Volk und Liebe nach Grundtvig

von Jörg Seidel -- Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783 – 1872) ist an Bedeutung kaum zu überschätzen.

Denkt man an Däne­marks Geis­tes­grö­ßen, dann fal­len Namen wie Kier­ke­gaard oder Hans Chris­ti­an Ander­sen – tat­säch­lich hat aber kei­ner die skan­di­na­vi­schen Geis­tes­wel­ten der­art durch­säu­ert wie der in Euro­pa wenig bekann­te Grundt­vig. Sein Werk ist enorm, viel­fäl­tig und schil­lernd; ohne ihn gäbe es das heu­ti­ge Skan­di­na­vi­en nicht, wäre Däne­mark nicht die Vor­zei­ge­de­mo­kra­tie und ein Wohl­fahrts­staat gewor­den – und ohne die Umset­zung sei­ner Idee der „Volk­lich­keit“ beher­berg­te es wohl auch nicht das seit Jahr­zehn­ten „glück­lichs­te Volk“ Europas.

Max Weber, als er den Zusam­men­hang zwi­schen vor­herr­schen­der Reli­gi­on und sozio-öko­no­mi­scher Ent­wick­lung anhand des Luther­tums und des Cal­vi­nis­mus nach­wei­sen woll­te, hät­te eben­so den däni­schen Grundt­vi­gia­nis­mus neh­men kön­nen. Grundt­vig durch­dringt alle See­len­be­rei­che der däni­schen Gesell­schaft; man kann das Land und sei­ne Men­schen nicht ver­ste­hen, ohne den Theo­lo­gen, Pries­ter und Phi­lo­so­phen, den Refor­ma­tor, Auf­klä­rer und Prä­cep­tor Danim­ar­ciae, den Dich­ter und Vater des natio­na­len Lied­gu­tes, den His­to­ri­ker und Mythen­for­scher, den Vor­kämp­fer für Demo­kra­tie und Gleich­be­rech­ti­gung der Frau … zu kennen.

Sein Mot­to lau­te­te: „Zuerst müs­sen wir Dänen sein.“ Kier­ke­gaards Indi­vi­dua­lis­mus mach­te im euro­päi­schen Exis­ten­tia­lis­mus eine gro­ße Kar­rie­re – sei­ne Gemein­de jedoch war eine Kopf­ge­burt, eine jen­sei­ti­ge, in die Ewig­keit pro­ji­zier­te. Grundt­vig dach­te stets dies­sei­tig, er sprach zu leben­di­gen Men­schen in der Spra­che die­ser Men­schen. Nicht in der Hei­li­gen Schrift, schon gar nicht in latei­ni­schen oder grie­chi­schen Ver­sio­nen lag das Numi­no­se, son­dern im Umgang der Men­schen mit­ein­an­der, in der Com­mu­nio, der Gemeinschaft.

Erst als Däne­mark sich der Ein­wan­de­rung nicht mehr ver­schlie­ßen woll­te, begann die­ses tief emp­fun­de­ne Gefühl einer qua­si-fami­liä­ren Zusam­men­ge­hö­rig­keit zu zerbröseln.

Hen­ning Høi­rup (von 1963–1979 Bischof in Arhus) schreibt in Grundt­vigs Sinne:

Man wird Mensch dadurch, daß man in und mit sei­nem Volk lebt, unter dem Segen und der Ver­ant­wor­tung der Gemein­schaft, nicht dadurch, daß man als Welt­bür­ger sich von sei­nem Volk los­reißt, son­dern dadurch, daß man sich zu des­sen Erbe — auch des­sen Schuld — bekennt.

Damit wird nun kei­nem Natio­na­lis­mus das Wort gere­det – und selbst­ver­ständ­lich wur­de Grundt­vig von der lese­un­fä­hi­gen Lin­ken schnell als Proto­fa­schist und von der ver­ein­nah­men­den Ultra­rech­ten als Ver­bün­de­ter aus­ge­macht –, son­dern einer unent­rinn­ba­ren Ver­bin­dung Auf­merk­sam­keit geschenkt: der Mensch als sozia­les Wesen ist Teil eines Vol­kes und kann aus die­sem Bestim­mungs­zu­sam­men­hang nicht her­aus – selbst wenn er die­ses Volk ablehnt, kann er es nur aus besag­tem Kon­text heraus.

Høi­rup:

Kei­ne Natio­na­li­tät ver­schafft jemand im gerings­ten das Heil als Ver­dienst; aber das Geschenk und die Auf­ga­be (Ver­ant­wor­tung) zu ken­nen, die uns in und mit dem Volk gege­ben ist, in das wir hin­ein­ge­schaf­fen sind, ist von ent­schei­den­der Bedeu­tung für unser Menschenleben.

Grundt­vig kann als Begrün­der des Eth­no­plu­ra­lis­mus ver­stan­den wer­den, der ein gemein­sa­mes, gleich­be­rech­tig­tes und fried­li­ches Mit- und Neben­ein­an­der der volk­li­chen Ein­hei­ten ver­tritt, eine Viel­falt des Einzigartigen.

Wenn Grundt­vig von „Volk“ spricht, dann meint er kei­ne vor­der­grün­dig bio­lo­gi­sche oder ver­erb­te Ver­bin­dung, son­dern lei­tet es von einer Wil­lens- und Über­zeu­gungs­ge­mein­schaft, aber auch dem his­to­ri­schen Zusam­men­hang ab. Iden­ti­tät – zumin­dest die nor­di­sche – wur­zelt auch in den volk­li­chen Mythen, deren tra­gen­den Geist er oft mit den mosai­schen Tex­ten verglich.

Um sie ver­ste­hen zu kön­nen, bedarf es einer gemein­sa­men Spra­che, die gemein­schaft­lich gewach­sen ist, einer Mut­ter­spra­che. Nur die Mut­ter­spra­che gewährt den Zugang ins „Reich der Müt­ter“ (Faust), zu den tie­fen und geis­ti­gen Gebie­ten eines Volkes.

All das faßt Grundt­vig in sei­nem monu­men­ta­len Gedicht „Fol­ke­lig­he­den“ zusam­men. Es neu zu lesen, lohnt, ins­be­son­de­re in Zei­ten, in denen man am liebs­ten die gan­ze Dop­pel­sei­te des Dudens, die mit „volk…“ beginnt, her­aus­rei­ßen möchte .

