175 Jahre nach dem Zusammentreten der deutschen Nationalversammlung, knapp 100 Jahre nach Wilhelms II. »Burgfrieden« und fast 80 Jahre nach der Wiederzulassung von Parteien auf deutschem Boden stellt sich um so mehr die Frage nach der tatsächlichen politischen Bedeutung und Funktion von Parteien in der real existierenden Bundesrepublik. Die historische Parteienkritik gibt Antworten.
Moisei Jakowlewitsch Ostrogorski: La Démocratie et l’Organisation des Partis Politiques (1901)
Der Autor (1854 – 1921), emigrierter zaristischer Justitiar, studierte in Paris Politische Wissenschaft und spezialisierte sich auf die Analyse politischer Parteien. 1901 erschien sein Hauptwerk, im Folgejahr in zwei Bänden auch englischsprachig. Eine Übersetzung ins Deutsche liegt bis heute nicht vor.
Ostrogorski erläutert auf 1400 Seiten die historisch-politischen Grundlagen der Entstehung und die Struktur der Parteien im englischsprachigen Raum, beginnend mit dem Ende der »alten Einheit« der englischen Standesgesellschaft. Erweckungsreligiöse Beschwörungen des Individualgewissens hätten im 18. Jahrhundert das Individuum auf die politische Bühne gestellt. Dementsprechend sieht der Autor im modernen, säkularen Staat die Parteizugehörigkeit als Ablösung der Religionszugehörigkeit – im Verbund mit der utilitaristischen Forderung an den Staat, über Nützlichkeit und Wohlergehen seiner Angehörigen zu wachen, also politische Ökonomie zu pflegen.
Revolutionäre Umwälzungen (1776, 1789) und Industrialisierung hätten schließlich den Mittelstand aktiviert und in die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Adelsstand geführt. Reaktionäre Bestrebungen gegen den »morbiden Individualismus« hätten das bürgerlich-parlamentarische »Neue Regime« mit seiner individualistischen, utilitaristischen Doktrin nicht bändigen können.
Aus dieser arbeitet Ostrogorski die Ursprünge der »politischen Assoziationen« heraus, die sich später in klassische Parteien umwandeln sollten. In den USA wurde die um 1830 gründlich modernisierte Demokratische Partei zur ersten modernen Volkspartei der Welt, während das dort ersonnene Caucus-Modell mit seinem ungekannten Mobilisierungspotential das Ende der klassischen politischen Systematik Englands einläutete. Die Konkurrenz zwischen konservativem und liberalem Lager bedingte die Herausbildung der tatsächlichen Parteien, die Ostrogorski ebenso eingehend analysiert wie im zweiten Band die Parteienhistorie der Vereinigten Staaten. In der Masse des Textkorpus versteckt liegt die parteiensoziologische Erkenntnis.
Dem Analysten geht es »nicht um politische Formen, sondern um politische Wirkmächte«; um den Charakter gesellschaftlichen Handelns zu begreifen, müsse man dessen »Funktionsweisen im Lichte des Charakters derjenigen studieren, die es in Gang bringen, und unter Beachtung der sozialen und politischen Bedingungen, unter deren Einfluß sich ihre Absichten formen und manifestieren«.
Ostrogorskis Beitrag zur politischen Analyse liegt in der Herausarbeitung der Tendenz aller Massenparteien, sich von zweckgebundenen Zusammenschlüssen zu ständigen Organisationen mit einer Führungsschicht aus Berufspolitikern zu entwickeln. Das Bedürfnis nach Selbsterhalt führe zur Anpassung von Zielsetzungen und Aktivitäten zugunsten eines Zugewinns an Geldmitteln und Wählerstimmen. Kurz: Von Mitteln zum Zweck wandeln sich Parteien zum Selbstzweck.
Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens (1911)
Der deutsch-italienische Historiker Robert Michels (1876 – 1936) zählt zu den bedeutendsten Parteienkritikern. Er war 1901 der Sozialistischen Partei Italiens beigetreten und 1903 der SPD. Nachdem ihm wegen »sozialistischer Agitation« die Habilitation verweigert worden war, ging Michels 1907 als Privatdozent nach Turin, wandte sich dort vom Sozialismus ab und schloß sich 1928 dem Partito Nazionale Fascista an, wo er zu einem bedeutsamen Theoretiker aufstieg.
