Wer wählt rechts – und warum?

PDF der Druckfassung aus Sezession 112/ Februar 2023

Daniel Fiß

Daniel Fiß ist freier Publizist.

Im Zuge der Debat­te um Thi­lo Sar­ra­zins Best­sel­ler Deutsch­land schafft sich ab spe­ku­lier­ten zahl­rei­che Poli­to­lo­gen ab 2010 über die Chan­cen und Erfolgs­be­din­gun­gen einer poli­ti­schen Kraft, die sich rechts der Uni­on im bun­des­deut­schen Par­tei­en­sys­tem ver­an­kern könnte.

Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Claus Leg­ge­wie sprach damals davon, daß in Deutsch­land alle »Zuta­ten« für eine rechts­po­pu­lis­ti­sche Kraft gege­ben sei­en (1) – sin­ken­de Bin­dungs­kräf­te der eta­blier­ten Volks­par­tei­en, die Dau­er­the­men Migra­ti­on und Isla­mi­sie­rung sowie ein Reprä­sen­ta­ti­ons­de­fi­zit von rechts­kon­ser­va­ti­ven Stand­punk­ten in den öffent­li­chen Debatten.

Auch die kon­ser­va­ti­ve­ren Kräf­te inner­halb von CDU und CSU hat­ten schon damals Beden­ken ange­mel­det, daß die posi­tio­nel­len Ver­schie­bun­gen der Uni­on in die Kon­sens­kul­tur der lin­ken Mit­te einen Leer­raum hin­ter­las­sen wür­den, der mit­tel­fris­tig von einer neu­en poli­ti­schen Kraft auf­ge­füllt wer­den könn­te. Drei Jah­re spä­ter wur­den die­se Sor­gen zur fak­ti­schen Rea­li­tät: Mit der AfD ent­stand der »spä­te Nach­züg­ler« in der rechts­po­pu­lis­ti­schen Par­tei­en­fa­mi­lie Europas.

Natür­lich war die AfD nicht die ers­te Par­tei, die sich rechts der Christ­de­mo­kra­ten als neu­es poli­ti­sches Ange­bot auf­stell­te. Repu­bli­ka­ner, NPD, DVU, Schill-Par­tei und wei­te­re konn­ten ins­be­son­de­re ab den 1980er Jah­ren eini­ge star­ke Wahl­er­geb­nis­se ein­fah­ren. Ihr Erfolg war jedoch ent­we­der auf regio­na­le Schwer­punk­te oder auf Zei­t­epi­so­den beschränkt, obwohl sich rech­te Ein­stel­lungs­mus­ter in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung über vie­le Jahr­zehn­te kon­stant zwi­schen zehn und zwan­zig Pro­zent bewegten.

2001 unter­such­ten die Wahl­for­scher Arzhei­mer, Fal­ter und Schoen in einer Stu­die die Ver­tei­lungs­struk­tu­ren des »rechts­ge­rich­te­ten Ein­stel­lungs­po­ten­ti­als« in der Bevöl­ke­rung und wie sich die­ses inner­halb der unter­schied­li­chen par­tei­po­li­ti­schen Spek­tren wider­spie­gel­te. Dem­nach blieb das gene­rel­le rech­te Wäh­ler­po­ten­ti­al über den Meß­zeit­raum zwi­schen 1976 und 1998 stets kon­stant. Doch die schein­ba­re Para­do­xie liegt dar­in, daß rechts­ge­rich­te­te Wäh­ler kei­nes­wegs auch auto­ma­tisch zu rech­ten Par­tei­en tendieren.

Im Juni 1998 gaben nur durch­schnitt­lich 5,5 Pro­zent der rechts ein­ge­stell­ten Wäh­ler an, daß sie die Repu­bli­ka­ner tat­säch­lich wäh­len wür­den. (2) Zwei Drit­tel ver­teil­ten sich auf die bei­den gro­ßen Volks­par­tei­en und das Nicht­wäh­ler­spek­trum. Die Geschich­te rech­ter Wäh­ler­schaf­ten in der Bun­des­re­pu­blik zeigt also eine Dis­kre­panz zwi­schen einem bestän­di­gen Poten­ti­al und sei­ner Ver­füg­bar­keit bzw. Mobi­li­sie­rung. Nicht jeder rechts ein­ge­stell­te Wäh­ler wählt eine dezi­diert rech­te Partei.

