Aufgewachsen waren wir mit der Doktrin: Die Bundesrepublik da drüben ist der Feind, in Gestalt des Deutschlands, das an das alte Reich und so an eine dramatische Geschichte anschloß, die viel umfassender war als jene Bezüge, die die DDR – vom Bauernkrieg über die 48er Revolution bis zum Marineaufstand 1918 – als paßrecht für ihre Traditionslinie empfand.
Die Bundesrepublik stand für Umfassenderes und für ein anderes Erbeverständnis. Damals, heute nicht mehr.
Wir in der DDR Herangewachsenen wähnten uns kraft der Legende von der Stunde Null und im Ergebnis von Aufbauerfolgen in einem ganz neuen Deutschland zu Hause, das seine Konsequenzen aus historischen Fehlern und deren Endkatastrophe gezogen oder sich davon „revolutionär“ abgekoppelt hatte. Gut, dies wies sich im ökonomischen Erfolg noch nicht aus, aber dafür, wurde uns erklärt, gab es Ursachen, die primär nicht im sozialistischen Aufbruch selbst lägen.
Das werde schon noch, erläuterte man uns. Wir seien jung, genau unsere Leistung wäre gefragt, wir würden sehr gebraucht und hätten uns hart anzustrengen, denn künftiger Wohlstand wolle erarbeitet sein – sozialistisch aber, kein bürgerlicher Spießerwohlstand. Ein Wirtschaftswunder blieb nicht allein wegen Systemmängeln aus: Die UdSSR zog bis 1953 Reparationen in Höhe von 15 Milliarden Dollar ab, das Dreifache der Lasten des Westens, und bediente sich auch danach aus der laufenden Produktion.
Dennoch wurde die DDR von vielen Hineingeborenen tatsächlich als Vaterland empfunden, und zwar wohl oder übel. Sie verfügte durchaus über eine nationale Idee und zwang in ihrer Ausschließlichkeit jeden zu einer Positionierung, für oder gegen sie. Daß sie scheiterte, mag zwingend folgerichtig gewesen sein, aber einen so rasanten, so fulminanten Untergang, der nichts übrigließ, hatten wir nicht erwartet.
Vielleicht weil sich niemand vorstellen konnte, daß die Sowjetunion – schon gar in der Person des völlig verklärten Hoffnungsträgers Gorbatschow – ihr eigenes Geschöpf so abrupt fallenlassen würde. Peter Hacks, ein so interessanter Autor wie überzeugter Stalinist und trotz bizarrer Auffassungen eine ernste literarische Empfehlung wert, hat Gorbatschow daher einen „erwiesenen Unmarxisten“ und „kaukasischen Gewohnheitslügner“ genannt, „ein Schaf im Schafspelz mithin.“
Wir waren zwar keine Sowjetrepublik, aber Hunderttausende Sowjetsoldaten im Land, allgegenwärtig, erschienen als allerstärkstes Argument, als Garantie einer wie auch immer fortzusetzenden DDR-Existenz. Unsere innere Wärme, von der später oft so unklar wie doch treffend die Rede sein sollte, wurde durch den Kalten Krieg erzeugt.
Im Rücken die so mächtige wie unheimliche Sowjetunion, von der wir allerdings zu wenig wußten und deren düsterste Geheimnisse wir nicht kannten, uns als Frontstaat gegenüber die Bundesrepublik als NATO-Staat. Diese sollte der aggressive Feind, jene der gute starke Bruder sein. So die Konstellation.
Daß die vermeintlich bereits den Kommunismus erbauende UdSSR schlappmachen und uns hängenlassen könnte, war gerade angesichts der Überpräsenz ihrer Militärmacht für uns ebensowenig erkennbar wie der schicksalhafte Wandel, daß das gleichsprachige Feindesland drüben uns in die deutsche Geschichte heimholen würde.
Aber genau so geschah es. Wer heute meint, er hätte das erwartet, der fabuliert sich etwas zurecht. Aus unserer wie aus der Innenperspektive der Bundesrepublik war dieser sagenhafte Vorgang der Wiedervereinigung noch im Frühjahr 1989 überhaupt nicht absehbar. Wer dennoch darauf hoffte, tat es auf eine Art politreligiöse Weise, so wie man noch auf die Rückkehr Schlesiens, Pommerns und Ostpreußens hoffen mag – nachvollziehbar zwar, aber ohne jede Aussicht auf Erfüllung.
