… ganz gleich, wie lange sich der Weg hinzieht.“ So hat es Jürgen Kuczynski einst ausgedrückt.
Nun las ich aus Nostalgie sein Buch Probleme der Selbstkritik – da wurden Erinnerungen geweckt, Erinnerungen an eine Lebensphase, die heute nahezu unwirklich erscheint. Vermutlich werden die westdeutschen Leser ratlos über den folgenden Zeilen sitzen, während mancher Ostdeutscher mich vielleicht begleitet bei diesem Abstecher in eine – ja, absurde Zeit.
Das Buch erschien 1991. Mehrfach betont Kuczynski, jährlich 60 bis 80 Vorträge gehalten zu haben. Einer davon, es muß um das Jahr 89/90 gewesen sein, fand an unserer Hochschule statt.
Der Saal war gerammelt voll und schon nach wenigen Minuten begann man zu schwitzen. Kuczynski, ein Mann, dem man seine 85 Jahre nicht ansah – er wirkte wie 110 –, saß im feinen Anzug und Weste und gut gebundener Krawatte auf dem Podium. Trotz seiner proletarischen Lehre kehrte er stets den bürgerlichen Gelehrten heraus – ich glaube, er imitierte Max Weber, den einzigen westlichen Ökonomen, den er gelten ließ. Nur seine fast über das Gesicht hängenden Augenfalten, die ihm ein churchilleskes Aussehen verliehen, ließen ihn wie einen Clochard in feinem Zwirn wirken.
Er galt als Koryphäe und als Ausnahme und das in vielerlei Hinsicht. Sein Werk war enorm. Allein 40 Bände umfaßte die „Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“ und noch einmal zehn die „Studien zur Geschichte der Gesellschaftswissenschaften“ und so ging es weiter. Als nach der Wende die Bibliotheken ausgekehrt wurden, ergatterte ich u.a. einen Großteil der 40 Bände und verkaufte sie vor 15 Jahren bei Ebay.
(Mein größter Fang war übrigens die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe in damals 80 Doppel-Bänden. alle mit Bibliotheksaufkleber. Ich fischte sie aus dem Container, mußte eilig mehrere Trabi-Fahrten organisieren, ein extra Regal anschaffen, hegte und pflegte, streichelte sie mit den Augen und habe sie doch vor drei Jahren für 2500 Euro schweren Herzens verkauft. Ich bin nie richtig warm mit ihr geworden, die zahllosen Anmerkungen vergällten das Lesen und die MEW waren mir viel vertrauter.)
Zurück zu Kuczynski. Er war ein Riese, auch in der Zeit. Mehrfach hatte er Stalin leibhaftig gegenüber gesessen, war mit vielen kommunistischen Legenden bekannt und sein Vater, wie er erzählte, kannte sogar Lenin noch persönlich. Hier war also einer, der von einem abstammte, der den Heiland noch berührt hatte … Und natürlich las er Lenin auf Russisch. Überall im Lande, vor allem in Sachsen, sagte man Lehnien, aber Kuczynski sagte Lennin – ich hatte gleich gar nicht verstanden, wen er meinte. Man mußte also Lennin sagen, wenn man den Namen richtig aussprechen wollte?
Und dann war Kuczynski eine Art Unberührbarer. Er hatte eine gewisse Narrenfreiheit. Was bei anderen Parteiverfahren zur Folge gehabt hätte, das konnte Kuczynski öffentlich sagen und schreiben. Man hielt ihn für einen Wirtschaftsweisen mit direktem Draht zu Erich Honecker, der sich alle Jahre wieder von ihm den Kapitalismus erklären ließ. Man konnte ihm auch schwerlich am Leder flicken. Wenn es doch jemand versuchte, dann griff er gern in die unschlagbare Historienkiste: Aber ich habe doch schon 1931 geschrieben … Nach 60 Jahren Produktion hatte Kuczynski schon alles gesagt und vertreten, was man sagen und vertreten konnte.