Es dürf­te ins­be­son­de­re die Inte­gra­ti­ons­leis­tung der frü­hen CDU gewe­sen sein, die über eini­ge Jahr­zehn­te hin­weg rech­te Wäh­ler­blö­cke für sich mobi­li­sie­ren konn­te. Es wäre jedoch zu kurz gegrif­fen, rech­te Wahl­er­fol­ge nur im Hin­blick auf Absetz­be­we­gun­gen von der Uni­on zu begrei­fen. So konn­ten die Repu­bli­ka­ner etwa bei der Abge­ord­ne­ten­haus­wahl in Ber­lin 1989 vor­der­grün­dig ehe­mals sozi­al­de­mo­kra­tisch gebun­de­ne Milieus in klas­si­schen Arbei­ter­sied­lun­gen mobi­li­sie­ren. Vor­ma­li­ge Teil­erfol­ge der NPD Ende der 1960er Jah­re bil­de­ten sich noch ver­stärkt aus einem kon­ser­va­ti­ven und länd­lich gepräg­ten Mit­tel­stand im höhe­ren Alter. (3)

 

Rech­te Wahl­er­fol­ge aus Gelegenheitsstrukturen 

Der Erfolg der AfD ent­stammt also nicht nur einem rein poli­ti­schen Zufalls­mo­ment, son­dern beruht zum Teil auf ähn­li­chen Bedin­gun­gen und Gele­gen­heits­struk­tu­ren wie der Erfolg ihrer rechts­kon­ser­va­ti­ven Vor­gän­ger. Frag­men­tier­te Par­tei­en­sys­te­me, abneh­men­de Par­tei­iden­ti­fi­ka­ti­on und die Asym­me­trien im öffent­li­chen Agen­da-Set­ting (für rech­te Par­tei­en gilt dies zuvor­derst in der Migra­ti­ons­po­li­tik) eröff­nen stets Mobilisierungsräume.

Mit den Erfol­gen von DVU und NPD bei den Wah­len im Osten zwi­schen 2002 und 2006 zeig­te sich rech­tes Wahl­ver­hal­ten aber zunächst vor allem als Phä­no­men depri­vier­ter Sozi­al­schich­ten, bei denen alle Erwar­tun­gen und Hoff­nun­gen der Wen­de­zeit nun in Des­il­lu­sio­nie­rung und Ent­täu­schung umge­schwenkt waren, wofür schließ­lich ein poli­ti­sches Ven­til gesucht wur­de. (4)

Die­ses Fak­tum war im vor­letz­ten Jahr­zehnt im euro­päi­schen Ver­gleich schon eine Aus­nah­me. Wo ande­re euro­päi­sche Rechts­par­tei­en wie die FPÖ oder auch der Front Natio­nal bereits auf erwei­ter­te sozia­le Milieus set­zen konn­ten, blieb ein umfas­sen­der Zugriff auf das brei­te bun­des­deut­sche Wäh­ler­spek­trum für eine rech­te Par­tei völ­lig unrea­lis­tisch. Die AfD konn­te als ers­te rechts­kon­ser­va­ti­ve Kraft Schnei­sen in die sozia­len Mit­tel­schichts­mi­lieus schla­gen und dadurch grund­sätz­lich Reso­nanz- und Poten­ti­al­räu­me erweitern.

 

Die sozia­le Basis des rech­ten Wahlverhaltens 

Die poli­ti­sche Geo­gra­phie weist AfD-Hoch­bur­gen sowohl in abge­häng­ten ost­deut­schen Land­krei­sen als auch in pro­spe­rie­ren­den Indus­trie­stand­or­ten im Süd­wes­ten Deutsch­lands aus. (5) Die Struk­tur­schwä­che eines Wahl­krei­ses ist durch­aus ein Indi­ka­tor, der zu einer höhe­ren AfD-Wahl­be­reit­schaft führt. Den­noch schei­nen sich an kon­kre­ten Bei­spie­len wie im Stutt­gar­ter Raum oder in den süd­öst­li­chen Tei­len Bay­erns auch gewis­se rech­te Wahl­tra­di­tio­nen abzu­zeich­nen, wo in den 1990er Jah­ren schon die Repu­bli­ka­ner star­ke Ergeb­nis­se ein­fah­ren konn­ten und nun auch die AfD punk­ten kann.