Sein 1911 erschienenes, dem »lieben Freunde« Max Weber »mit seelenverwandtschaftlichem Gruße« gewidmetes Hauptwerk ist Produkt seiner Innenansichten der Sozialdemokratischen Partei, der seinerzeit einzigen deutschen Partei mit einem quasirevolutionären und basisdemokratischen Selbstanspruch. Was Michels dort gesehen hatte, insbesondere auf den drei von ihm besuchten Parteitagen, war mit diesem Anspruch allerdings keineswegs vereinbar.
Dreh- und Angelpunkt von Michels’ Betrachtung ist die These, daß die Funktionsmechanismen moderner Massenparteien von deren politischen Ausrichtungen und Zielsetzungen unabhängig seien. Sie gehorchten vielmehr eigenen Gesetzmäßigkeiten. Der erste Teil seiner Analyse behandelt die »Ätiologie des Führertums«, also die Ursachenforschung unter technisch-administrativen, psychologischen sowie intellektuellen Gesichtspunkten. In der Folge handelt Michels den »tatsächlichen Herrschaftscharakter der Führer« ab, maßgeblich charakterisiert durch Stabilität, finanzielle Macht und bürokratische Zentralisierung.
Des weiteren thematisiert werden die »Psychologischen Rückwirkungen der Massenführung auf die Führerschaft« (insbesondere die Zuspitzung der Partei auf die Führerpersönlichkeit) sowie die »Soziale Analyse der Führerschaft«, einschließlich der Diskussion möglicher Maßnahmen zur prophylaktischen Beschneidung von deren Macht, etwa »präventiver« Formen von Syndikalismus und Anarchismus, aber auch des Referendums und der politischen »Entsagung«.
Michels schließt mit einer »Synthese«, dem Postulat des sogenannten ehernen Gesetzes der Oligarchie, das bis heute ein geflügeltes Wort darstellt. Im Wortlaut: »Selbst wenn es der Unzufriedenheit der Massen einmal gelingen sollte, die herrschende Klasse ihrer Macht zu berauben, so müßte […] sich doch notwendigerweise im Schoße der Massen selbst eine neue organisierte Minderheit vorfinden, die das Amt einer herrschenden Klasse übernähme.«
Hatte Ostrogorski zur Brechung ihrer Macht vorgeschlagen, Parteien abzuschaffen und zu Zweckverbänden zurückzukehren, welche nach getaner Arbeit wieder auseinandergehen sollten, so verwarf Michels solche Vorhaben als sinnlos: Die moderne Massengesellschaft sei durch derartige Gelegenheitsausschüsse weder verwalt- noch regierbar. Außerdem sei die Hinneigung zur Oligarchie eine offensichtliche anthropologische Konstante und demnach nicht einfach »lösbar«.
Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923)
Carl Schmitt (1888 – 1985) bleibt »Kronzeuge für eine fundamentale Kritik am Parlamentarismus und Liberalismus« (Die Zeit). Seine wesentliche Abneigung richtete sich gegen den »desintegrierenden« liberalen Hang zu Vermittlung und Ausgleich. Ihm war es unter anderem darum zu tun, zwischen klassischer Demokratie und modernem Parlamentarismus zu unterscheiden – und erstere gegen letzteren in Schutz zu nehmen. Aus dem Gesamtwerk ragt diesbezüglich seine erste dezidiert politische Schrift heraus, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923.
Parlamente finden in der Theorie für jedes Problem eine Konsenslösung – zwar in der Regel nicht die stärkste Lösung, aber eine, die scheinbar von »allen« getragen wird. Schmitt hingegen ist Fürsprecher der starken Lösungen, und so stellt er dem parlamentarischen Vertretungsmodell eine »identitäre Demokratie« gegenüber, die das in Interessengruppen zerfallene Volk in einen monolithischen Körper als Souverän überführen solle.