Ich hatte damals schon einiges von ihm gelesen: sein Buch über die Intelligenz, das über die „Klassen und Klassenkämpfe“, jenes über das Jahr 1903, die Abraham-Lincoln-Biographie, „Jahre mit Büchern“, sogar die „Philosophie des Huhnes“ – ja, so war Kuczynski, er konnte über alles schreiben: ein Universalgelehrter – für die kleinen DDR-Verhältnisse.
Aber den größten Eindruck auf uns machte sein „Dialog mit meinem Urenkel“. Darin sprach Kuczynski bereits 1983, also noch vor Gorbatschows Perestroika, einige der Offensichtlichkeiten an, über die niemand sprechen durfte. Er tat das meist in einer pseudophilosophischen Sprache. Dort, wo man auf der Straße sagte: „Das funktioniert so nicht“, da sprach er von „antagonistischen Widersprüchen im Sozialismus“ und wenn man in der Kneipe hörte: „Das hat mit Sozialismus nichts zu tun“, da prägte er den Begriff des „sich entwickelnden Sozialismus“. Der offizielle Sprachgebrauch sagte seit ein paar Jahren: „real existierender Sozialismus“, und per definitionem konnte es darin keine Widersprüche geben.
Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, also dem täglichem Leben, war unübersehbar – es sei denn, man war Idealist, wie ich. Damals hatte ich eine Freundin, die lebte in Guben – „Wilhelm-Pieck-Stadt“ -, wohnte im legendären Hochhaus und arbeitete Schicht im Chemiefaserwerk.
Die Freundin kam – je nach Schicht – morgens, mittags oder nachts erschöpft nach Hause und erzählte mir, daß das nichts wird mit dem Sozialismus, zumindest nicht in diesem Werk, in dem es drunter und drüber ging und jeder jeden verarschte, und ich erzählte ihr von Marx und las ihr daraus vor und erklärte ihr, daß es was werden mußte – per historischem Gesetz! Meist hörte sie sich das eine Weile an und schaltete dann den Fernseher an, um auf Sat1 „Der Preis ist heiß“ zu sehen. Ich konnte den westlichen Müll nicht lange ertragen, und wir begannen uns zu streiten und lösten den Widerspruch meist durch dialektische Verwindungen. Allerdings konnte das dünne Laken der Dialektik die darunter liegenden “antagonistischen” Widersprüche nicht ewig verdecken.
Guben war ohnehin eine interessante Stadt im Osten. Dort konnte man nicht nur das Scheitern des Sozialismus, sondern auch das des Multikulturalismus schon in den 80er Jahren studieren. Es gab tausende Gastarbeiter aus Kuba, Mosambik und Vietnam, und Polen war nur tausend Meter entfernt. Die meisten waren Männer, und vor allem die temperamentvollen Kubaner und die muskulösen Afrikaner machten ihre Bedürfnisse deutlich. Es herrschte massiver Frauenmangel und es gab nicht wenige Mädchen, die sich von den Vorteilen einer gemischten Beziehung überzeugen ließen. So z.B. die Freundin meiner Freundin, die mit einem Pedro liiert war. Neben Politik ging es fast nur um Sex, das letzte Ressort der Lebensfreude in der sozialistischen Ödnis. Die ganze Szene war äußerst dynamisch.
Auch im Hochhaus wohnten alle möglichen Nationalitäten. Es roch immer nach Huhn, es wimmelte vor Kakerlaken. In allen Ecken lag der Müll. Niemand kümmerte sich – man lebte aneinander vorbei. In der Stadt gab es Skinheads und Rechtsradikale und Graffiti, es wurde viel getrunken, überall saßen Gruppen Jugendlicher, Spannung lag in der Luft und in gewisse Kneipen oder Straßen sollte man besser nicht gehen. Das ist mir eigentlich erst später richtig bewußt geworden, denn natürlich verstand ich mich, als Internationalist, gut mit den heißblütigen Nachbarn.