Grund­sätz­lich kor­re­liert die rech­te Wäh­ler­geo­gra­phie schon seit eini­gen Jahr­zehn­ten mit drei ent­schei­den­den Fak­to­ren: 1. hoher Beschäf­ti­gungs­an­teil im ver­ar­bei­ten­den Gewer­be, 2. gerin­ge kon­fes­sio­nel­le Bin­dung oder pro­tes­tan­ti­sches Milieu, 3. demo­gra­phi­sche Abwan­de­rungs­pro­zes­se und stark altern­de Bevöl­ke­rung, wobei die­ser Punkt nicht den Fehl­schluß erlaubt, daß rech­te Par­tei­en über­wie­gend von älte­ren Men­schen gewählt werden.(6)

Es hat sich gezeigt, daß die Erklä­rungs­kraft rei­ner öko­no­mi­scher Bezie­hun­gen zu begrenzt ist, um rech­tes Wahl­ver­hal­ten bei­spiels­wei­se als veri­ta­blen Sozi­al­kon­flikt zu inter­pre­tie­ren. Bereits inter­na­tio­na­le Stu­di­en zu ande­ren Rechts­par­tei­en haben gezeigt, daß kul­tu­rel­le Varia­blen eine wesent­li­che grö­ße­re Effekt­stär­ke auf­wei­sen als öko­no­mi­sche. So wird über­wie­gend die The­se eines »Cul­tu­ral Back­lash« ver­tre­ten, aus der sich rech­tes Wahl­ver­hal­ten auch als gesell­schaft­li­cher Wer­te­wan­del­pro­zeß skiz­zie­ren läßt.

Im Zen­trum die­ses Ansat­zes wer­den rechts­po­pu­lis­ti­sche Wahl­er­fol­ge vor allem als Gegen­be­we­gung zum Pro­gres­si­vis­mus und zur Libe­ra­li­sie­rung fami­liä­rer und arbeits­welt­li­cher Lebens­mo­del­le ver­stan­den. Glo­ba­li­sie­rung, Wer­te­wan­del und die Bil­dungs­expan­si­on im aka­de­mi­schen Bereich haben die einst »nivel­lier­te Mit­tel­schichts­ge­sell­schaft« (Schelsky) (7) als sozia­les und poli­ti­sches Zen­trum der BRD-Früh­pha­se ab den 1980er Jah­ren in zwei Lager gespal­ten: eine urba­ne und mit hohen Bil­dungs­ab­schlüs­sen aus­ge­stat­te­te obe­re Mit­tel­schicht, die sich in der neu­en Wis­sens- und Infor­ma­ti­ons­öko­no­mie pro­blem­los bewegt, und ein tra­di­tio­nel­les Arbeits­mi­lieu im ver­ar­bei­ten­den Gewer­be und Indus­trie­sek­tor mit ein­fa­cher Bil­dung, des­sen Lebens­mo­dell zuneh­mend unter Druck gerät.

In ihrer wirt­schaft­li­chen Lage gibt es zwi­schen die­sen bei­den Lagern kei­ne signi­fi­kan­ten Unter­schie­de. Die sozia­len Klas­sen und ihre wirt­schaft­li­chen Lagen blie­ben seit den 1980er Jah­ren recht kon­stant. Der klas­si­sche Fach­ar­bei­ter am Stand­ort eines grö­ße­ren Auto­mo­bil­kon­zerns dürf­te sich nach eini­gen Jah­ren Berufs­er­fah­rung in ähn­li­chen Ein­kom­mens­klas­sen bewe­gen wie der Medi­en­re­fe­rent einer PR-Agen­tur im Prenz­lau­er Berg. Die Wert­vor­stel­lun­gen, die Sta­tus­po­si­tio­nen und auch das Wahl­ver­hal­ten die­ser bei­den Pro­to­ty­pen sind im Schnitt jedoch völ­lig unterschiedlich.