„Fol­ke­lig­hed“ ist ein schwer zu über­set­zen­der Begriff. „Folk“ im Däni­schen bedeu­tet nicht nur „Volk“, son­dern auch „Mensch“, „fol­kes­ty­re“ z.B., wort­wört­lich „Volks­steue­rung“, „Volks­kon­trol­le“, ist ein Syn­onym für „Demo­kra­tie“. Um das Fremd­wort „Natio­na­li­tät“ zu erset­zen, ver­wen­de­te der älte­re Grundt­vig immer häu­fi­ger die Voka­bel „fol­ke­lig­hed“. Das Adjek­tiv „fol­ke­lig“ wird heu­te fast nur noch im Sin­ne von „volks­tüm­lich“, „volks­nah“ oder gar „popu­lär“ ver­stan­den, die tie­fe­re Bedeu­tung aber stellt den Deut­schen vor ein Über­set­zungs­pro­blem. „Völ­kisch“ wäre durch­aus im Bereich des Mach­ba­ren, bes­ser aber ist „volk­lich“.

„Fol­ke­lig­hed“ ist also „Volk­lich­keit“ – um ihn pro­duk­tiv zu nut­zen, muß man frei­lich auch hier die Nazi-Hür­de über­sprin­gen kön­nen, denn auch die­ser Begriff wur­de von den Natio­nal­so­zia­lis­ten gele­gent­lich gebraucht, beson­ders ent­lar­vend von Mar­tin Bormann.

Grundt­vig beginnt in der ers­ten Stro­phe die Lage zu rekapitulieren:

Volk­lich soll nun sein das Ganze/rings im Land von Kopf bis Fuß.

Ver­ständ­lich wer­den die­se Zei­len, wenn man den geis­tes­ge­schicht­li­chen und his­to­ri­schen Hin­ter­grund beach­tet. Gera­de erschüt­ter­te und ver­än­der­te die soge­nann­te „Bür­ger­li­che Revo­lu­ti­on“ von 1848/49 Euro­pa, ein neu­es Natio­nal­be­wußt­sein fand in ihr sei­nen Aus­druck; der Abso­lu­tis­mus fand in Däne­mark sein Ende, das Grund­ge­setz wur­de ver­ab­schie­det (an dem Grundt­vig mitarbeitete).

Däne­mark hat­te zuvor schon ent­schei­den­de Ent­wick­lun­gen zu ver­ar­bei­ten. 1807 wur­de Kopen­ha­gen von den Eng­län­dern bom­bar­diert – für den jun­gen Grundt­vig ein Schock bis ins Mark. Hat­te man im 17. Jahr­hun­dert bereits gro­ße Tei­le Schwe­dens ver­lo­ren, kam nun nach Napo­le­ons Nie­der­la­ge der Ver­lust Nor­we­gens hin­zu. Das eins­ti­ge Groß­reich begann zusam­men­zu­schmel­zen – weni­ge Jah­re spä­ter, 1864, ver­lor man Schles­wig und Hol­stein an Preu­ßen; all das führ­te zu einem immer enge­ren Zusam­men­rü­cken der Dänen.

Zeit­gleich hat­te der Her­der­sche Begriff des „Natio­nal­geis­tes“ und des „Volks­geis­tes“, der „Volks­see­le“, den er in sei­nen bahn­bre­chen­den „Ideen zur Phi­lo­so­phie der Geschich­te der Mensch­heit“ (1791) nie­der­ge­legt hat­te, sei­ne vol­le Wir­kung ent­fal­tet und wei­ten Bei­fall gefunden.

Die Fra­ge

Volk! Was ist denn Volk im Grun­de? / Was bedeu­tet volk­lich wohl?

lag in der Luft und muß­te beant­wor­tet wer­den. Und Grundt­vig schließt unmit­tel­bar dar­an die bio­lo­gis­ti­sche Ant­wort kate­go­risch aus:

Ist’s der Mund, viel­leicht die Nase, wor­an man sie erken­nen soll?

Das ist dop­pelt bemer­kens­wert, denn selbst heu­te noch kann man diver­se typisch däni­sche Phy­sio­gno­mien aus­ma­chen – es wäre ein Leich­tes gewe­sen, auf äußer­li­che und letzt­lich auf erb­li­che Ver­wandt­schaf­ten zu rekurrieren.

Ist es die alte Geschich­te, ist es die Natur, ist es die gemein­sa­me Arbeit?, fragt er wei­ter. Und wor­an will man es messen?

Was soll gel­ten hier allei­ne: / mei­ne Ansicht oder deine?

Törich­te Fra­gen! Mit die­ser apo­dik­ti­schen Fest­stel­lung ändert sich die Lese­rich­tung – von nun an wird geantwortet.

Doch, wie dumm auch Fra­gen fal­len / Ant­wort gibt‘s in Odins Hal­len / Ant­wort gibt’s an Odins Brust /Antwort Mimir hat gewußt! / Schallt es aus dem Walde!

Das mag auf den ers­ten Blick für den moder­nen Leser erstaun­lich wir­ken, daß Grundt­vig die Ant­wort auf die Fra­ge zuerst in der Mytho­lo­gie sucht, in Odins Hal­len oder bei Mimir, dem Seher und Wei­sen der nor­di­schen Mytho­lo­gie, der ety­mo­lo­gisch mit „Mem“, „memo­ry“, mit Erin­ne­rung zusammenhängt.

Grundt­vig leis­tet hier Vor­ar­beit für C.G. Jung, Rudolf Stei­ner, Hans Blu­men­berg oder für Dre­wer­mann, er ver­or­tet den see­li­schen Anteil des Vol­kes in der Sagen- und Mär­chen­welt, in den Gesän­gen und Mythen der Völ­ker. Es ist ein lang­sa­mer und sehr tief rei­chen­der Bewußt­seins­strom, den leicht­fer­tig umzu­lei­ten, sich fast immer irgend­wann blu­tig rächt.

Der nicht ein­fach zu ver­ste­hen­de Refrain unter­streicht das: „Schallt es aus dem Wal­de!“ Der Wald, „sko­ven“, ist ein altes Syn­onym für „sko­v­land“, „Wald­land“, für Däne­mark, das in Vor­zei­ten dicht bewal­det war wie das Island der Nibelungensage.

Grundt­vig mag sogar an die Zwer­gen- und Rie­sen­völ­ker gedacht haben, als er schrieb:

Völ­ker gab’s in alten Tagen / sowohl gro­ße als auch klein.

