Beständig bedarf es neuer Entwürfe und des Eingreifens in Geschicke und Abläufe, in die wir gestellt sind – ob nun im Jahr 918, 1618, 1918 oder 2018, jedenfalls im Zustande der „Geworfenheit“, wie Martin Heidegger unser Wesen begrifflich faßt.
Ungefragt gezeugt und geboren worden, sind wir im Dasein. Einerseits macht es einen Unterschied, wohin wir uns geworfen finden, ob nun in die Villa eines Frankfurter Bankiers, unters Wellblech einer brasilianischen Favela oder in ein Dorf an der Steinigen Tunguska, andererseits jedoch gleicht sich unsere jeweilige Existenz:
Wir sind da und haben uns spätestens mit erwachtem Bewußtsein kraft eigener Entscheidungen zu unseren Umständen zu verhalten – in Nutzung von Erfahrungen und im kritischen Abgleich mit bestehenden Konventionen möglichst lebenserhaltend und erfolgreich sowie idealerweise moralisch, im Zuge des seit der Neuzeit geradezu geheiligten Denkens und Urteilens und also nach Maßgabe einer uns angeblich allen eignenden Vernunft, wenn es nach dem Richtmaß der Aufklärung geht.
Aber schon den Alltag in seinen Fährnissen zu bestehen ist Herausforderung und Abenteuer genug. Hinsichtlich des uns zugemessenen Quantums Dramatik steht das Leben einer Almbäuerin im 19. Jahrhundert dem der Physikerin Marie Curie nicht nach, auch wenn beide unterschiedliche Herausforderungen zu bestehen haben. Manch basale, also entscheidende Lebensaufgaben dürften sogar dieselben sein.
Wir alle erfahren unausweichlich Leid und bisweilen Glück, sind konfrontiert mit Krankheit, Schmerz und Tod, können bereits im nächsten Augenblick trotz der Umsicht, auf die wir uns zu verlassen meinen, einen Unfall erleiden, der eben kein den Geschicken des Lebens isolierter Sonderfall, sondern – wie alles – ein kausal erfolgendes Ereignis ist. – Sehr wichtig und ergiebig daher, beständig über Kontingenz nachzusinnen. Und sich ihr zu stellen:
Die Diskrepanz zwischen der Ernsthaftigkeit unserer Ziele einerseits und der Erfahrung, daß ihnen widrige Zufälligkeiten und eigene Unfähigkeiten und Unzulänglichkeiten entgegenstehen, offenbart das Absurde unseres Daseins ebenso wie der ewige Versuch, mit dem Verstand etwas begreifen zu wollen, was sich immerfort hinter die Grenzen eben dieses Verstandes zurückzieht. – Wie kleinkariert mutet angesichts dessen doch politische Rechthaberei an.
Streng genommen folgen wir in der Weise eines infiniten Regresses beständig unbeweisbaren Sätzen, nehmen die aber, wiederum vorzugsweise politisch, als eherne Grundvereinbarungen. Der Sinn des Lebens ist letztlich nicht beweisbar; es bleibt beim Als-ob.
Aber je unsicherer wir werden, je mehr suchen wir nach „Grundüberzeugungen“ und damit die Gemeinschaft derer, die sie teilen oder die sie uns als sicher verkünden. Politik als Wunsch nach Heil und Schutz. Zur vermeintlich einzig richtigen Partei zu gehören, das wird als eine Art Segen empfunden, so wie einst nur eine Konfession als die richtige gelten konnte. Religiös ist das zu verstehen, weil Religion auf Transzendentes gerichtet ist, aber die politische Erwecktheit der allzu Diesseitigen erscheint zuweilen unheimlich.
Ergiebig wäre das Nachdenken darüber, inwiefern sich das politische Bekenntnis überhaupt von jenem zu einem Fußballverein, zu einem Rock- oder Rap-Star oder zu einem Mode-Label unterscheidet. Oder vom Selbstverständnis, Vegetarier oder Veganer zu sein. Überall diese Sehnsucht nach dem Symbol und dem Ritual, das in Ausschließlichkeit für das vermeintlich einzig Richtige steht. Selbst die schrille LGBTQIA+-Bewegung (Was für ein ungelenker Begriff doch!) agiert wie eine Glaubensrichtung und möchte bei allem Toleranz-Gedöns ganz totalitär als Muster für alle gelten. Vielen „queeren Personen“ dürfte ein simpler Heterosexueller doch als verirrte und unvollendete Persönlichkeit gelten. Bizarr, ja.