Da waren sie mit der Hand zu greifen, die unversöhnlichen Widersprüche. Trotzdem gab es in Akademia hitzige Diskussionen, ob es sie geben könne oder nicht. Auch andere scholastische Fragen wurden disputiert, z.B. ob es gemischte Basen (und Überbau) oder nur reine Basen geben könne. Renegat Kuczynski glaubte an gemischte, aber, wie er schreibt, „sei diese Frage im Politbüro diskutiert worden, und das Politbüro habe beschlossen (!), daß es nur reine Basen gäbe“ – und damit war die Frage geklärt.
Der „Dialog mit meinem Urenkel“ war wie ein Ratgeber in parteikonformer Dissidenz. Kuczynski weitete damit den – wie man heute sagt – Raum des Sagbaren. Seine Autorität, die sich aus Leistung und Charisma speiste, gestattete ihm, diese Dinge zu benennen. Heute würde ich sagen: Er war der Parteinarr, den man nicht für voll nahm, der auch mal eine Wahrheit ausplaudern durfte, über die man öffentlich lachte, um sie gleich ganz schnell wieder zu vergessen. Wer ihm unbedacht nachplapperte, bekam das Fallbeil zu spüren.
Wenn ich heute sein Buch lese, dann steht mir seine Erscheinung wieder sehr plastisch vor Augen. Er redete eine Viertelstunde, lobte die Jugend, ihren Mut und ermunterte uns, tapfer die Wahrheit zu suchen. Dabei kam das Eigenlob nicht zu kurz. Überall, wo angeblich kritisch gedacht worden war, stand er in der Mitte. So schuf er sich selbst eine Fama. In seinem Buch stehen exakt die gleichen Sätze und zwar in zahllosen Wiederholungen, die er auch damals sagte. Im Grunde genommen hatte dieser alte Mann in seinem langen Leben nur ein paar Gedanken ausgebrütet und sie mit unendlich viel Material und Zahlen und Statistiken ausgeschmückt und das hielt man in der DDR für die Spitze der Wissenschaft.
Dann durften Fragen gestellt werden. Doch Kuczynski war nahezu taub. Jemand mußte ihm die Fragen aus dem Saal noch einmal direkt ins Ohr schreien. Entweder konnte oder wollte er sie nicht verstehen. Uns bewegten existentielle Ängste: Was sollte aus der DDR werden, was aus uns? Kuczynski verstand irgendein Wort und imaginierte die Frage und plauderte dann über ein ganz anderes Thema.
Auch ich meldete mich. Damals war ich eine auffällige Erscheinung. Ich trug mein Haar lang und wild und das wollte nicht recht zum Parteiausweis passen. Tatsächlich wurde ich immer wieder ermahnt – aber das spornte mich nur noch mehr an. Jedenfalls fragte ich ihn nach den Klassikern. Welche Rolle würden die Lehren von Marx, Engels und Lenin noch haben, und sollten wir uns nicht wieder den eigentlichen Quellen annähern und den ganzen ideologischen Ballast der letzten Jahrzehnte abwerfen? Doch Kuczynski verstand nur Lenin und erzählte irgendein Histörchen aus seinem unendlichen Anekdotenschatz.
Dabei trieb mich just diese Frage um, schon lange. Sie hatte mir genügend Lehrstücke geboten, um die Augen zu öffnen, doch ich wählte die Blindheit.
Bereits während meiner Militärzeit wagte ich den Sprung. Als Parteigruppenvorsitzender sollte ich den alljährlichen Rechenschaftsbericht halten, das heißt, irgendwie eine Stunde redend und möglichst nichtssagend überbrücken. Ich nutze sie zur großen Abrechnung, die darin kulminierte, daß ich den Ausschluß von drei, vier Genossen anregte, denn diese seien nur Mitläufer und weit davon entfernt, Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein. Das war – in begrenztem Maße – mutig (zumindest hat es mich Mut gekostet), ja, es war sogar eine kleine Revolution. Als ich beendet hatte, erhob sich der Parteioffizier, ein Hauptmann, dankte mir in schläfrigem Ton für den Rechenschaftsbericht und rief den nächsten Tagesordnungspunkt auf. Bin ich aufgewacht? Nein.