Nun beginnt er die „Vol­kes-Grün­de“, die Merk­ma­le eines Vol­kes zusam­men­zu­tra­gen. Man muß genau lesen, um die Wer­tig­keit zu verstehen:

Blut, Geburt sind Vol­kes-Grün­de / nicht Ideen­hauch, und wen’ger Stahl / Doch des Vol­kes Muttersprache/ist der Grund noch überall.

Blut und Geburt sind auch Seins­merk­ma­le, wenn auch nicht pri­mär. Erzwun­gen wer­den kann das Volk-Sein nicht, weder durch „Ideen-Hauch“ – Grundt­vig schreibt hier „Luft“, meint also das Luf­ti­ge, Aus­ge­dach­te, Uto­pi­sche –, noch durch das Schwert oder die poli­ti­sche Oktroy­ie­rung. Statt­des­sen ist die Spra­che das ver­bin­den­de Glied, die Mut­ter­spra­che. Damit wird eines sei­ner Zen­tral­the­men ange­führt: die Lie­be zur däni­schen Spra­che, die noch heu­te den Groß­teil der Dänen ver­eint – der klei­ne­re Teil besteht vor­nehm­lich aus jenen, deren Mut­ter­spra­che es eben nicht ist.

Bei aller „Dänisch­tü­me­lei“, die man ver­sucht sein kann in die­se Wor­te hin­ein­zu­le­sen, darf die Zei­le „Wie bei Dänen, so bei Juden“ nicht über­le­sen wer­den. Was für die Dänen gilt, gilt für jedes ande­re Volk genau­so. Die Dänen sind nicht bes­ser, son­dern gleich. Gleich aber nicht im Sin­ne der Ver­rüh­rung der Idio­syn­kra­si­en, son­dern in der Gleich­be­rech­ti­gung dieser!

Wer sich nicht zum Volk und damit zur Spra­che und zur Tra­di­ti­on bekennt, „leug­net selbst sein Bür­ger­recht“, „Indføds­ret“, wört­lich „Ein­ge­bo­re­nen­recht“.

Ein Volk kann auch unter­ge­hen, dann näm­lich, wenn die­ses Bekennt­nis nicht erneu­ert wird oder wenn die ver­schie­de­nen Stän­de „aus dem Volks­geist ausbrechen.“

War der gute Geist des Vol­kes / Mehr als Luft und Win­dig­keit / war­tet es getrost, daß Leben / ein­ge­at­met wird erneut: / Wird das gyld­ne Jahr ent­fal­ten / Nach­glanz der Gold­zeit der Alten/Offenbar wird alles dort / licht das Leben, klar das Wort!

Als Gold­al­der wur­den die ers­ten 50 Jah­re des 19. Jahr­hun­derts ange­se­hen, eine Blü­te­zeit der däni­schen Kul­tur, das „gyl­de­ne Jahr“, das Grundt­vig in meh­re­ren Gesän­gen ver­herr­lich­te, ist sowohl die Sum­me die­ser Zeit als auch eine zu erwar­ten­de hel­le Zukunft des Landes.

Die frei­lich kann es nur geben, wenn man sich gegen zu star­ke frem­de Ein­flüs­se schützt. Schon damals kam die größ­te Gefahr aus dem Süden. Zu Grundt­vigs Zei­ten droh­te die däni­sche Kul­tur zu ger­ma­ni­sie­ren, in den gebil­de­ten Krei­sen sprach man deutsch, die klas­si­sche deut­sche Phi­lo­so­phie hat­te das Land eben­so erobert wie die lite­ra­ri­sche Klas­sik. Deren Ideen und Gedan­ken waren weg­wei­send, kei­ne Fra­ge, aber sie droh­ten auch, die eige­ne Geis­tes­welt zu ersti­cken. Vor die­sem Hin­ter­grund wird die For­de­rung „Deutsch des Lan­des zu ver­wei­sen“, genau­er, die Vor­macht des Deut­schen im Nor­den zu bre­chen, verständlich.

Die Stro­phen 11 und 12 sind das selbst­er­klä­ren­de Herz­stück des Poems, sie lesen sich wie eine Sum­ma von Grundt­vigs Leben: Gesetz­ge­bung, Schul­we­sen, Arbeits- und Geis­tes­welt zie­hen an einem Strang, mit dem Volk als Souverän:

Was das Volk dann denkt, faßt an / volk­lich ist das Gan­ze dann!

Das war Grundt­vigs Gesell­schafts­ide­al: „Er wünsch­te sich eine auf­ge­klär­te Gemein­schaft ohne Klas­sen­un­ter­schie­de, die sich ihres däni­schen Wesens bewußt sein und dies in soli­da­ri­schen Hand­lun­gen aus­drü­cken soll­te.“ (Sin­ram, S. 72) Sei­ner Zeit weit vor­aus, dafür zeu­gen die Zeilen:

nicht im Feld und nicht im Tin­ge / Frau’n und Kin­der zähln geringe.

Das kit­ten­de Band – ein über­ra­schen­der wie logi­scher Coup zugleich – ist: die Liebe!

Wie sich alles auch erweist/Dänisch immer Lie­be heißt!

Auch sprach­lich schließt sich hier der Ring. Grundt­vig spiel­te gern mit dem Wort „Fol­ke­lig­hed“, das im Däni­schen aus zwei Wort­be­stand­tei­len besteht: „Folk“ und „Lig­hed“ = „Gleich­heit“. Die Gleich­heit der Völ­ker und die Gleich­heit inner­halb der Völ­ker. Wenn nun das letz­te Wort „Lie­be“ heißt, dann wird die­ser Ton noch ein­mal ange­spielt: „Kær-lig­hed“.

„Volk­lich­keit“ ist nicht nur ein wie­der zu ent­de­cken­des Gedicht, es ist auch eine Kate­go­rie, ein Kon­zept, das es – durch­aus am Leit­fa­den Grundt­vigs, der noch immer aktu­ell ist – das es zu durch­den­ken gilt.

– – –

Die Volk­lich­keit

Volk­lich soll nun sein das Ganze
rings im Land von Kopf bis Fuß;
etwas Neu­es ist im Werke,
selbst ein Tor es sehen muß;
aber kann es, kaum geboren,
das erset­zen, was verloren?
Weiß man wirk­lich, was man will,
mehr als „Brot und Zirkusspiel“?
Mit Ver­laub zu fragen!

