Der Gegenbeweis, der ehemalige US-Außenminister und global gefragte Experte für Weltpolitik Henry Kissinger, ist gestern, am 29. November 2023, im Alter von 100 Jahren verstorben. Ein Rückblick:
Als Heinz Alfred Kissinger am 27. Mai 1923 im fränkischen Fürth geboren, wuchs er in einer »behüteten bürgerlichen Welt auf, mit Klavierunterricht, Theaterbesuchen« und einer großen Familie, die »loyal zur jungen Republik« stand, wie Kissingers Biograph Bernd Greiner in seinem Werk Henry Kissinger. Wächter des Imperiums zusammenfaßt.
Doch im Sommer 1938 endete die mittelfränkische Idylle; unter den Zwangsverhältnissen der NS-Herrschaft litt die Familie, so daß sie nach New York auswandern mußte. Dort wurde aus Heinz Alfred fortan Henry.
Er schrieb auch im Ausland Bestnoten, baute sich ein persönliches Netzwerk auf, wurde Anfang 1943 US-Bürger und sogleich von der Army für ein Jahr freigestellt, um in Pennsylvania studieren zu können. Allerdings verließ er seine Kurse, um ab 1944 im Counter Intelligence Corps, der Spionageabwehr der US-Armee, zu dienen. So kam er 1945 ins besiegte Deutschland und organisierte in Hessen nach Kriegsende die lokale Reorganisation öffentlichen Lebens.
Heimgekehrt 1947, begann er sogleich ein Studium in Harvard, wo insbesondere der akademische Nachwuchs fit gemacht wurde für die neue Konfrontation im Rahmen des einsetzenden Kalten Krieges. Kissinger, US-patriotisch, konservativ und antikommunistisch eingestellt, wurde rasch aufgesaugt vom Typus des »Defense Intellectuals«, der sich gegen die Sowjetunion positionierte und seine Tätigkeit begeistert in den Dienst des Westens stellte.
Bernd Greiner schreibt, daß damals der »Bedarf an intellektuellen Wächtern des Imperiums« groß war, und so konnte der hochintelligente, arbeitsame und zunehmend gut vernetzte Kissinger reüssieren. Fortan widmete er sein Leben dem Kampf gegen die »rote Gefahr«.
1951 reichte er seine Bachelorarbeit ein (»The Meaning of History«), wobei er sich auf den 150 Seiten an Arnold Toynbee, Oswald Spengler und Immanuel Kant gleichermaßen orientierte. Hinzu kam Kissingers Plädoyer für risikobereite Eliten, die willensstark und durchsetzungsfähig Geschichte machen würden. Es gehe nicht darum, mit Fakten umzugehen, sondern selbst Fakten zu schaffen – zeitlebens blieb dies Kissingers Motto.
Ein weiteres entwickelte er als Doktorand (1952 Master, 1954 Promotion): Glaubwürdigkeit, so zeigte sich Kissinger in seinen frühen Texten sicher, erreiche eine politische Hegemonialmacht nur dann, wenn sie militärische Entschlossenheit glaubhaft verkörpere. Zudem benötige sie ideologische Abwehrkräfte für etwaige Ideenkämpfe mit der globalen Konkurrenz.
Kissinger wurde zunehmend zum gefragten Harvard-Netzwerker mit internationaler Strahlkraft: Antikommunistische Leistungsträger aller Herren Länder strömten zu Kissingers Treffen in den USA und bildeten bald ein weltweites Netzwerk ähnlich ausgerichteter Akteure.
Für Sezession-Leser interessant dürfte eine Nebentätigkeit Kissingers in den 1950er Jahren sein: Er gab sechs Jahre die Zeitschrift Confluence heraus, in der neben US-Denkern auch Hannah Arendt, Ernst Jünger und ein gewisser Ernst von Salomon zu Wort kamen.
Hauptaugenmerk Kissingers Forschungs‑, Publikations- und Vortragstätigkeit war in diesen Jahren jedoch die Frage nach begrenzten Atomschlägen gegen Moskau. 1957 publizierte er das Buch Kernwaffen und Auswärtige Politik, in dem er klar für »begrenzte Atomkriege« plädierte, um die mögliche Expansion kommunistischer Großmächte zu stoppen. Damit kam Kissinger fortan in jeder öffentlichen Debatte vor; er eckte an, sorgte für Ärger und für Begeisterung.