Somit wer­den die rechts­po­pu­lis­ti­schen Wahl­er­fol­ge der letz­ten Jah­re vor allem als Kul­tur­kon­flikt gedeu­tet, der durch die Migra­ti­ons­kri­se 2015 ein zusätz­li­ches plas­tisch-iden­ti­tä­res Bild erhielt. Es hat sich stets gezeigt, daß AfD-Wäh­ler und ‑Sym­pa­thi­san­ten nicht aus der Posi­ti­on einer sozi­al pre­kä­ren Lage her­aus ihre Wahl­ent­schei­dung tref­fen, son­dern aus Sor­ge vor einer zuneh­men­den Abwärts­mo­bi­li­tät und als Ver­tei­di­gung ihrer tra­di­tio­nel­len Lebensvorstellungen.

Rechts­wäh­ler sind laut ein­heit­li­cher Stu­di­en­la­ge häu­fi­ger von Abstiegs­sor­gen und Sta­tus­ängs­ten geprägt. Die­ser Zusam­men­hang wird in der For­schung auch mit dem Begriff der »rela­ti­ven Depri­va­ti­on« beschrie­ben und macht deut­lich, inwie­weit sich objek­ti­ve sozia­le Sta­tus­la­gen von ihren sub­jek­ti­ven Wahr­neh­mungs­ho­ri­zon­ten ent­kop­peln kön­nen. Das heißt, wir fin­den unter rechts­po­pu­lis­ti­schen Wäh­ler­schaf­ten ein wesent­lich stär­ker aus­ge­präg­tes Sor­gen­pro­fil über poli­ti­sche, kul­tu­rel­le oder auch öko­no­mi­sche Entwicklungen.

Umfra­gen unter AfD-Anhän­gern zei­gen, daß es ins­be­son­de­re Sor­gen vor all­ge­mei­nen und kul­tu­rel­len Ver­än­de­rungs­pro­zes­sen sind. 82 Pro­zent der AfD-Wäh­ler gaben bei der Bun­des­tags­wahl 2021 an, sie mach­ten sich gro­ße Sor­gen, daß sich Deutsch­land zu stark ver­än­de­re. Der Durch­schnitt in der Gesamt­wäh­ler­schaft lag bei nur 41 Prozent.

Die Wahl­mo­ti­va­tio­nen für die AfD sind dem­nach auch eine Art poli­ti­sche Immu­ni­sie­rungs­stra­te­gie gegen die radi­ka­len Wand­lungs­pro­zes­se, die im Vor­feld der AfD-Par­tei­grün­dung nur in klei­nen Dosie­run­gen spür­bar waren und sich spä­tes­tens ab 2015 mit der Mas­sen­mi­gra­ti­on nach Deutsch­land in einem sicht­ba­ren und kon­fron­ta­ti­ven Bild gezeigt haben. 2015 war nicht ein­fach nur ein spon­ta­ner Erre­gungs­im­puls, son­dern der auf­bre­chen­de Kra­ter, der schon im Vor­feld durch zahl­rei­che Ris­se mar­kiert war. Das Migra­ti­ons­the­ma wur­de zum Sinn­bild eines Kul­tur­kamp­fes, der sich schon zuvor auf vie­len Mikroebe­nen in der Gesell­schaft mani­fes­tiert hatte.

 

Migra­ti­ons­kri­tik und Nati­vis­mus als ver­bin­den­de Klammer 

Die Klam­mer rech­ter Wahl­mo­ti­va­tio­nen blie­ben stets Kri­tik und Unzu­frie­den­heit mit der Migra­ti­ons­po­li­tik. Sie sind der Stim­mungs­ka­ta­ly­sa­tor, der nahe­zu alle ande­ren sozio­öko­no­mi­schen Erklä­rungs­fak­to­ren aus­sticht. In meh­re­ren Stu­di­en konn­ten ver­schie­de­ne sozia­le Grup­pen im Hin­blick auf ihre Wahl­be­reit­schaft für die AfD unter­sucht wer­den. Unter­schied­li­che Model­le fan­den dabei her­aus, daß sich die Wahl­wahr­schein­lich­keit für die AfD immer dann erhöht, wenn gleich­zei­tig der Fak­tor »Ein­wan­de­rungs­kri­tik« erhöht wird. (8)

Das heißt, sowohl Men­schen in unte­ren als auch in obe­ren Ein­kom­mens­schich­ten wei­sen glei­cher­ma­ßen eine erhöh­te AfD-Wahl­be­reit­schaft auf, wenn sie beson­ders ein­wan­de­rungs­kri­tisch ein­ge­stellt sind. In bezug auf ande­re Fak­to­ren wie Arbeits­lo­sig­keit, Wohn­ort, Ein­kom­men oder Berufs­stand konn­ten nur leich­te Kor­re­la­tio­nen fest­ge­stellt wer­den. Rech­te Wäh­ler­schaf­ten for­mie­ren sich somit eher ein­stel­lungs­be­zo­gen als klassenorientiert.