Volk! Was ist denn Volk im Grunde?
Was bedeu­tet „volk­lich“ wohl?
Ist’s der Mund, viel­leicht die Nase,
wor­an man es erken­nen soll?
Fin­det man’s, ver­steckt vor allen,
Nur in Hünen­gra­bes Hallen?
Ist es hin­ter Pflug und Knick
Jeder Fleisch­kloß grob und dick?
Mit Ver­laub zu fragen!

Pries­ter, Adel, Bür­ger, Bauer,
Künst­ler, Leh­rer, Steuermann,
sind sie alle denn des Teufels,
wenn man sie deut­lich unter­schei­den kann?
Was soll gel­ten hier alleine:
Mei­ne Ansicht oder deine?
Soll’n wir alle nun­mehr streiten
Ärger schaf­fen auf bei­den Seiten?
Mit Ver­laub zu fragen!

Sie­ben Klu­ge müs­sen passen,
wenn ein einz’ger Tor so fragt;
selbst wenn sie als Wei­se gelten,
wird die Ant­wort stets vertagt.
Doch, wie dumm auch Fra­gen fallen,
Ant­wort gibt‘s in Odins Hallen,
Ant­wort gibt’s an Odins Brust,
Ant­wort Mimer hat gewußt!
Schallt es aus dem Walde!

Völ­ker gab‘s in alten Tagen,
sowohl gro­ße, als auch klein.
Ob’s noch immer Völ­ker gibt,
soll nun hier bewie­sen sein:
Vol­kes Geis­ter sind alle wach,
die einen flink, die and­ren schwach,
was ein jedes kann und will:
alles set­zen auf das Spiel
Schallt es aus dem Walde!

Blut, Geburt sind Volkes-Gründe,
nicht Ideen­hauch und wen’ger Stahl.
Doch des Vol­kes Muttersprache
Ist der Grund noch überall.
Wie sie klingt, und wie sie schafft:
Wie bei Dänen, so bei Juden,
hält sie ins­ge­heim verbunden,
Geis­tes oder Him­mels Kraft.
Schallt es aus dem Walde!

Alle, die zum Volk gehören,
die sich selbst zu ihm bekannt,
freu­en sich der Muttersprache,
bren­nen für das Vaterland.
Die sich nicht zum Volk bekennen,
son­dern eigen­wil­lig trennen
selbst vom eige­nen Geschlecht,
leug­nen selbst ihr Bürgerrecht!
Schallt es aus dem Walde!

Bre­chen nun des Rei­ches Stände
Aus gemei­nem Volks­geist aus,
han­deln Kopf und Füß‘ und Hände
lächer­lich auf eig­ne Faust;
dann ist ja das Reich zerrissen,
und der Väter Zeit gewesen;
müde schläft das Volk dann ein,
schwer wird es zu wecken sein!
Schallt es aus dem Walde!

War der gute Geist des Volkes
Mehr als Luft und Windigkeit,
war­tet es getrost, daß Leben
ein­ge­at­met wird erneut:
Wird das gyld­ne Jahr entfalten
Nach­glanz der Gold­zeit der Alten;
Offen­bar wird alles dort,
licht das Leben, klar das Wort!
Schallt es aus dem Walde!

So auf uns nun hier im Norden
Atmet unser Volkesgeist,
bricht mit uns­rer Pest den Frieden,
Deutsch des Lan­des verweist,
weckt im gan­zen Dänenreiche
all das Dän’sche, Volkesgleiche,
daß es uns in Kopf und Brust,
Schrift und Stim­me wird bewußt!
Schallt es aus dem Walde!

Wer­den dänisch die Gesetze,
dänisch Schu­len neugestalt,
dänisch Pflü­ge wie Gedanken,
neu wird unser Ruf so alt:
„Dänen ist das Glück gegeben,
auf dem Meer in Fried zu leben.“
Was das Volk dann denkt, faßt an,
volk­lich ist das Gan­ze dann!
Schallt es aus dem Walde!

Pries­ter, Adel, Bür­ger, Bauern,
Künst­ler, Schif­fer, Lehrerstand
hei­ßen Übel, was undänisch,
kämp­fen für des Dänen Land.
Trotz verschied’nen Werkbereichen
Alle doch ein­an­der gleichen,
tei­len doch Geburt und Blut,
Mut­ter­spra­che, Löwenmut!
Schallt es aus dem Walde!

Unser Väter Käm­pen, Skalden,
Schick­sal, Glück und Rat und Tat
Nen­nen Dänen all ihr eigen,
fra­gen Mimer gern um Rat.
Unter Buchen best zumute
Erin­nern sie den Frie­dens­kö­nig (Freyr),
starr’n ver­zückt auf Wel­len blau,
spie­len noch, wenn’s Haar schon grau!
Schallt es aus dem Walde!

Volk­lich ist in unserm Lande
Eines noch aus Herzensgrund:
Volk­lich ist das Lied der Liebe,
dänisch echt zu jeder Stund;
nicht im Feld und nicht im Tinge
Frau’n und Kin­der zähln geringe;
Wie sich alles auch erweist,
Dänisch immer Lie­be heißt!
Schallt es aus dem Walde!

Quel­le: „Fol­ke­lig­he­den“. Von mir kor­ri­gier­te Über­set­zung nach: N.F.S. Grundt­vig – Schrif­ten in Aus­wahl. Göt­tin­gen 2010, S. 567 ff.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (32)

Laurenz

5. Mai 2023 13:34

Da Finnland zu Europa gehört & Finnland als glücklichstes Land der Welt gilt, so kann es Dänemark nicht sein. Die 50.000 autonomen Grönländer haben übrigens auch eine Dänische Staatsbürgerschaft, allerdings ist dort Dänisch nur die I. Fremdsprache. Wenn man Harald Blauzahn als Dänen bezeichnen will, dann müßte er doch nach der Lesart Grundtvigs der Jahrtausend-Verräter gewesen sein, holte er doch orientalisches, fremdartiges Denken nach Dänemark. Die jetzige politische Lösung Skandinaviens ist die ungünstigste. Entweder entscheidet man sich für die föderale Lösung, wie einst vor dem geistigen Orientalismus oder die 3 skandinavischen Staaten & Finnland bildeten einen eigenen Machtblock. Aber dazu scheint es keine Ansätze zu geben.