Deshalb die allzu romantische Rede vom Geschenk der deutschen Einheit. Faszinierend, ja. Nur kam man mit dem Nachdenken darüber kaum hinterher. Die Prozesse, vor 1989 undenkbar, liefen dann ab Winter 1989/90 mit der enormen Kraft des Faktischen unerwartet schnell ab.
Der plötzliche Wunsch nach Vereinigung war fraglos stark. Auch weil ein im Herbst 1989 wieder recht klein erscheinendes Land nach bisheriger Logik ja irgendwohin gehören mußte und nicht auf sich allein gestellt bleiben konnte. Der Ostblock versank wie ein gewaltiges, aber rostzerfressenes und leckgeschlagenes Schlachtschiff, von dem man sich erst jetzt fragte, weshalb man es überhaupt für schwimm- und manövrierfähig gehalten hatte.
Aber Tschechen waren Tschechen, Slowaken blieben Slowaken, Polen sind immer stolze Polen und Ungarn einfach Ungarn; nur DDR-Bürger waren, fiel jetzt auf, doch wohl eher – Deutsche?
Das rettende Ufer lag im Westen. Dort sprachen sie unsere Sprache, dort war das alte Deutschland, das sich doch offenbar wirtschaftlich und politisch bewährt hatte, während wir in einer Art globaler Blamage gescheitert waren, ganz zu schweigen von dem Schuldkonto, das von der Staatsverschuldung bis zur Staatssicherheit plötzlich offenlag.
Außerdem war seit Gorbatschow, Glasnost und Perestroika dieser Leichengeruch der Opfer nicht mehr zu verdrängen, weil die Kellergewölbe der Geschichte des Stalinismus geöffnet worden waren. Geschockt registrierten wir, daß alles der Wahrheit entsprach, was kurz vorher noch als „hysterischer Antisowjetismus“ gegolten hatte.
Jenseits aller Wende‑, Bürgerbewegungs- und Heldenstadt-Leipzig-Romantik:
Unser Lampedusa, unsere Balkanroute waren schon unmittelbar vor der Wiedervereinigung die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau gewesen. Die einen saßen dort fest und wurden beköstigt, bis Genscher ihnen die frohe Botschaft brachte, die anderen – gerade noch „zu Hause“ – fanden ihre sich dem Westen aufdrängenden Landsleute peinlich und forderten illusionär eine andere DDR; schließlich aber kamen alle sozusagen in den Westen bzw. der Westen mit Demokratie, Rechtsstaat, D‑Mark und Discountern zu ihnen. Auch alle Heldenstädter und Wendehälse wollten vor allem eines – endlich die Intershop-Waren frei zugänglich einkaufen: „Coca-Cola, Büchsenbier – Helmut Kohl wir danken dir!“ So lautete einer der ehrlicheren Slogans.
Noch jeder beleibte Busfahrer, der uns ab Wiedervereinigung auf Billigtouren durch Europa kutschte, erschien uns mit der schwarz eingestickten Rose auf der Hemdwampe wie ein erfolgreicher Unternehmer, mindestens aber bürgerlich, ganz im Gegensatz zu uns.
Dennoch: Die da drüben im Westen waren nicht nur fremd gewordene Verwandte, sondern die ganz anderen Deutschen, die wir über Jahrzehnte als Feinde anzusehen hatten und von denen nicht wenige tatsächlich unsere Feinde gewesen waren und vielleicht geblieben sind.
Auffällig, daß nach der sogenannten Wende über alles mögliche geredet wurde, nicht aber darüber, daß politische und militärische Feindschaft, wenngleich sie aus einer globalen Ost-West-Spaltung rührte, für von der Geschichte nun wieder Vereinte durchaus ein Problem ist. Plötzlich taten alle so, als kämen mit der Wiedervereinigung tief befreundete Volksgruppen zusammen, die böse Mächte ganz unfreiwillig voneinander getrennt hatten. Fortgeschrieben wurde, wurde, was Katja Hoyer so formuliert: „Westdeutschland wurde zum Kontinuitätsstaat erklärt und Ostdeutschland zu Anomalie.“
Die Vereinigung funktionierte einerseits, weil wir bedingungslos kapitulierten, zuallererst vor uns selbst, geschockt von der eigenen Niederlage, gerade wegen verzweifelter Bemühungen ums Eigene in den Achtzigern, noch verblüffter darüber, das Ende nicht kommen gesehen zu haben. Sie, die Vereinigung, funktionierte andererseits, weil die anderen nun mal die Sieger der Geschichte waren und ihre vermeintlich durchweg bewährten Regularien auf uns übertrugen. Wie lächerlich doch, ja beschämend, daß genau unsere Staatsführung immer für die DDR in Anspruch genommen hatte, Sieger der Geschichte zu sein.