Der nie­der­län­di­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Cas Mud­de hat zur Unter­schei­dung von Links- und Rechts­po­pu­lis­mus den Fak­tor des »Nati­vis­mus« auf sei­ten des Rechts­po­pu­lis­mus als zen­tra­les Iden­ti­täts­merk­mal her­aus­ge­ar­bei­tet, das die Sym­pa­thien und Ein­stel­lungs­ko­or­di­na­ten rechts­po­pu­lis­ti­scher Wäh­ler­schaf­ten kon­sti­tu­iert. (9) Dem­nach wer­den poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen und sozia­le Anspruchs­rech­te als zu ver­tei­di­gen­des Inven­tar der Natio­nal­staa­ten betrach­tet, wor­über schließ­lich eine iden­ti­tä­re Innen­per­spek­ti­ve und ein abzu­gren­zen­des »Außen« geschaf­fen wer­den. Dies ist nach Mud­de die ent­schei­den­de Glei­chung in der rechts­po­pu­lis­ti­schen Men­ta­li­täts­struk­tur, die neben den wei­te­ren Defi­ni­ti­ons­be­stand­tei­len des Rechts­po­pu­lis­mus am stärks­ten wiegt.

 

Rech­te Wählerdynamiken 

Beob­ach­ter der AfD haben der Par­tei zu Beginn ihrer ers­ten Wahl­er­fol­ge kei­ne lan­ge Halb­werts­zeit attes­tiert. Wäh­ler­struk­tu­ren und Bewe­gun­gen gli­chen zwi­schen 2015 und 2018 denen einer klas­si­schen Pro­test­par­tei, die mit einem pola­ri­sie­ren­den The­ma tem­po­rä­re Wahl­er­fol­ge ein­fah­ren konn­te. Der Anfangs­er­folg der AfD grün­de­te maß­geb­lich auf ihrer Mobi­li­sie­rungs­stär­ke inner­halb der Nicht­wäh­ler­mi­lieus. Bei der Bun­des­tags­wahl 2017 bestand ein Vier­tel der AfD-Gesamt­wäh­ler­schaft aus ehe­ma­li­gen Nichtwählern.

Ein-The­men-Par­tei­en sind aber immer auch stark abhän­gig von der gegen­wär­ti­gen The­men­la­ge, was den Auf­bau sta­bi­ler Milieu­struk­tu­ren und fes­ter Stamm­wäh­ler­ge­mein­schaf­ten erschwert. Obwohl Umfra­gen bei AfD-Wäh­lern zumeist eine rei­ne Pro­test- und Ent­täu­schungs­mo­ti­va­ti­on zei­gen, wider­spricht dem die wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en­la­ge, wonach AfD-Anhän­ger eine beson­ders hohe Bin­dung zu ihrer Par­tei auf­wei­sen. Der soge­nann­te Ver­füg­bar­keits­in­dex gibt an, wie hoch die Wech­sel­be­reit­schaft von bestimm­ten Par­tei­an­hän­gern zu ande­ren Par­tei­en ist. Schon ab 2015 zeig­te sich, daß AfD-Anhän­ger kaum für das Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al ande­rer Par­tei­en zur Ver­fü­gung stan­den. Die AfD-Wäh­ler­schaft scheint somit weni­ger flui­de zu sein als ange­nom­men. Sie kann somit als eine sta­bi­li­sier­te Pro­test­par­tei mit einer siche­ren Stamm­wäh­ler­ba­sis von zehn bis fünf­zehn Pro­zent ange­se­hen werden.

Den­noch bleibt das gro­ße Man­ko, daß Pro­test­wäh­ler­schaf­ten kaum auf einen gemein­sa­men ideo­lo­gi­schen Nen­ner zu brin­gen sind. Die Migra­ti­ons­kri­se 2015 mag bis heu­te so star­ke Nach­wir­kun­gen haben, daß sie die AfD wei­ter­hin sicher in die Par­la­men­te trägt. Den­noch feh­len der Par­tei fes­te sozia­le Trä­ger­grup­pen mit gemein­sa­men Wer­te­vor­stel­lun­gen und einem welt­an­schau­li­chen Minimalkonsens.