Nicht der Atomkrieg, so Kissingers Credo, sondern die Angst vor ihm schwäche dauerhaft den Westen. 1959 teilte er dem Spiegel hinsichtlich einer potentiellen neuerlichen Berlin-Blockade durch die Sowjets mit:
Ich wäre dafür, den Russen ein Ultimatum zu stellen und, wenn nötig, einen totalen Krieg zu führen.
Kissinger setzte diesen Provokationskurs fort. Zwischen 1957 und 1968 veröffentlichte er fünf Bücher, Dutzende Aufsätze und hielt zahllose Vorträge. Das Thema war stets ähnlich.
So kam er ins direkte Umfeld Richard Nixons und arbeitete ihm zunehmend als Berater und Impulsgeber zu. Das zahlte sich aus: Als Nixon im November 1968 US-Präsident wurde, ernannte dieser Kissinger zum Berater für Nationale Sicherheit. Kissinger wechselte von der Seitenlinie ins geliebte Zentrum der Macht.
Dort verbreitete er unentwegt sein Mantra: außergewöhnliche Zeiten, außergewöhnliche Mittel, außergewöhnliche Vorrechte (für den Präsidenten und sein Gefolge). Nixon dankte es und ergänzte Kissingers Logik:
Nun, wenn der Präsident etwas tut, dann kann es nicht illegal sein. Wenn ein Präsident entscheidet, dass eine besondere Maßnahme zum Schutz der nationalen Sicherheit notwendig ist, dann ist diese Maßnahme rechtmäßig, selbst wenn sie durch ein Bundesgesetz verboten ist.
Kissingers Geist, Nixons Umsetzung – der lange Anlauf zu George W. Bush Jr. begann also Ende der 1960er Jahre.
Ende der 1960er Jahre war Kissinger beteiligt an der Bombardierung Kambodschas: Über 2,7 Millionen Tonnen Bomben aller Art wurden abgeworfen, rund 500.000 zivile Opfer waren zu beklagen. Das lag insbesondere auch in Kissingers Verantwortung.
Weltweit noch bekannter wurde Kissinger dann Anfang der 1970er Jahre, als er das rote Peking gegen das rote Moskau ausspielen wollte und dafür Nixons Zustimmung fand.
Kissinger zu Nixon im Oval Office im Februar 1972:
Im Moment brauchen wir die Chinesen als Korrektiv gegen die Russen, wir brauchen sie, um die Russen zu disziplinieren.
Auf Kissinger, den global rezipierten Atomkriegpublizisten, folgte nun Kissinger, der globale Strippenzieher.
Davon unabhängig vollzog sich jedoch 1972 und 1973 der Watergate-Einbruch. Es ging um Finanzen bzw. Wahlkampffonds und das, was man heute Negative Campaigning nennt, also die massive Beschmutzung politischer Gegner mit allerlei Unrat.
Kissinger fiel nicht. Er wurde im September 1973 sogar der neue Außenminister und erhielt einen Monat den Friedensnobelpreis für seine Bemühungen um Vietnam. Im Anschluß fokussierte er sich bis Mai 1974 auf den Frieden im Nahen Osten; unentwegt pendelte er zwischen Kairo, Damaskus und Tel Aviv. Vor allem aber ging es ihm auch hier um die Isolation der UdSSR.
1977 endete die Karriere auf dem staatspolitischen Parkett: Jimmy Carter wurde US-Präsident, Kissinger übernahm für vier Jahre die Leitung der Denkfabrik Council on Foreign Relations. Aus dieser Zeit stammt sein bis heute bedenkenswertes Bonmot:
Globalisierung ist nur ein anderes Wort für US-Herrschaft.
Im Anschluß tat Kissinger das, was er neben Reisen und Vortragen am liebsten tat und noch heute tut: ausführlich bis ausufernd schreiben. Seine drei Bände voller Erinnerungen an die außenpolitische Tätigkeit füllen 4000 Seiten, und da geht es lediglich um einen Zeitraum von acht Jahren.