MarkusMagnus

5. Mai 2023 14:28

" Grundtvig"
Ich habe für eine Zehntelsekunde Grundig TV gelesen.
Interessant wie das Gehirn verknüpft und filtert. Auch wenn Buchstaben in Wörtern vertauscht werden können wir die Texte lesen. Weil wir gewisse Dinge erwarten und abgespeichert haben.
 
 
 

Heinrich Loewe

5. Mai 2023 15:01

Mein Staunen wächst täglich darüber, was man bei sezession ausgräbt und meint, das trüge im Jahr 2023 noch irgend etwas Relevantes aus. Im Grunde bin ich raus hier; und nur, weil mir Lehnert, Lichtmesz und die Familie Kubitschek persönlich sympathisch sind, habe ich mein Abo noch nicht gekündigt.
Zur Erinnerung: Die Menschheit hat das Biest in Form von Künstlicher Intelligenz losgelassen, das bereits eigenständig unerklärliche Entscheidungen trifft. Es kann selber code schreiben, in ein paar Sekunden 3D-Eiweißmoleküle darstellen wo Millionen Mannjahre andernfalls gebraucht würden, und in Kürze wird man ihm BEWUSSTSEIN zusprechen womit es Menschenrechte einfordern wird. Es hat bereits 40.000 verschiedene Biowaffen produziert (mehr dazu Joe Allen auf GETTR). Das nur als Beispiel, was im Hier und Jetzt los ist.
Und ihr schreibt über Mohler, Jünger und ...wen? den "kaum zu überschätzenden" Severin Grundtvig. Mannomannomann.

Laurenz

5. Mai 2023 22:24

@Heinrich Loewe
Die Meinungen über KI sind doch recht geteilt. Biowaffen gibt es keine, wenn wir mal von den Pesttoten, welche die Mongolen über Stadtmauern schleuderten, absehen. Der Verlag Antaios zielt auf intellektuelle Kunden ab, die, wie Maiordomus, am Tag ein Buch lesen, völlig legitim. Welchen Sinn würde es in Ihren Augen machen, wenn die SiN ... Roland Tichy, Reitschuster, Tim Kellner, Alexander Wallasch oder Achgut Konkurrenz machen wollten? Im Druck-Medium Sezession gibt es, wie überall, sicher gelungene Artikel, wie auch manchmal welche, die nicht ganz so gelungen sind, alles menschlich. Aber, es ist eben ein intellektueller Zugang zur Materie. Daß Vorträge, Artikel meist in verständlicher Sprache formatiert werden, ist doch ein guter Kompromiß. Daß das IfS unter VS-Beobachtung steht, zeigt doch, daß der woken Junta genau bei diesem Format hier die Rosette brennt. Ist es von daher nicht ganz in Ordnung, wenn die SiN nicht jeder Sau hinterherrennt, die durchs Dorf getrieben wird?

Ein Fremder aus Elea

6. Mai 2023 08:27

"das Geschenk und die Aufgabe (Verantwortung) zu kennen, die uns in und mit dem Volk gegeben ist"

Und? Was ist das Haben und Soll des deutschen Volks? Leben und Überleben?

Ein Fremder aus Elea

6. Mai 2023 08:46

Heinrich Loewe,

naja, die Aussage ist ja nur gewesen, daß er für die Geschichte Dänemarks nicht zu überschätzen ist. Übrigens, die Rezension hier legt, meines Erachtens, nicht genügend Gewicht auf die Zeile "Dänen ist das Glück gegeben,
auf dem Meer in Fried zu leben." Die periphere Lage Skandinaviens ist in der Tat bedeutender als alles sonst.

Und was das andere angeht: Wie Parmenides bereits in "Über die Natur" andeutet, wird der Geist des Menschen erst dann zu sich selbst zurückkehren, wenn er meint, die materielle Welt zu beherrschen. Mit anderen Worten, es liegt alles in uns, in unserer Natur, wir gehen unseren Weg.

Oberstelehn

6. Mai 2023 08:59

Die Tragik des Scheiterns des 20. Juli wird hier aus einer weiteren Perspektive deutlich, wenn man daran denkt, daß der damals für das Amt des Reichskultusministers vorgesehene Adolf Reichwein schon in jungen Jahren massiv durch Grundtvig beeinflusst worden ist und sich in seinen pädagogischen Werken immer wieder auf ihn berief.

Franz Bettinger

6. Mai 2023 09:27

"Vielfalt des Einzigartigen“ - Muss man sich merken! Überhaupt: schöner Text! Inklusive der Aberration zu Bormann. Wenn man Bormann nicht mit teuflischen Augen liest, ist nichts Teuflisches in seinem Text. Wir sind es nur nicht mehr gewohnt: klare, verständliche Worte. (Erstaunlich, dass die Führung im Januar '44 noch so siegessicher war.)  /  @Heinrich Loewe: Die Vergangenheit wird doch von den heute Mächtigen absichtlich verschüttet; dabei ist sie reich. Habe mir gerade, auf Anregung @Eo’s, die 4 Simplizissimus-Folgen über den 30-J-Krieg angeschaut. Was für ein Einblick & Gewinn! —> https://www.youtube.com/watch?v=0_Zf0NAt5pw  Was das heute politisch noch austrägt? Es macht mich einfach froh. Blicke in die Vergangenheit bereichern einen (na wenigstens mich). 

brueckenbauer

6. Mai 2023 11:48

Ich sehe nicht, wie das Abstraktum "die Künstliche Intelligenz" jemals ein feindliches Subjekt werden könnte - "die natürliche Intelligenz" ist ja auch keins. Der ChatGPT ist z.Z. noch ein williger Sklave für menschliche Gelüste. Dass individuelle solche Sklaven sich einmal zu einem Sklavenaufstand zusammenschließen und dabei Helfer unter den natürlichen Menschen finden, schließe ich nicht aus. Aber auch dann haben wir es mit einer Bedrohung zu tun, für die wie aus der Geschichte lernen können - nur halt aus anderen Partikeln unserer Menschheitsgeschichte.

Adler und Drache

6. Mai 2023 13:15

@Heinrich Loewe: Ihr Kommentar ist eine abgewandelte Version des "man sollte" (u.d.h.: "ich will") - und wie immer gilt: Regen Sie sich nicht darüber auf, dass die anderen nicht machen, was Sie wollen, machen Sie's selbst - oder regen Sie sich nicht darüber auf!   