So absurd das moderne Dasein im Ganzen aber scheint, bleiben doch die Erfordernisse des (Über-)Lebens, um die wir uns sorgen. Nicht nur die Großen dieser Welt werden zu Helden; wir alle sind dazu geradezu gezwungen, was Tragik, Versagen und Scheitern stets einschließt. Weshalb eigentlich verklären wir die bedeutenden Revolutionäre und Reaktionäre?
Abgesehen davon, daß Berühmtheit nur selten von verdientem Ruhm ausgeht, sind die Berühmten uns Muster und Illustrationen des eigenen Bemühens um etwas Notwendiges, Erwünschtes, Erhofftes. Wir betrachten Kunst, lesen Bücher und schauen Filme, weil uns darin jene Widerfahrnisse illustriert aufgeführt werden, die wir selbst kennen. Zur Politik offenbaren schon die antiken Dichter und Shakespeare jene Tragödien um Hoffnung und Schuld, die sich bis heute nicht änderten.
Mit Blick auf die Geschichte ist ganz ähnlich der Vergleich damit interessant, wie sich unsere Vorfahren in Konflikten verhielten – im Nachsinnen darüber, wie wir handeln würden, stünden wir selbst darin.
Es gibt allerdings keine Garantie dafür, daß wir wacker bestünden, gerieten wir tatsächlich in schwierige Lagen. Die kurzfristig existenzsichernde Feigheit dürfte eher die Regel sein als der sich eher langfristig – wenn überhaupt – lohnende heroische Mut. Die linksgrüne Fraktion ist schon deshalb unglaubwürdig, weil sie sich überheblich sicher darin meint, in einer Diktatur selbstverständlich im Widerstand versammelt zu sein.
Wohltuend ist es beim Erleben der Kunst ja gerade, eben nicht selbst im Drama zu stehen, sondern das Beispiel distanziert nachfühlend, nachdenkend betrachten und allein innerlich erleben und bewerten zu dürfen. Nicht nur am Spielfeldrand wähnt sich jeder Einzelne klüger als die Spieler und der Schiedsrichter zusammen.
Aber wer von uns wollte selbst Tiberius Gracchus, Albrecht von Wallenstein oder Rosa Luxemburg gewesen sein, gerade mit Blick auf deren jeweiliges Ende? Wer wirft sich derart auf, daß es ihm selbst um alles, seinen Gegnern aber gerade deswegen um seinen Kopf geht?
Wir meinen es grandios finden zu müssen, wenn unsere Helden auf dem Scheiterhaufen, unterm Fallbeil oder vorm Erschießungspeleton enden. Wir benennen Straße, Plätze und sogar Schulen nach ihnen, schaffen Kultstätten, an denen sich die einen in Ehrfurcht verneigen, andere aber angewidert ausspeien.
Wer einer Partei beitritt, folgt dem Bekenntnis zu irgendwelchen Helden und versucht sich im Kleinen an deren Nachahmung. Jeder Listenparteitag hebt allerlei Eigenwerbung betreibende Typen auf den Schild, die dann mindestens zeitweilig als Herzöge agieren wollen und sollen, die vor dem Heer herziehen.
Es kommt zu frenetischem Applaus, zu famosen Aufstiegen, die allerdings – Zwangsläufig gar? – nicht nur in unweigerlichen Abstürzen, sondern in extremer Tragik oder Komik enden, selten jedenfalls in dem Glück, das sich die Protagonisten ebenso wie ihre gläubige Anhängerschaft von den Wahlen und Weihen versprechen. Noch jeder fanatisiert durchjubelte Wahlabend endete in Katerstimmung.
Daß Angela Merkel einen offenbar so ruhigen wie komfortablen Lebensabend vor sich hat, verdankt sie eben nicht ihrer konsequenten Positionierung, sondern einem phänomenalen Opportunismus. Für ihre persönlich gute Bilanz verschliß sie eine ganze Partei.
Skepsis ist geboten gegenüber den beschworenen Gestaltungsmöglichkeiten des Politischen. Bevor man die Politik, die Nation, gar die Welt einzureißen bereit ist, bevor man meint, über die erstmalig gefundene große Lösung zu verfügen und endlich die einzige, also ultimativ gültige Wegweisung vornehmen zu können, hat man täglich die Problemlösungen für sich selbst zu finden. Das ist das wirkliche Abenteuer; hier sind die wichtigen Heldentaten zu bestehen. Sind deshalb schon im Märchen die kleinen Leute die Helden und eben nicht die verzärtelten Prinzen?