Bei Ronald Reagan konnte er derweil trotz aller Schmeicheleien in den 1980er Jahren nicht andocken. So entschied sich Kissinger für die Gründung einer Denkfabrik und Beratungseinrichtung (»Kissinger Associates«), die vor allem von Großbanken und Großkonzernen gebucht wurde, um Expertise zu bestimmten Ländern und Konfliktpotentialen zu eruieren. Erst jetzt wurde aus dem weltmännischen Staatsmann auch ein reicher weltmännischer Staatsmann, wenngleich eher auf privater Mission.
Sein Biograph Bernd Greiner faßt das Leben Kissingers seit den 1980er Jahren (bis heute!) so zusammen:
Als Spin-Doktor in eigener Sache fährt er die größten Gewinne ein. Genauer gesagt, als Netzwerker und Verpackungskünstler, der überall zuhause ist, weil er unterschiedliche Interessen mit großer Flexibilität bedienen kann.
Die inhaltliche geopolitische Positionierung hat sich hingegen in den letzten acht Jahrzehnten nicht geändert.
Erneut Greiner, so gründlich wie schonungslos:
Erster Akt: Die Vereinigten Staaten definieren, was unter einem Gleichgewicht der Macht zu verstehen ist. Zweiter Akt: Sie nutzen ihre Macht, um andere vom allgemeinen Nutzen ihrer Sonderinteressen zu überzeugen. Dritter Akt: Sie sind die Macht, die Widerständige zähmt, militärische Zwangsmittel gegen jene eingeschlossen, die eigentlich keine militärische Bedrohung sind, aber mit ihrem abweichenden Verhalten Schule machen können.
So dachte Kissinger, so denkt Kissinger. Sollte man seine Werke dennoch lesen? Ja. Denn Peter Hacks’ Diktum, wonach Außenpolitik geistlos sei, wird von Kissinger Büchern fulminant widerlegt.
Hervorzuheben sind mindestens zwei Bände:
China. Zwischen Tradition und Herausforderung hat zwar bereits 12 Jahre auf dem Buckel. Die 600 dichten Seiten helfen aber noch heute, Land und Leute, Kultur und Volk, Staat und Partei der Volksrepublik besser zu verstehen.
Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert kratzt ebenfalls an der Kissinger-typischen 600-Seiten-Grenze. Wer die (bisher) 80 politisch-publizistischen Jahre Henry Kissingers verstehen will, muß dieses Buch lesen. Kissinger verarbeitet in diesem Werk seine Lebensgeschichte, seine Positionen und Begriffe, nicht zuletzt: seine Vorbilder und Leitwölfe, da »Führung unverzichtbar« ist, und die »Leader« zwingend »auch als Erzieher wirken« müssen. Kissingers Denkwelt wird anhand dieser Ausführungen deutlich wie in keinem anderen Buch.
Die sechs porträtierten Inspiratoren Kissingers sind übrigens Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yen und Margaret Thatcher.
Jedes Porträt ist – trotz massivem inhaltlichen Dissens – einzeln betrachtet eminent lesenswert und wissensvermittelnd. Wer dabei als Sezession-Leser noch Restsympathien für den ersten Kanzler der BRD, Adenauer, aufweisen sollte, dürfte nach der Kissinger-Lektüre endgültig davon befreit sein. Kissinger läßt keinen Zweifel an Adenauers eigentlichen Zielen: Westbindung um jeden Preis, Befreiung vom Osten.
Der Unterschied zwischen Autor und Leser ist evident: Kissinger deutet diese leidenschaftliche Subordination unter die westliche Hegemonie positiv, und zwar als Schritt in die ewige Freiheit des Atlantismus. Der Sezession-Leser, sofern er sich patriotisch und souveränistisch positioniert, dürfte das ein wenig anders bewerten.
So oder so: Henry Kissingers umfangreiches Werk ist epochal, auch wenn man seine ideologischen Parameter nicht als die seinen begreift und man die kriegerischen Interventionen, in die er bewußt und federführend verwickelt war, berücksichtigen sollte.
Herr K aus O
Zumindest für Westdeutschland hat sich der "Atlantismus" einigermaßen gelohnt. Jetzt aber hat man den Eindruck, als wenn die Rechnung, das Einlösen der Schuld ansteht. Die Zeitungen, die mit am verrücktesten am Rad drehen, haben ihre Lizenzen ja seinerzeit von den Amis bekommen: Springer, Spiegel und die Zeit. Danke für den fairen Nachruf und auch den Lese-Tip für Weihnachten.