Später, als Student und mal wieder Parteigruppenvorsitzender, entdeckte ich bei Lenin eine Stelle, in der er dazu aufrief, hunderttausend, besser zweihunderttausend Mitglieder aus der Partei zu entfernen, die nur aus persönlichen Gründen dabei seien. Mitläufer. Lenin gab mir also recht. Ich verfertigte ein mehrseitiges Pamphlet und hängte es an die Wandtafel, wo es tatsächlich viele Leser fand. Aber mehr auch nicht. Wieder verlief es im Sand.
Im Dezember 89 sollte die Hochschule einen Delegierten zum ersten Parteitag der neuen Ära schicken – auf ihm wurde die Partei in PDS umgenannt. Gregor Gysi wurde zum Frontmann. Ich bewarb mich und hielt in der großen Aula eine flammende Rede über die Notwendigkeit der Rückbesinnung auf die Klassiker. Wenn ich nicht irre, gab es dafür 27 Stimmen – geschickt wurde der Parteisekretär mit 400 Stimmen, der über Nacht einen sozialdemokratischen Kurs eingeschlagen hatte. Er hielt auf dem Parteitag eine Rede, die live im Fernsehen zu sehen war, und wurde nach exakt fünf Minuten von Berghofer mit den emblematischen Worten „Genosse, deine Zeit ist abgelaufen“, jäh aus den Träumen gerissen.
Schließlich verfaßte ich eine längere Arbeit über Lenin und Stalin und schickte sie ans „Neue Deutschland“. Zu meiner Überraschung bekam ich wenig später einen Brief, in dem man mir die Publikation für die Wochenend-Doppelseite zusicherte, und tatsächlich, wenige Ausgaben später erschien er in aller Pracht, mitten in der Mitte im ND und in voller Länge über zwei ganze Seiten. Es war meine allererste Publikation. Aber man stelle sich meinen Schreck vor, als ich darunter einen fremden Namen fand! Irgendein Doktor der Geschichte hatte sich meinen Artikel geklaut – und ich bin noch immer nicht aufgewacht …
Vielleicht hätte Kuczynski mich wecken können, wenn er gewollt hätte. Er war wirklich eine Autorität. Aber es war wohl zu viel verlangt von einem steinalten Manne, der auch nach dem Untergang des Sozialismus sich die Vorfreude auf den Sozialismus nicht nehmen lassen wollte.
Laurenz
@JS
Der real existierende Sozialismus scheiterte, weil die Kommunisten keine Ahnung davon hatten, wie der Übergang in Privateigentum, der Motor einer jeglichen funktionierenden Gesellschaft zu gestalten sei. In der Sowjetunion agierte Gorbatschow politisch, nicht ökonomisch, ein existenzieller Fehler. Deng Xiaoping, ca. 8 Jahre vor Gorbatschow an der Macht, machte es diametral gegensätzlich. Deng entwickelte einen chinesischen Nationalsozialismus, auch wenn keiner es wagt, das auszusprechen & der Relotius seit Jahrzehnten vom inneren Widerspruch der KP Chinas faselt. China konnte der Stadt Trier ganz leicht ein Karl-Marx-Denkmal schenken, weil man es in China nicht mehr braucht. Der real existierende Kapitalismus scheitert nicht an der historischen, alternativlosen Zwangsläufigkeit, sondern weil sich der Sozialismus Bahn bricht, wenn horrende Verluste in einer Bankenkrise vom Steuerzahler aufgefangen werden & nicht vom Aktionär oder Zentralbanken wider besseren Wissens Staatshaushalte sanieren. Auch Kuczynski hatte als marxistischer Ökonom einfach keine Ahnung von irgendwas, ein völlig unnützes Leben mit viel mißbrauchtem Papier.