Nein, wir hatten verloren, schienen allein nicht überlebensfähig, wurden aber von den fremden Verwandten nachsichtig adoptiert. Wir sollten gefälligst dankbar sein. Wir waren wenige, die Einwohnerzahl im Osten entsprach etwa der von Nordrhein-Westfalen; die mächtige Bundesrepublik würde uns schon behausen, so die halb hoffnungsvolle, halb resignierte Annahme.
Ebenso wichtig ist jedoch ein Trugschluß, für dessen Klärung wir etwa zwei Jahrzehnte brauchten:
Allzu sehr mit dem eigenen Schicksal beschäftigt, erkannten wir erst nach und nach, daß die Bundesrepublik selbst sich längst geändert hatte und überhaupt nicht mehr der hart leistungsorientierte Staat Adenauers, Erhards und Kiesingers war, sondern, bedingt durch Generationswechsel, eine Art sozialdemokratisch und tendenziell grünalternative Weich-Variante davon.
Die an die achtundsechziger Revolte anschließende Kulturrevolution der Siebziger war in ihrer Dimension aus der DDR-Perspektive und mit DDR-Politlogik kaum zu begreifen, weil ja auch nicht zu begreifen war, was die sich links wähnenden Bürgersöhnchen und höheren Töchter meinten, wenn sie, Papas dickes Taschengeld im Portemonnaie, von Marxismus und Leninismus sprachen. Mindestens darauf meinten wir ja in der DDR das alleinige Anrecht zu haben, mit allen Schwierigkeiten, die er uns in der Praxis eintrug.
Drüber war der Marxismus doch wohl nicht Praxis. Oder doch? Willy Brandt mochte zwar der gute alte Onkel der Sozialistischen Internationale gewesen sein, aber Helmut Schmidt hatte immer noch die Anmutung eines schneidigen Wehrmachtsoffizier und passenderweise die NATO-Nachrüstung inspiriert, und Helmut Kohl schien das alte wuchtige Deutschland geradezu physisch zu verkörpern, insbesondere wenn er neben Honecker oder eben Lothar de Maizière zu stehen kam. Schon famos, wie er auf den Hallenser Eierwerfer zuwalzte. Diese Aktion konnte überhaupt als ikonographisch für die neue Einheit gelten.
Wir Ostler konnten nicht umfassend nachvollziehen, daß sich die Bundesrepublik längst von unten auf sehr prinzipiell verändert hatte und das, was einst ihre Stärke gewesen sein mochte, zu schwinden begann.
Wir verstanden nicht, daß der uns heimholende Westen, den wir dann mit der ersehnten D‑Mark erlebten und der sich in den Neunzigern mit Treuhand, Übernahmen und Rationalisierungen noch als regelrecht kapitalistisch zeigte, seine ursprüngliche Identität bereits verändert hatte:
Rheinischer Kapitalismus, das klang ja noch nach was. Und dazu mochte der Rosenzüchter von Rhöndorf ebenso gepaßt haben wie Gelsenkirchen als Stadt der tausend Feuer. Aber dieser gute alte Kapitalismus war, bemerkten wir irritiert, längst im Verschwinden begriffen – wie andererseits unser pseudoheroischer Sozialismus stalinistischer Prägung, nur eben langsamer, gleichwohl aber unausweichlich. Mit dem Kalten Krieg endeten die letzten Ausläufer der Moderne.
Spätestens am Ende der Neunziger registrierten wir:
Die im Westen wollten mindestens offiziell ja gar keine Nation mehr sein! Gewissermaßen hatte die Weizsäcker-Rede von 1985 das klargestellt, was die Kinder und Enkelgeneration dieses noch konservativ wirkenden Bundespräsidenten klargestellt wissen wollte, und dies bereits 1985, also fünf Jahre vor unserem Beitritt. Gleichfalls deutete der Historikerstreit darauf hin. Jürgen Habermas, Hans und Wolfgang Mommsen sowie Hans-Ulrich Wehler polemisierten seit den Siebzigern gegen das alte nationale Selbstverständnis; die von Helmut Kohl zunächst beschworene „geistig-moralische Wende“ blieb aus.