Die Grü­nen konn­ten in ihrer Anfangs­pha­se aus dem aka­de­mi­schen und post­ma­te­ri­el­len 68er-Milieu schöp­fen. CDU und SPD ver­wal­ten bis heu­te die Rest­be­stän­de der kon­fes­si­ons­ge­bun­de­nen Milieus und der übrig­ge­blie­be­nen Arbei­ter­klas­se. Die Links­par­tei kann vor­der­grün­dig im Osten durch ihre DDR-nost­al­gi­schen Milieus poli­tisch überleben.

Was fehlt, ist das Her­aus­wach­sen eines eigen­stän­di­gen rechts­kon­ser­va­ti­ven Milieus, das nicht ein­fach nur eine kon­ser­va­tiv opti­mier­te CDU sein kann, son­dern sei­nen eige­nen Kompaß fin­den und aus­rich­ten muß. Dies kann man nicht erzwin­gen oder am Reiß­brett ent­wer­fen. Aber die AfD kann die Vor­be­din­gun­gen schaf­fen, um für ein der­ar­ti­ges Milieu eine lang­fris­ti­ge Attrak­ti­vi­tät auszustrahlen.

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(1) – Vgl. »Poten­ti­al für eine neue Par­tei am rech­ten Rand«, sueddeutsche.de vom 11. Sep­tem­ber 2010.

(2) – Vgl. Oskar Nie­der­may­er, Richard Stöss: »Rechts­extre­mis­mus, poli­ti­sche Unzu­frie­den­heit und das Wäh­ler­po­ten­ti­al rechts­extre­mer Par­tei­en in der Bun­des­re­pu­blik im Früh­som­mer 1998«, in: Arbeits­hef­te aus dem Otto-Stamm­er-Zen­trum Nr. 1, 1998, FU Berlin.

(3) – Vgl. Hans D. Klin­ge­mann, Franz Urban Pap­pi: »Die Wäh­ler­be­we­gun­gen bei der Bun­des­tags­wahl am 28. Sep­tem­ber 1969«, in: Demo­kra­ti­sche Poli­tik – Ana­ly­se und Theo­rie. Poli­ti­sche Vier­tel­jah­res­schrift 11 (1), 1970, S. 111 – 138.

(4) – Vgl. Vio­la Neu: »Land­tags­wahl in Sach­sen am 19.9.2004«, in: Wahl­ana­ly­sen. Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung, Ber­lin 2004, S. 3.

(5) – Vgl. Andre­as Klär­ner, Tors­ten Osi­gus: »Ergeb­nis­se der Bun­des­tags­wahl 2021: länd­li­che Räu­me im Fokus« (= Thü­nen Working Paper; 181), Okto­ber 2021.

(6) – Vgl. Chris­ti­an Franz, Mar­cel Fratz­scher, Alex­an­der Kri­ti­kos: »AfD in dünn besie­del­ten Räu­men mit Über­al­te­rungs­pro­ble­men stär­ker«, in: DIW-Wochen­be­richt 8 / 2018, S. 135 – 144.

(7) – Hel­mut Schelsky: Wand­lun­gen der deut­schen Fami­lie in der Gegen­wart. Dar­stel­lung und Deu­tung einer empi­risch-sozio­lo­gi­schen Tat­be­stands­auf­nah­me, Stutt­gart 21954.

(8) – Vgl. Hol­ger Leng­feld, Cla­ra Dil­ger: »Kul­tu­rel­le und öko­no­mi­sche Bedro­hung. Eine Ana­ly­se der Ursa­chen der Par­tei­iden­ti­fi­ka­ti­on mit der Alter­na­ti­ve für Deutsch­land mit dem Sozio-oeko­no­mi­schen Panel«, in: Zeit­schrift für Sozio­lo­gie 47 (3), 2018, S. 181 – 199.

(9) – Vgl. Cas Mud­de: The Far Right Today, Cam­brig­de /Medford 2019.

 

Daniel Fiß

Daniel Fiß ist freier Publizist.

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