frieden des Nicht-mehr-seins.
Wo nichts Wesentliches mehr ist, jedenfalls nichts menschlich Wesentliches, da bleibt der Frieden der sich selbst überlassenen Natur, das stille Dasein der Pflanzen, das sommerliche Gezirp der Grillen, das Rauschen und Knacken in den Bäumen, der Gesang der Vögel, die Geräusche dessen, was immer ist, obwohl die von uns geschundene Natur selbst leiser wurde und mancherorts zu verstummen droht.
Heilige Haine wären nicht heilig mit dem Fortplappern menschlicher Stimmen und all den Verrenkungen ihrer angeblichen Vernunft. Sie bedürfen des Schweigens und des Befreitseins vom Homo sapiens. In diesen Hainen west fort, was wesentlich ist; der Mensch selbst, schon gar das Individuum ist’s nicht.
Daß wir an der Hand der Mutter ins Leben gingen, in Wolle gestrickt in ofengeheizten Klassenzimmern saßen, sommers von der hohen Eisenbahnbrücke gefährlich tief in den Fluß sprangen, dazu all die Geräusche, die Düfte, die mit dem Einsetzen des Bewußtseins beginnenden Ängste, das Herzklopfen der Hoffnungen und Begierden, der Hunger und die Sattheit der frühen Jahre, das alles war unmittelbar empfunden; aber je unmittelbarer es war, um so entfernter, ja unwahrer, fern aller echten Tatsachenhaftigkeit erscheint es, wenn es längst nicht mehr gegenwärtig ist.
Aber eigenartig:
Das, was jetzt gerade ist, all die gegenwärtigen Tatsachen, wollen mir weniger stark und echt vorkommen als die gewesenen, deren Wesen nun mal dahin scheint. Weil alles dahingeht, ist vom Jetzigen gewiß, daß es ebenso verschwindet wie das, was wir früher, also ursprünglich, wohl für echter und unvergänglicher hielten, bevor wir uns an das beständige, sich sogar beschleunigende Vergängnis gewöhnten.
Mag sein, als Kind, noch nicht so schwer angefüllt mit Vergangenheit, trauten wir dem Sein mehr zu und hatten erst recht keine Vorstellung von all dem Verwesenden, was bereits vor unserer Ankunft angehäuft war, denn das Vergangene ist ebenso unermeßlich wie das Zukünftige.
(Ach so, Bosselmann, du suchst nach dem Beständigen! Lächerlich. Klar, das gibt es nicht. Pantha rei. Weißt du doch. Nichts bleibt. Alles fließt. Alle vermeintliche Statik ist letztlich instabil, bald zeigen sich Risse. Zudem die Entropie, die Boltzmann-Konstante, an der Ludwig Boltzmann selbst litt, die unerbittliche Richtung auf den Zerfall, den Kältetod des Universums hin. Sieh dich nur an: Es ist auch in dir. Rilke beschrieb es. Du verfällst … – Und Boltzmann selbst erhängte sich schließlich an einer Eisenstange seines Fensters.)
Ja, ja, weiß man alles – bis in binsenweise Sprüche hinein. Nichts bleibt. Besser an das Vergehen gewöhnen und wissend weise über jene lächeln, die gerade aufblühen und titanisch vermessen meinen, ihre Kraft würde wachsen und sie immer noch stabiler werden lassen. Man spürt ja, wie man sich wieder der Erde zuneigt, der Mutter Erde. Staub, von dem wir genommen, Staub, zu dem wir werden. Ja, unerbittlich, andererseits trostreich.
Das Absterben, die Richtung auf den Zerfall hin eben nicht als Bitternis aufzufassen gilt als stoische Übung. Wer sich nicht einfach damit abfindet, sucht Hoffnung im metaphysischen Raunen und in den Gebeten und Gesängen des Religiösen. Religion bindet das gnadenlose Vergehen an die verheißene Gnade eines neuen Lebens und sogar einer neuen Erde. Künftiges Heil, das uns Zweiflern jedoch noch weniger wahr erscheinen will als das, was nachweislich hinter uns liegt und selbst längst nicht nur als Heil erlebbar war.
Nachweislich? Was davon hast du denn von Gewicht in der Hand? Es gibt Dokumente, ja, dein Kindergekritzel, deine ungelenke Schrift als Erstkläßler, all die Zeugnisse und eine Menge Fotos, die deine Oberfläche abbilden und dein Dasein lang, lang überdauern werden. Jeder Einkaufszettel, ein nichtiges Papier, existiert, wird er nur aufgehoben, länger als du selbst. Aber wovon denn legt ein Zeugnis wirklich Zeugnis ab, was an echter existentieller Wahrheit verbrieft es dir, wenn doch alles vor dir zurückweicht?
Walter Benjamin mag so ähnlich empfunden haben:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These IX, 1940)
Was aber halten wir in diesem Sturm fest? Ist die närrische Liebe zum Gold so beständig, weil dieses schöne Element Beständigkeit suggeriert? Vermutlich. So beständig wie ein Diamant hart ist und eher alles andere schneidet, als daß er selbst zerschnitten werden könnte. Denkmäler werden errichtet für die Ewigkeit, Grabmale sind deswegen aus Granit. Und für ein Leben soll wenigstens ein Tattoo währen und überdauern, bis es mit uns endlich verwest.