Wenn Politiker und sogenannte Mandatsträger ihre Tage und Wochenenden in Marathonsitzungen verbringen, die sie hernach wie gewonnene Schlachten feiern, fragt sich der einfache Mann ganz zu Recht:
Haben die denn nie Rasen zu mähen oder an einem Zaun ihres Grundstücks Brennesseln auszureißen? Wer nur regelt ihren Alltag? Bertolt Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ fallen einem ein. Oft dürfte die Putzfrau die Heldin sein, mehr als die Ministerin, deren Büro sie zu säubern hat.
Symptomatisch, daß politisch oft genug Figuren aufsteigen, die für alle anderen die Rezepte anbieten, für sich selbst aber kaum in der Lage sind, ein verantwortungsvolles Leben zu führen.
Wir bedürfen der Politik, kommen an ihr als System der Wahrnehmung und Gestaltung öffentlicher Interessen nicht vorbei, aber wer sich politisch engagiert, sollte wissen, er befindet im Weberschen Sinne in einem Geschäft, von dem sich eben nur das erwarten läßt, was Geschäfte verheißen. Weber spricht treffend von „Stellenjägerparteien“, die den Staat als „Pfründnerversorgungsanstalt“ ansehen. Und der ideologisch infizierte Aktivist wettet gar noch riskanter und aufs Ganze gehend.
Provokant mit einer Sentenz des Sozialisten Kurt Hiller von 1924:
„Dem Interesse des Volkes ist am besten gedient, wenn nicht die Mehrheit, sondern die Gesellschaft der sittlich und geistig Besten in ihm herrscht – : die demophilste Staatsverfassung ist die aristokratische.“
In eben dieser Weise sprach auch Hans Jonas (1903 – 1993), auf den sich die radikale Umweltbewegung beruft, in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ 1979 davon, daß nur eine Elite „ethisch und intellektuell die von uns angezeigte Zukunftsverantwortung übernehmen“ und jene „außerordentlichen Zumutungen, die eine Umschaltungs- und Erhaltungspolitik mit sich bringen wird“, durchsetzen könne. Das dürfte rechts grundsätzlich ja so ähnlich gedacht werden.
Aber mit Rückgriff auf die Kontingenz: Was ist die nächste Revolution, die nächste „Umschaltung“ gegen einen mich vielleicht heute noch ereilenden Motorrad-Unfall, der mir ein Bein oder beide oder gleich noch das Leben nimmt?
Billige Lebensweisheit, sich gegenüber den Segens- und Heilserwartungen der Politik und dem Glücksrittertum ihrer Funktionäre skeptisch zu verhalten und all die von ihnen beschworenen angeblichen Verbesserungen, Befreiungen, Beglückungen kritisch anzusehen. Und dabei jene zu erkennen, die zwar umfassende Umstände ändern wollen, sich selbst zu ändern aber nie und nimmer bereit oder auch nur befähigt wären.
Was sind Analysen, Umfragen, Manifeste, Direktiven, gar öde Parteitage und hochtrabende Diskussionen gegen eine Bach-Passion oder ein Beethoven-Klavierkonzert? Oder einfach gegenüber einer still nachdenklichen Wanderung durch den Hainich in Thüringen? Gut, das mag banal formuliert erscheinen, weil man ähnlich fragen könnte: Was ist das technische Wunder einer Chip-Fabrik gegen das natürliche Wunder eines Apfels?
Man darf die Politik als das notwendige Übel zur Gestaltung des uns unabdingbar notwendigen Gemeinschaftslebens ansehen. Man kann es idealistisch finden, wenn Menschen sich dafür engagieren, ja „aufopfern“ und eine Menge riskieren.
Aber der politisch exponierte Mensch darf einem gleichfalls verdächtig erscheinen. Er ist „Macher“, klar. Aber dabei muß er auf unkritische Weise von Sendungsbewußtsein erfüllt und etwas hoffnungsbesoffen sein. Utopismus, Narzißmus, kraftvoller Egoismus und das Beherrschen des Machiavellismus befördern den politischen Erfolg, aber: Können sie uns als vorbildlich gelten?
Wer weiß einen wirklich vorbildlichen Politiker zu benennen? Wenn es nicht gelingt, so liegt das nicht am Mängelwesen Politiker, sondern am Mängelwesen Mensch, worüber die Politik jedoch hinwegzutäuschen gezwungen ist, und gerade darin gründet das Problem.