Adler und Drache

6. Mai 2023 13:28

Grundtvig kannte ich bisher nicht, vielen Dank. Was in der Politik "das Soziale" sein soll, wenn es keinen Bezug zum "Volk" mehr gibt, weiß ja keiner, in der Regel ist es nur noch das Finanzielle, das dann allerdings auch so genannt werden sollte. 
Bemerkenswert die Gedanken zum "Erbe": Fast immer wehrt sich die Rechte gegen "Kollektivschuld", übersieht dabei aber die Dimension des volklich gemeinten Sozialen und des darin begründeten Erbes. Da wird dann das Volk, das so gern im Munde geführt wird, de facto doch verleugnet, und man nimmt die liberale Position des "autonomen Bürgers" ein. Die Verbrechen des 3. Reichs sind eben auch Volks-Erbe, so wie alles andere. Ich kann keine Verantwortung dafür übernehmen, mich aber immerhin in ein Verhältnis dazu setzen.   

Adler und Drache

6. Mai 2023 15:35

@Franz Bettinger: Bormanns biopolitische Verkupplungsphantasien sind auch nichts anderes als die (öko-)sozialistischen Pläne zur Abschaffung der Ehe, insofern jenseits des Diskutablen. Ehe ist nicht nur moralisches Gebot, sondern immer auch mit Erbschaft, also Besitzfragen verbunden.  

Laurenz

6. Mai 2023 17:00

@OberstelehnDie Tragik des Scheiterns des 20. Juli
Hätte, hätte, Fahrradkette. Mittlerweile beurteilen die Handlanger unserer Junta die Attentäter des 20. Juli ganz anders, als gehabt, weil man mittlerweile weiß, daß es Leute, wie Sie gibt. Auch Sie haben eben nicht verstanden, daß ein toter Hitler keinen Unterschied zu einem lebenden gemacht hätte, was nicht einmal ein Jahr später historisch bewiesen wurde. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht, ob die Kommunisten oder das Zentrum 1933 drangekommen wären. Der Krieg kam, unabwendbar, so oder so.
@Franz Bettinger
Denke, Du überschätzt Bormann. Hitler bezeichnete ihn als seinen treuesten Parteigenossen. Es existieren von dem Protokoll der Wannseekonferenz nur noch Fragmente von Kopien. Aber nehmen wir sie voll, so wie historisch überliefert, war der NS-Fürhung zu diesem Zeitpunkt bereits klar, daß der Krieg verloren ist. Natürlich klammert sich fast jeder ans Leben & Hoffnung, man probiert mal dies oder das, wie die späte Umstellung von Friedens- auf Kriegsproduktion, angekündigt durch die Reichssportpalast-Rede von Goebbels. Aber als keines der gesteckten Ziele, Leningrad, Moskau, Aserbeidschan im Winter 41/42 erreicht wurde, war im Grunde klar, es ist aus.

Niekisch

6. Mai 2023 17:22

"tatsächlich hat aber keiner die skandinavischen Geisteswelten derart durchsäuert wie der in Europa wenig bekannte Grundtvig."
Da interessiert mich, wieso nicht Georg Brandes, wenn auch in anderer Geistesrichtung, an Bedeutung gleichzusetzen ist? 

Ein Fremder aus Elea

6. Mai 2023 17:40

brueckenbauer,

die Geschichte aus der Vergangenheit, welche Ihnen eine Vorstellung davon gibt, welcher Art die Gefahr ist, welche von der KI ausgeht, ist die Geschichte von König Midas.

Ausguck

7. Mai 2023 04:33

@ Zur Wannseekonferenz:
Von dieser Besprechung liegt kein anderer Beleg vor als das sogenannte "Protokoll." Dabei handelt es sich erwiesenermassen um eine schlecht gelungene Faelschung. Helmut Kohl  bezeichnete die "Konferenz" 1987 als "eine mit buerokratischer Perfektion eingeleitete Ausrottung der Juden im deutschen Einflussgebiet." Ein Blick in den Text des "Protokolls" haette Herrn Kohl gezeigt,  dass hierbei keine buerokratische Perfektion, sondern hoechstens dilettantisches Geschwafel zu finden ist. 

victoreremita

7. Mai 2023 11:51

Kierkegaard hat den heutigen Individualismus nicht geprägt, er wurde ja auch erst Anfang 1900 in z. T. eher schlechten deutschen Übersetzungen gelesen. Ganz im Gegenteil ist ja Kierkegaards Anklage gegen die Kirche -- aus dem Glauben -- aktueller denn je, da er bereits nichts als Epikureer am Werk sah. Das ist ja heute nur noch schlimmer. Er hielt für sich privat eine Messe jeden morgen, die zwischen 30-60 Minuten währte, mit viel Knien, Beten, Psalmenlesen. Da war Nietzsche schon verheerender, aber dennoch nicht "schuld" an der heutigen Dekadenz. Ich glaube eher, daß Kierkegaard einfach zu klug und schwermütig für diese Welt war.

RMH

7. Mai 2023 11:56

Der Strom der Tradition ist unprätentios regelmäßig ins Bewusstsein zu bringen. Heute, am 07.05.2023, jährt sich der Todestag von Otto dem Großen zum 1050ten mal. Das gute alte "Kalenderblatt" mag auch in Zeiten der aufkommenden KI hierfür hilfreich sein - nur gibt es das kaum noch (wie wäre es mit einer deutschen Kalender-App?).
PS: Das Bormann- Schriftstück zeigt doch erstaunliche Parallelen zur heutigen Links- Kultur, wie die arbeitende Frau, die auch alleinerziehnd sein darf, die Ablösung des zentralen Wertes der Kernfamilie, die Vollbetreuung des Nachwuchses ab Geburt durch staatliche Stellen, die Unterdrückung derjenigen, die das Ablehnen etc. - alles für einen vermeintlich "höheren" Zweck.

Niekisch

7. Mai 2023 17:40

Als partiellen Gegenpol zur Ansicht des Verfassers Joerg Seidel zitiere ich aus Steding, Christoph, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur: "Er ( Grundtvig, Niekisch ) ist eine besonders klassische, idealtypische Verkörperung jenes Prinzips des Zerfalls der Einheit der germanischen Welt des alten Europa, des Prinzips der "Verinnerlichung" und Einhausung der dann entstehenden Territorien. Gr. kämpft unter dem Zwang dieses ihn und den Norden beherrschenden Prinzips gegen Lateinertum und römischen Geist ( der für ihn schon südlich der Eider bzw. der Königsaue anfing!! ). Er bemühte sich um die Schaffung einer geistigen Einheit der skandinavischen germanischen Welt durch energische Negation deutschen Wesens; daher bemühte er sich, den Graben zwischen Nord und Süd möglichst tief und breit zu ziehen. So erweckt er das "völkische" Bewußtsein der Dänen; er steht im Zuge jener Strömungen, die die dänisch-nordische Vorgeschichte beleben und die Altertumswissenschaft, die Wissenschaft vom Spaten ausbilden.
weiter II.