Weizsäckers Wort von der „Befreiung“ meinte nicht weniger als den Abschied von der alten Nation überhaupt. Ein neues Deutschland sollte es sein, ein prinzipieller Bruch sollte erfolgen. Und er erfolgte.
Die Bundesrepublik aber, lernten wir Dazugekommenen, wollte nicht nur keine Nation mehr sein und sich stattdessen in „Europa“ oder besser noch in der „Weltgemeinschaft“ aufgegangen wissen, sie wollte, mehr noch, mit gerade noch basiskapitalistischen Mitteln eine Art Sozialismus allumfassender Gerechtigkeit und Gleichheit wagen. Daher all die neuen Propagandabegriffe wie Teilhabe, Inklusion, Bildungsgerechtigkeit.
Mittlerweile ging es nicht mehr zuerst um Leistung und Leistungsgesellschaft, sondern um anzumeldende „Bedarfe“. Plötzlich war nicht nur die Würde des ersten Grundgesetzartikels jedem per se zuzumessen, sondern ebenso der gleiche Wert. Das galt mehr noch für Zugewanderte.
Ja, wir gewannen den Eindruck, daß für die Sicherstellung des eigenen Wertes nichts mehr zu leisten war, sondern daß jene, die weniger oder gar nichts leisten wollten, insbesondere nicht für das zunehmend verpönte Vaterland, sogar das Maß und die Richtung bestimmten. Warf man ihnen das vor, verlangten sie mehr „Respekt“. Wofür bloß?, fragten wir uns.
Ganz wesentlicher Wandel: Ungleichheit und Ungerechtigkeit wurden einander mehr und mehr gleichgesetzt.
Leistungsanforderungen zu stellen oder für Vergünstigungen Leistungsbereitschaft zu verlangen, das begann nunmehr als diskriminierend, als segregierend zu gelten. Wo einst Exklusion erfolgt war, solle jetzt um so mehr Inklusion heilen, insbesondere in der Bildung, wo das Scheitern kraft kultusbürokratischer Richtlinien und Erlasse verhindert wurde. Und wo es dennoch geschah, sah man die Lehrer oder soziale Umstände als dafür verantwortlich an, aber schon gar nicht mehr den Schüler selbst in der Pflicht, sich mehr zu engagieren.
Im Zuge dieses Wandels griff zudem eine Art gesellschaftlicher Neurotisierung um sich:
Die Vergangenheit wurde insgesamt als ein böser Alptraum wahrgenommen, als Schrecknis und Verbrechen, worüber sie im Westen noch geschockter schienen als wir, nachdem klar war, was Stalinismus wirklich bedeutet hatte.
Nicht nur das Vaterland galt als diskreditiert, sondern ebenso die Muttersprache. Wer noch auf deren sicheren und nuancierten Gebrauch hinzuwirken versuchte, altmodisch konsequente Deutschlehrer etwa, galt bald als Grammatikfaschist – mit der Folge, daß die eigene Sprache von immer weniger Deutschen qualifiziert beherrscht wurde und damit gleichfalls das kritische Denken eingeschränkt war, mehr noch als von der einsetzenden Neuauflage politischer Zensur und der Wiederkehr der Berufsverbote.
Plötzlich wollte eben jene Bundesrepublik antiimperialistisch sein, die wir aus DDR-Sicht als natürlich und kernig imperialistisch kannten und als solche respektieren gelernt hatten. Sie sah sich längst als schwer schuldbelastet an, rief, angetrieben von „woken“ jungen Garden, ihr „Mea culpa, mea culpa!“ immer hysterischer in die Welt und wirkte in ihrem Bedürfnis, sich immer affektierter kleinzumachen, indem sie allen anderen alle Anspruchsrechte sich gegenüber einräumte, beinahe unfreiwillig komisch, ja blödsinnig und politisch geistesgestört.
So, wie bald jeder Mann, nur weil er Mann war, als quasi naturgemäß potentieller Sexist galt, stand jeder Deutsche im Verdacht, im Genotyp unweigerlich Nazi zu sein, der sich ohne eindringliche politische Bildung neuerlich zum „willigen Volltrecker“ auswachsen würde. Deshalb hatte er sich mit vorauseilendem Gehorsam in die neue Regenbogenfahne zu hüllen und in seinen Äußerungen der Regelpoetik gefühlslinker Correctness zu folgen.