Selbst die uns dauernd vorgehaltenen Vorbilder, Mahatma Gandhi und Nelson Mandela etwa, gleichen sie nicht eher Gurus? Sähen sie heute an, was aus ihrem „Lebenswerk“ und „Vermächtnis“ in Indien und Südafrika wurde, wären sie dann glücklich oder auch nur zufrieden damit? –
Und Wolodymyr Selenskyj? Kann man ihn – bei allen Sympathien der leidenden Ukraine gegenüber – nicht als höchst fragwürdigen Charakter empfinden, der, wesentlich kriegsverlängernd, eine zweifelhafte Anbiederungstour gegenüber dem Westen zelebriert, während das Sterben im Osten forciert weitergeht?
Politik ruft allzu oft Ideale auf, die es so glücklicherweise nicht gibt und die zu gestalten sogar gefährlich ist. Je ideologischer dabei vorgegangen wird, um so verhängnisvoller die Folgen. Das genau ist gerade am Beispiel der am meisten ideologischen, am deutlichsten idealistisch verfaßten Partei zu erleben, an den Grünen. Wie leicht sie doch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen!
Einst boten die Religionen Räumen des notwendigen Abstands zum Politischen. Sie widmeten sich mit ihren großen Erzählungen, Ritualen und Symbolen den eigentlichen Fragen – jenen nach den letzten Dingen.
Wenn jedoch die Religionen selbst politisieren, so wie es im Islam, in anderer Weise, aber kaum weniger intensiv in den christlichen Religionen geschieht, wird damit ein Rückhalt zerstört, den der Mensch mit seiner metaphysischen Sehnsucht – so er die überhaupt noch verspürt – als unpolitisches Refugium sehr nötig hätte und der ihn vor allzu kurzläufiger und allzu pragmatischer Vereinnahmung schützte.
Religion ging einerseits aufs Ganze, widmete sich andererseits aber der sehr konkreten Lebensgestaltung, während Politik sich flirrend, wechselnd und unausweichlich irrend in Entwürfen erschöpft, die – aufs Ganze gesehen – immer zum Scheitern verurteilt sind. Namentlich die evangelisch-lutherische Kirche, der so viele entscheidende Impulse zu danken sein mögen, scheitert gerade, weil sie sich in Gestalt der EKD reduziert als Stätte politischer Bildung versteht.
Zurück zur Geworfenheit: Gegen das, was geschehen will, kann letztlich nichts ausgerichtet werden. Ja, diese Haltung ist resignativ, aber die Resignation kann als eine Variante des Reaktionären gelten, wenn sie nicht in Depression mündet. Man darf, man sollte vielleicht davon überzeugt sein, daß der Menschheit nun mal grundsätzlich in ihren Dilemmata nicht zu helfen ist, selbst wenn sie sich technisch beeindruckend behilft. Man muß sich deswegen aber nicht verzweifelt auf den Asphalt kleben.
Mit Blick auf die gesamte Schöpfung:
Die maßgeblichen Kräfte des Politischen problematisieren die Vernichtung nichtmenschlichen Lebens der Mitgeschöpfe eben nicht; sie bedauern es nicht mal, sondern haben, selbst wenn sie sich ökologisch geben, das billige Satt und Satter im Sinn. Auch noch die grünste Innovation wird weiter Natur verwerten und verschleißen. Und eine Demokratie, die den Bürger auf seine Funktion als Endverbraucher reduziert, rettet die Welt gerade nicht.
Die Herausforderungen unserer Geworfenheit bestehen in engster Unmittelbarkeit. Keine Politik nimmt einem die Entscheidungen für das Eigentliche des Lebens ab, keine „rettet“ einen vor der Wahrnehmung der Selbstverantwortung innerhalb der Lichtung, auf die man individuell historisch, sozial, kulturell und geistig gerade gestellt ist.
Längst nicht jeder wichtige Entschluß kann politisch hergeleitet werden; die wesentlichen Entscheidungen hat der Einzelne eher jenseits des Politischen zu treffen. Insofern hat Max Stirner nicht nur Hegel, Marx und Nietzsche konsequent zu Ende gedacht.
brueckenbauer
Meine sonntägliche Anzeigenzeitung hat auch so eine Spalte, wo ein Pfarrer wöchentlich seinen Sermon abgeben kann. Der "mäandert" meistens und enthält keine These, mit der man sich auseinandersetzen müsste (d.h. man könnte es natürlich, aber wozu?).
Leider gibt es auf der Rechten keine Anzeigenzeitungen. Sonst könnte Bosselmann seine Beiträge "syndikalisieren" und in vielen anderen Blättern unterbringen anstatt hier. Aber da wir nun mit ihm geschlagen sind: Könnten wir nicht wenigstens einen generellen Spaltentitel als Warnhinweis voranstellen - "Das Wort zum Sonntag" o. ä.?