Niekisch

7. Mai 2023 17:51

II. "Er lehrt das Volk, die Volkslieder zu singen und sich der angestammten, arteigenen bäuerlichen Lebensformen und Gefühlsweisen zu erinnern. kurz, er erzieht das dänische Volk zum "völkischen" Leben im rein innerlichen, unpolitischen (!!, Niekisch ) Sinn. Es ist eine Auffassung des "Völkischen", die konsequent durchgehalten und ihrer innersten Tendenz nach zur Inzucht und zum Narzismus und damit schließlich zur Lähmung des gesamten Lebens führt. Jene in Grundtvig so vorbildlich verkörperte Tendenz Dänemarks und der gesamten germanischen Welt ( in der Mitte des 19. Jh., Niekisch ) ist die eigentliche Ursache des Verlustes der deutschen, der dänischen Monarchie eingegliederten Gebiete. ( S. 43, 44 ) ..."
weiter III. 

Niekisch

7. Mai 2023 18:05

III: "In Dänemark entstand die Leidenschaft für Vorgeschichte in demselben Jahrhundert, als das dänische Staatswesen in voller Auflösung begriffen war. Der Grundtvigianismus hat diese Auflösung nicht nur nicht gehemmt, sondern beschleunigt; deswegen nämlich, weil er den Appell ans Volk und Völkische nicht als  p o l i t i s c h e n  Appell erließ, sondern als  u n p o l i t i s c h e n. Die Vorgeschichte zerstörte damit auch die politische Geschichte. Oder vielmehr, weil diese zerstört war, bemächtigte sich der Geist der bloßen Vorgeschichte der ganzen Geschichtsschreibung..." ( S. 586 ) 
Deshalb kann Grundtvig weder Nationalist noch Ethnopluralist gewesen sein, weil beide Begriffe den Begriff des Politischen voraussetzen.
weiter IV.

Niekisch

7. Mai 2023 18:11

IV. weiter Christoph Steding: "..Angesichts der Welt des zur verantwortlichen Weltpolitik berufenen Staates ist es unerheblich, ob man von "Menschheit" allgemein oder vom bloß "Volkstümlichen" und dem Gewimmel der "Völkerschaften" spricht. Sie sind als Summe die "Menschheit" und in diesen Brei der Stimmungen und Begierden wie Leidenschaften fährt wie ein Blitz Apolls der Wille zur Politik und entzündet zunächst einen, und dieser reicht das Feuer weiter, bis ein ganzes Volk von einem politischen Sendungsbewußtsein ergriffen ist und es jetzt in der Flamme des Geistes erglühend auch die Welt jener Nachbarn mit erleuchtet." ( S. 587 )
Wer schlägt einen solchen Zündfunken an? 

Gimli

7. Mai 2023 21:22

@Ausgucks Durchblick bzgl Wannsee .. 
Eine Fälschung? Häh? Wenn nicht mal der Protokollant das so sieht, dann bewegen Sie sich auf einem sehr eigenen stream of consciousness. 

Laurenz

7. Mai 2023 22:12

@Ausguck @Zur Wannseekonferenz  .... Dabei handelt es sich erwiesenermaßen um eine schlecht gelungene Fälschung. Wer hat das bewiesen. Wenn Sie schon solch eine steile Behauptung aufstellen, sollten Sie auch Ihre Quellen anführen. Ich würde weder die Echtheit behaupten, noch eine Fälschung. Ganz einfach deswegen, weil ich dazu nicht in der Lage bin. Also bitte, Ihre Quellen.
 

Hesperiolus

7. Mai 2023 22:14

@ Die prompte Anführung Stedings hier, der im Inhaltsverzeichnis seines Werkes „Brandesianismus und Grundtvigianismus“ ja anscheinend doch kontraponiert (?) (werde das, der Anregung dankbar, nachlesen), lässt für das SiN Lektüreniveau wieder aufmerken und ist  á point, wie ein Mitkommentator es auszudrücken pflegte. „Einhausung“, erinnere ich aus langzurückliegendem Überflug des Buches als einen der neologischen Kernbegriffe bei diesem Autor; auch seine Bemerkungen zum „Apolitismus der Steinerschen Bewegung“, würde wohl an diesem Ort gewissen Widerspruch nahelegen? -  Wie bei Steding, als heterodoxem NSler, womöglich Reichsgedanke und sog. „Nordischer Gedanke“ dabei kollidieren oder sich umspielen; das interessierte mich tatsächlich, wenn auch einer gewagt unterlegten Apoll-Allusion – als Cislimitiker - durchaus fernstehend.

RMH

8. Mai 2023 07:08

@niekisch,
danke für das Zitieren aus dem Zeitdokument von Steding. Man merkt deutlich den zeitlichen Abstand zu Grundtvig. Ganz modern sind für Steding plötzlich die Völker die politischen Akteure und nicht die Staaten oder deren Führer oder wer eben sonst das "Sagen" hat und was die Verwandtschaft der Nazis zu den Linken nochmals bestätigt ist, dass diese Völker dann politisiert werden und ein Sendungsbewußtsein entwickeln (sollen). Da ist mit Sicherheit kein Blitz Apolls zu finden. Die Politisierung der Völker kommt nicht von oben, sondern von unten, ganz unten - und sie führt nichts Gutes im Schilde. Die Mobilisierung der Massen zu Zwecken, die nur oberflächlich betrachtet Volksinteressen dienen. Die Entfesselung der Propaganda. Der Rest ist heutzutage hinlänglich bekannt.
 