Erst nachdem wir Ostler begriffen hatten, wohin die Reise politisch ging, sahen wir klarer:
Wir bemerkten, daß insbesondere die Schule immer mehr kulturelle Bestandsverluste zuglassen hatte, weil die Schulpolitik meinte, nur über den Verzicht auf substantielle Kenntnisse und auf die Erziehung zu früher bewährten Tugenden würde Bildung gerechter. Weil weniger vermittelt wurde, mußte kulanter geprüft und mußten die Bewertungen inflationiert werden, während das Gymnasium zu Gesamtschulen und die nichtgymnasialen Bildungsgänge zu Resteschulen abstiegen.
Wir bemerkten plötzlich überhaupt den augenfällig miserablen Trainingszustand unserer Altersgenossen im Westen, die wir doch eigentlich für fit gehalten hatten. Der „Lauch“, das war der Jungendtyp West. Kraftvoll, mobil und elastisch wirkten eher die ins Land drängenden Migranten.
In Ergebnis der Masseneinwanderung wird deutlich, daß letztlich mit Eingewanderten kein Staat zu machen ist, weil die quasi selbst ihren Staat machen. In seinem Kommentar mit dem beredten Titel „Sie wollen einfach nicht“ wird das F.A.Z.-Autor Jasper von Altenbockum klar:
„Einbürgerung muss aber, um überhaupt etwas gestalten zu können, ein Zeichen gegenseitiger, nicht einseitiger Akzeptanz sein. Die türkischen Autokorsos auf deutschen Straßen waren insofern eine Machtdemonstration, die sich gegen eine devote Einwanderungspolitik richtete. Sie sollte sagen: Ihr könnt noch so wenig wollen, wir wollen gar nicht.“
Nachdem uns anfangs mit pädagogischer Penetranz und didaktisch erhobenem Zeigefinger weisgemacht worden war, wir kämen vom faulen Sozialismus in eine aufgeweckte Leistungsgesellschaft und der Preis für die Freiheit wären Selbstverantwortung und Fleiß, wurde immer deutlicher, daß Leistung mehr und mehr als Überforderung, ja als diskriminierend angesehen wurde und daß ein jeder Anrecht auf Ergebnisse von Wertschöpfung haben sollte, sogar gerade dann, wenn er selbst gar nicht willens oder überhaupt in der Lage war, etwas an Werten zu schöpfen.
Seitdem die mutige Agenda-Politik Gerhard Schröders, dieses letzten alten weißen Mannes der Alt-BRD, rückabgewickelt wird, erleben wir, forciert noch von der staatssozialistisch anmutenden Corona-Maßregelungspolitik, gigantische Umverteilungen, nicht nur in Deutschland selbst, sondern mehr noch in „Europa“, dessen erstes Anrecht zu sein scheint, an Deutschlands Finanzwesen zu genesen.
Und weil sich dieses neue Deutschland immer noch so vergangenheitsbeschmutzt wähnte, zelebrierte es Reinigungsrituale und verhieß, daß es sich allen Armen und Beladenen der Welt gegenüber in der Pflicht sah. Genau das wurde 2015 eindrucksvoll dramatisch durchexerziert und danach vorm Hintergrund des gescheiterten Dublin-Abkommens fortgesetzt.
Seit etwa zehn Jahren dann der aggressive Bildersturm auf ein geschichtliches und kulturelles Erbe, das nun primär als imperialistisch, rassistisch und kolonialistisch identifiziert wird, aber aus dem historisch genau jener Komfort erwachsen war, dessen Luxus der linksgrünen und woken Bewegung erst die Kraft zur verhängnisvollen Neu-Ideologisierung ermöglichte.
Dennoch: Im Zuge der Umwertung aller Werte und Worte soll es hinfort Mohren-Apotheken ebensowenig geben, wie Joseph Conrads „Nigger von der Narcissus“ noch ein literaturgeschichtlicher Fortbestand gewährt werden darf. Eher noch wird aus dem Nigger ein Niemand. Nur so kann dessen „Identität“ geschützt werden.