Ich liege noch nicht auf dem Friedhof. Aber das, was mein Leben früher ausmachte, ist dahin und längst schon dort, wenn es überhaupt irgendwo ist. Eher ist es nirgendwo. Nirgendwo – wie die Hand der Mutter, an der wir so unsicher losliefen, wie die Wolle, von der wir umstrickt waren, wie der Ofen, der uns einst wärmte, wie das Klassenzimmer, in dem wir mal saßen. Fort alles, übrig nur wabernde Erinnerungen, undeutliche Spuren.
Und längst springt keiner mehr von der Eisenbahnbrücke gefährlich in den kleinen Fluß darunter.
Nur eben die Eisenbahnbrücke ist noch da, die Gleise und die viel, viel schneller über sie hinwegjagenden Züge. Noch! Denn mit ihrem Tempo, mit allem sich forcierenden Tempo scheint sich das Vergängnis sogar zu beschleunigen, obwohl man meint, das Ziel in immer kürzeren Zeiten zu erreichen, während es sich jedoch tückisch entzieht, auf eine Weise, daß man es sich lachelnd, ja kichern vorstellt, wie ein Mädchen, das einen verspottet, während es flink auf leisen Sohlen entweicht, so daß wir nur noch sein fernes perlendes Lachen von irgendwoher hören. Bis selbst dieses spöttische Kichern leise verklungen ist.
Trost, wenn man ihn überhaupt nötig hat, mag darin liegen, daß eines nicht vergänglich ist, nämlich: Mit mir stirbt nicht das Prinzip, das mich – wie alles andere auch – hervorgebracht hat.
Spannend ist eigentlich nur eines, die Unabsehbarkeit der Kontingenzen. Was geschieht, das kann so, aber auch anders geschehen, wie die von mir nicht zu überblickenden Kausalitäten nun mal als Schicksalsfaden von den drei Moiren gesponnen sein mögen. Unterschied der Widerfahrnisse: Das Glück kann ebenso in meinem Weg liegen wie die Falle.
Auch das Ungeschick gehört zu meinen Geschicken, und in jeder Summe gibt es viele Differenzen. Interessant auch, daß wir das eine fürchten, sich ein anderes, etwas Ungeahntes und plötzlich uns Entgegenstehendes aber als viel furchtbarer erweist – oder das gefürchtete Furchtbare sich plötzlich verblüffend als Glücksfall und Chance herausstellt.
Was den Tod betrifft, so weite man den Fokus, etwa mit Arthur Schopenhauers Gedanken:
„Die Schrecken des Todes beruhen großentheils auf dem falschen Schein, daß jetzt das Ich verschwinde, und die Welt bleibe. Vielmehr ist das Gegentheil wahr: die Welt verschwindet, hingegen der innerste Kern des Ich, der Träger und Hervorbringer jenes Subjekts, in dessen Vorstellung allein die Welt ihr Daseyn hatte, beharrt. Mit dem Gehirn geht der Intellekt und mit diesem die objektive Welt, seine bloße Vorstellung, unter. Daß in andern Gehirnen, nach wie vor, eine ähnliche Welt lebt und schwebt, ist in Beziehung auf den untergehenden Intellekt gleichgültig.“
In Variante:
„Sehe ich nun auf diese Weise Eines sich meinem Blicke entziehen, ohne daß ich je erfahre, wohin es gehe, und ein Anderes hervortreten, ohne daß ich je erfahre, woher es kommt; haben dazu noch Beide die selbe Gestalt, das selbe Wesen, den selben Charakter, nur allein nicht die selbe Materie, welche jedoch sie auch während ihres Daseyns fortwährend abwerfen und erneuern; – so liegt doch wahrlich die Annahme, daß Das, was an seine Stelle tritt, Eines und dasselbe Wesen sei, welches nur eine kleine Veränderung, eine Erneuerung der Form seines Daseyns, erfahren hat, und daß mithin was der Schlaf für das Individuum ist, der Tod für die Gattung sei. (…) Einem unvergleichlich länger lebenden Auge, welches mit EINEM Blick das Menschengeschlecht, in seiner ganzen Dauer umfaßte, würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich nur darstellen als eine anhaltende Vibration, und demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm würde, gleichwie unserem Blick der schnell gedrehte Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrierende Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Saite als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen.“
Nicht die Vorstellung bleibt, das Wesen schon, das also, was beständig, woher auch immer rührend, blind oder als Betriebssystem Gottes zum Dasein drängt. Diese Kraft ruht nicht. Sie will und will. Ich bin nur eine unmaßgebliche Objektivation darin, vergänglich, nicht wesentlich, allein ein Ausdruck dieses Wesens, ein Blatt am Baum, viel ähnlicher den verwelkten als den neu sprießenden, als ich’s selbst wahrhaben möchte, weil ich gleich allen anderen Individuen nun mal in mein Ich gemäß prinicipium individuationis vernarrt bin.
AndreasausE
"Wesen soll einst als eigenes Verb im Gebrauch gewesen sein" - nur so kleiner Einwurf: Mir ist das ganz üblicher Sprachgebrauch, etwa "die wesen so vor sich hin". Man könnte auch sagen "die leben so vor sich hin", aber ich sage lieber "wesen", und in aller Regel werde ich von Mitmenschen verstanden, werde also deswegen nicht als im Frühmittelalter vor sich hin wesender Vormensch wahrgenommen.