Gustav

8. Mai 2023 09:11

Die Probleme der Völker entstanden und entstehen durch die Oligarchien. Hier besteht wirklicher Aufklärungsbedarf.
Michael Hudson hat mit seinem Buch "Der Zusammenbruch der Antike" hierzu eine große Arbeit geleistet.
Der Zusammenbruch der Antike ist weitreichend und umfasst: 
die Übertragung verzinslicher Schulden aus dem alten Nahen Osten in die Mittelmeerwelt, aber ohne das „Sicherheitsventil“ regelmäßiger königlicher Schuldenstreichungen, um das wirtschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen und das Entstehen von Gläubiger-Oligarchien zu verhindern;
Roms „Endzeit“ kollabiert in Leibeigenschaft und ein gläubiges oligarchisches Erbe, das weiterhin den Westen prägt;die Transformation des Christentums, als es zur Staatsreligion Roms wurde, die Unterstützung der Oligarchie, das Fallenlassen der revolutionären frühchristlichen Aufrufe zum Schuldenerlass und die Änderung der Bedeutung des Vaterunsers und der „Sünde“ von einer Fokussierung auf die wirtschaftliche Sphäre hin zur persönlichen Sphäre des Einzelnen Egoismus;
https://michael-hudson.com/2023/03/the-collapse-of-antiquity-release/

Gustav

8. Mai 2023 09:19

2.
Der große Übergang der klassischen Antike zur modernen Welt bestand darin, das Königtum nicht durch Demokratien, sondern durch Oligarchien mit einer gläubigerfreundlichen Rechtsphilosophie zu ersetzen. Diese Philosophie erlaubt es den Gläubigern, Reichtum und damit politische Macht in ihre eigenen Hände zu ziehen, ohne Rücksicht auf die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Gleichgewichts und der langfristigen Rentabilität, wie es im alten Nahen Osten durch Clean Slates geschehen ist.
Roms Vermächtnis an die spätere westliche Zivilisation ist somit die Struktur von Gläubiger-Oligarchien, nicht Demokratie im Sinne von sozialen Strukturen und Politiken, die weit verbreiteten Wohlstand fördern.

Niekisch

8. Mai 2023 11:12

"im Inhaltsverzeichnis seines Werkes „Brandesianismus und Grundtvigianismus“ ja anscheinend doch kontraponiert (?)"
@ Hesperiolus 7.5. 22:14: in meiner 5. Auflage von 1943 auf dürftigem "Kriegspapier" heißt es im Inhaltsverzeichnis unter "Von der Todsüchtigkeit der "Kultur": Europas Norden" "Brandes und Grundtvig", also ohne Antagonismus. Das entspricht auch dem Werktext: "...die skandinavische Staatenwelt ist zunehmend auch nur ein Konglomerat von Volkstümern, keine eigentliche Staatenwelt mehr. Im Inneren ist alles zersetzt und in eine Vielzahl von interessengegensätzen zerspalten. Daher war der Herrschaft des Grundtvigschen Geistes in Dänemark die Herrschaft Georg Brandes durchaus entsprechend. Beides ergänzt sich....Beide Richtungen gehören zusammen wie zwei Seiten einer Münze, die in entgegengesetzte Richtungen sehen und nichts voneinander wissen oder nichts voneinander wissen wollen" ( S. 554 )
weiter II.

Niekisch

8. Mai 2023 11:26

II. Steding will sagen, daß rein unpolitische Volkstumsforschung und Herrschaft ebenso wie den Staat zersetzender Liberalismus in Person von Grundtvig und von Brandes dem Zeiterfordernis einer volksüberspannenden Staatsidee auch der damaligen Zeit abträglich, ja sogar tödlich waren. 
"Ganz modern sind für Steding plötzlich die Völker die politischen Akteure und nicht die Staaten oder deren Führer oder wer eben sonst das "Sagen" hat"
@ RMH 7:08: Ich sehe in Stedings Werk - wie oben angerissen - das Gegenteil und damit einen eklatanten Gegensatz zur 1935/36 bereits gegebenen Priorisierung der Volksidee des Nationalsozialismus gegenüber einer Staatsidee, wobei der NS ja in der Realität vom Staat exzessiv Gebrauch machte. Steding war, wenn ich das richtig sehe, ein hinterherhinkender Wollens - Nationalsozialist. 
"mit Sicherheit kein Blitz Apolls zu finden."
Das ist eine kulminierende Metapher Stedings. Im übrigen Text wird sie relativiert. Also nicht mit Stefan George: " einer stand auf"...
 

Laurenz

8. Mai 2023 14:14

@Niekisch
Man darf auch festhalten, daß eine Besiedlung des südlichen Skandinaviens erst nach der letzten Eiszeit möglich war. Der Ärmelkanal brach vor ca. 6.500 Jahren durch, um damit eine Vorstellung des Meeresspiegels zu vermitteln. So richtig alt sind die Skandis nicht.
@Gustav 
Wäre mit Herrn Hudson sehr vorsichtig. Will die Oligarchen-These nicht in Abrede stellen, aber eine Schuldenwirtschaft war extrem schwieirig, siehe die Fugger. Funktionierendes Papiergeld gab es erst seit 1694. Herr Hudson stammt aus einer trotzkistischen Familie, sehr dubios. Wie schon Griechen & Karthager waren die Römer von der Herrschaft über die bekannten Silberminen abhängig, weil man damit die Legionen, welche die Macht verbrieften, bezahlte. Auch die Klimaentwicklung ist ein entscheidender Faktor. Desweiteren ist der Verlust Ägyptens von Byzanz an die Araber ein entscheidendes Momentum, weil es kein billiges Papier mehr gab, sondern nur noch teures Pergament zu Verfügung stand.

Gracchus

8. Mai 2023 14:32

Ohne damit Heinrich Loewe beizupflichten, zeigt der Beitrag, wie fern dieses romantische Volksdenken Grundtvigs doch ist. Was fern ist, muss aber nicht wirkungslos sein. Daher ist der Beitrag hochinteressant und regt zum Weiterdenken und -fragen an. Interessant ist, wie sich das Volksdenken mit emanzipativen Gehalten verbindet (Gleichberechtigung der Frau), und es stellt sich die Frage, ob die Idee der Gleichberechtigung, auf dem auch die Idee demokratischer Teilhabe fusst, nicht "nordischem" Leben und Denken entspringt, gegen das römische Patriarchat gerichtet. Ausgezeichnet passen in dieses Bild die Überlegungen, die @Gustav referiert. Hierdurch erhellen sich möglicherweise auch die Konflikte innerhalb des konservativen Lagers, die einen sind römische Konservative, die anderen nordische Konservative. Es kommt hierbei natürlich zu Vermischungen und Verdrehungen. Man könnte sagen, der römische Konservativismus adaptiert zum Schein das nordische Denken, um die oligarchischen Strukturen zu verschleiern.

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.