Denn nach essayistischen Umwegen über Digitalisierung (Das Netz in unsere Hand; Robokratie), »Neue Rechte« (Die Angstmacher) und Michael Kühnen (Der Dichter und der Neonazi) widmet sich Wagner wieder seinen Leidenschaftsthemen: Anarchie, Staatsüberwindung, Herrschaftskritik, Vergemeinschaftung von unten.
Als »Fahnenflucht in die Freiheit« bezeichnet der luzide schreibende Autor dabei einen Vorgang, der darin bestehe, daß »Deserteure des Staates« ihre Heimstatt verlassen, »um an ihren Zufluchtsorten neue Gemeinwesen zu gründen«. Wagner bewundert die Exilanten aller Zeiten, beginnend mit dem Auszug der Israeliten aus der Knechtschaft des ägyptischen Pharaos.
Als zentrales Phänomen, geradezu als »Widerstandsform«, benennt er die »Flucht vor repressiver Herrschaft«. Doch obschon die auch je einzeln lesbaren Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie historisches und ideenpolitisches Detailwissen vermitteln und auf keiner Seite langweilen, wachsen mit fortwährender Lektüre die Zweifel, ob ausgerechnet Wagners Kernthese A, wonach historische Fluchtbewegungen die Entfaltung demokratischer Ideen im globalen Maßstab begünstigt haben, mit Wagners Kernthese B, wonach die Fluchtbewegungen durch innerliche Abkehr von jedweder Staatsform motiviert wurden, harmoniert.
Bei seinen historischen Streifzügen durch die Welt von Staatsflüchtigen aller Zeiten und Erdenteile – von Aussteigern der Frühgeschichte über Indianerstämme bis hin zur identitär-revolutionären Bewegung der Zapatisten im 20. Jahrhundert – vernachlässigt der Autor bisweilen den Umstand, daß die neue Lebensrealität vor allem deshalb auch im jeweiligen Exil von oftmals starkem Zusammenhalt und flachen Hierarchien geprägt war, weil man eben als temporäre Not- und Gegengemeinschaft zusammenleben mußte. Gewiß war man die Ausnahme von der Norm. Doch für die fahnenflüchtige Ausnahme bedarf es überhaupt dieser allgemein gesetzten Norm – in diesem Fall der staatlichen Verfaßtheit von Gemeinwesen bzw. der hierarchischen Einbettung in ein großes Ganzes.
Auch Wagners Insinuieren, daß der Weg zur staatlichen Organisation menschlichen Lebens soziale Ungleichheiten verursachte, scheint angreifbar: Denn es ist schwer vorstellbar, daß die vorstaatlichen Gefüge in den Jahrtausenden vor 3500 v. Chr. (als die ersten Stadtstaaten entstanden) ohne Machtverhältnisse und soziale Ungleichheiten existierten. Ignoriert wird bei der fundamentalen Staatsnegation überdies die Erkenntnis, daß die Institution Staat – trotz historischer Gegenbeispiele und bekannter Exzesse – in summa die Chance für den einzelnen Bürger hob, durch verbindliche Rechtssysteme vor feudaler Willkürherrschaft und privat-launischer Tyrannei geschützt zu sein.
Wagner idealisiert überdies die »kollektive Flucht vor dem Staat« insofern, als daß er den Flüchtenden eine »Neugründung eines von Herrschaft befreiten Gemeinwesens« als primäres Motiv zuschreibt. Wieviel idealistische Projektion schwingt hier bei dem an Martin Buber und Gustav Landauer geschulten Kulturanarchisten mit? Es ist anzunehmen, daß der entsprechende Anteil gewaltig ist. Denn die Geschichte der Menschheit legt vielmehr nahe, daß dort, wo staatliche Strukturen abwesend sind und ein Machtvakuum entstehen kann, andere Akteure (Warlords und Rackets, Clans und Banden usf.) die konkrete Hegemonieausübung und situative Befehlsgewalt übernehmen.
Jedenfalls ist dies realistischer, als daß Herrschaftsfreiheit und konsensorientierte Harmonie das Leben von staatsbefreiten Menschen prägen. Der Dramatiker Peter Hacks brachte es in seinem Essay Ascher gegen Jahn (1991) auf den Punkt, als er den »Irrtum der Staatsängstlichen« – und damit auch von ihren klugen Vertretern wie Thomas Wagner – »in der Annahme« erblickte, daß dort, »wo der Staat nicht ist, Freiheit sein müsse. In Wirklichkeit sind dort die Böcke, die dort die Gärtner sind«.
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Thomas Wagner: Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf: Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie, Berlin: Matthes & Seitz 2022. 272 S., 25 €
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