Apropos Identität:
Unfugsbegriffe werden ersonnen, etwa jener der „kulturellen Aneignung“. Davor nämlich soll angeblich „Identität“ geschützt werden. Die kommt zwar „indigenen Völkern“ zu, darf aber vom eigenen gerade nicht beansprucht werden, hätten sich die Deutschen doch als rein staatsbürgerrechtlich definiert zu verstehen, keinesfalls aber als Ethnie oder Schicksalsgemeinschaft im Sinne eines Volkes.
Wird das von politischen Kräften dennoch beansprucht, deklariert der Verfassungsschutz diese als rechtsextremistisch. Wer noch von „Volk“, gar von „Nation“ und „Heimat“ spricht, steht mittlerweile sogleich im Geruch, Faschist zu sein.
„Vielfalt“, als propagandistischer Slogan permanent verkündet, schließt irrerweise nur die eigene linksgrün uniformierte Gefolgschaft ein, ausschließlich der gegenüber auch Toleranz geübt wird – dort also, wo sie wegen völliger Übereinstimmung, ja Gleichschaltung im Ideologischen gar nicht nötig wäre.
Wo sie hingegen erfordert ist, gegenüber Andersdenkenden, gibt es keine Toleranz im Diskurs; dort soll vielmehr umstandslos der Verfassungsschutz als exekutives Ausschlußorgan tätig werden. Die Diskreditierung kritischer Überzeugungen gilt in Deutschland neuerdings als „Courage“.
Ja, es ist alles viel besser im Sinne von komfortabler geworden. Aber vermutlich ist es dieser entlastende Komfort, der den Verfall von Formen und Institutionen bedingt und intellektuellem Kretinismus ebenso Vorschub leistet wie einer Schwächung der Haltung sowie dieser seltsamen Komplexbeladenheit, die über jede notwendige und gesunde Selbstkritik hinausgeht.
Daß in Deutschland immer mehr Schüler und Studenten ihre Ausbildung abbrechen, liegt ja eben nicht an hart selektierenden Prüfungen (Die gibt es kaum mehr!), sondern am schwindenden Vermögen, überhaupt am Morgen aufzustehen und Herausforderungen stabil zu begegnen.
Resilienz wurde nicht von ungefähr zum Modewort. Die Haltung, Widrigkeiten des Lebens mit Kraft und Ausdauer entgegenzutreten und souverän zu handeln, wird als etwas ganz Besonderes bewundert, während sie früher die notwendige Bedingung des Lebens und Überlebens schlechthin war.
Der alte Osten ist gescheitert. All die Ursachen kann man nachlesen und mehr oder weniger einsehen, aber dieser alte Osten war weniger verzärtelt als vital. Unser einst eigenes Leben begann erst mit den Segnungen des Westens zu kränkeln und insbesondere auf den einst so lebendigen Dörfern völlig abzusterben. Mindestens dürfen wir skeptisch sein gegenüber diesem neuen Deutschland, das vor allem eines um keinen Preis mehr sein will: Deutschland.
Laurenz
Ich weiß nicht, ob Sie Ihren schön geschriebenen Gegenwarts-Artikel ausreichend überdacht haben. Gerade die DDR-Bürger, vor allem die Stasi-Leute der Hauptverwaltung A hätten das alles eigentlich vorab wissen müssen, was Sie hier ansprechen. Die Sowjetunion in der Nach-Stalin-Ära, wie die Russische Föderation waren/sind Vielvölkerstaaten, was einer gewissen Diplomatie bedarf. Ob da noch ein paar hergelaufene, Mongolen, Tschechen, Polacken oder Nemez in den Vasallenstaaten dazu kommen, spielte dann auch kein Geige mehr. Die Freiheit im Westen mußte nur solange aufrecht erhalten werden, wie es keine Freiheit im Osten gab. Die DDR hätte durchaus die Option gehabt, sich teurer verkaufen zu können, mehr Deutsches im GG festschreiben zu können. Aber Gregor Gysi & Dietmar Bartsch trafen im Westen auf ihresgleichen. Endlich konnte man auf diesen nationalen Quatsch verzichten & sich wieder auf die Weltrevolution konzentrieren. Wer hat denn im Westen die Sowjetunion geschaffen? US Amerikaner, die Trotzki schickten. Umgekehrt wirkte der KGB im Westen subversiv. Hier Yuri Bezmenov im Interview https://youtu.be/pOmXiapfCs8