Die zweite Auflage (1926) wurde um eine »Vorbemerkung über den Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie« ergänzt. Sie verdichtete Schmitts Parlamentarismuskritik auf wenige Seiten und schloß mit dem Ruf nach staatlicher Würdigung des immer stärker hervortretenden »Gegensatz[es] eines von moralischem Pathos getragenen liberalen Individualismus und eines von wesentlich politischen Idealen beherrschten demokratischen Staatsgefühls. […] Es ist der in seiner Tiefe unüberwindliche Gegensatz von liberalem Einzelmensch-Bewußtsein und demokratischer Homogenität.«
Schmitt wollte die Idee der Demokratie als gemeinsamer politischer Willensäußerung des möglichst homogenen Staatsvolks von ihrer Schwundstufe im von Parteien und Interessenverbänden zerrissenen Parlamentarismus absetzen und stellte deshalb dessen Aporien heraus, etwa den verkümmerten öffentlichen Meinungskampf. Die Parteien seien dabei lediglich Nutznießer im Parlamentarismus selbst angelegter Webfehler.
Schmitts Vision, am Ende der Weimarer Republik zur Wahrung der staatlichen Integrität das Parlament auszuschalten und unter einer Präsidialdiktatur die latente Bürgerkriegssituation aufzulösen, führte ins Nichts. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bemühte er sich zeitweilig, als Verfechter der neuen Ordnung hervorzutreten.
Bei der Ausarbeitung des westdeutschen Grundgesetzes wurden seine Lehren über die Wehrhaftmachung des Staats gegen Parteieninteressen geradezu auf den Kopf gestellt: Aus Angst vor einer neuen Staatskrise schaltete man alle mit dem Parlament konkurrierenden Gewalten aus – auch das Volk selbst. Seither wählt der Bundesbürger alle vier Jahre das Parlament und gibt seine Möglichkeit zur Mitbestimmung an Abgeordnete ab. Alle weiteren wichtigen Positionen werden per Repräsentationswahl besetzt. Diese zentralen Kritikpunkte Schmitts in seiner Phase als »antiparlamentarischer Demokrat« sind ungebrochen aktuell.
Maurice Duverger: Les partis politiques (1951)
Das Hauptwerk des französischen Juristen Maurice Duverger (1917 – 2014) erschien 1959 in deutscher Übersetzung mit ausdrücklichem Hinweis des Übersetzers auf die Eigentümlichkeiten der »spezifisch französischen Sichtweise« auf politische Dinge. Indes birgt das Buch wichtige Einsichten zum Gesamtpanorama der europäischen Parteiensoziologie.
Analytische Bedeutung kommt dabei insbesondere der Mikroebene der internen Beziehungen und Verbindungen zwischen den »Basiseinheiten« der Parteien zu, von Mitgliedergewinnung und ‑bindung bis hin zu Auswahl und Bedeutung des Führungspersonals. Demnach bevorzugten Elitenparteien die Qualität gegenüber der Quantität. Sie seien entsprechend flexible und eher lose organisierte Honoratiorenparteien, die innerhalb des Parlaments zweckbezogen geformt würden und von der Unterstützung ihrer Gönner abhängig seien. Duverger bewertet sie als strukturell »unterentwickelt«.
Massenparteien hingegen seien straff durchorganisiert und besäßen eine hierarchische, »starke« Struktur in Form einer Pyramide. Ihre Mitglieder seien stärker an die Zielsetzung der Partei als an ihre Führungsgestalt gebunden, der parteiinterne Zusammenhalt sei deshalb ideologisch-abstrakt und abgesichert gegen staatliche Repression. Im Gegensatz zu Elitenparteien finanzierten sich Massenparteien »von unten« durch Beiträge ihrer Mitglieder, müßten ihre Gefolgschaft also immer weiter vergrößern.
Als dritten Typus identifizierte Duverger totalitäre Parteien mit strenger, zentralisierter Gliederung. Homogenität, Geschlossenheit und absolute Disziplin zählten zu den höchsten Parteiwerten. Die kommunistische Partei fuße auf der »Basiseinheit« der Betriebszelle. Eine Wahlteilnahme sei nicht geplant, statt dessen geheime Untergrundarbeit. Die Miliz als »Basiseinheit« der faschistischen Partei trage paramilitärischen Charakter. Zu einer Teilnahme an Wahlen könne es kommen, um im Erfolgsfall die demokratischen Institutionen zu beseitigen.
Duvergers Neuerung war, neben den Parteienstrukturen die Entwicklung des Wahlrechts zu untersuchen: Während Honoratiorenparteien keine konstante Arbeit geleistet und sich auf Wahlvorgänge konzentriert hätten, sei ihnen in den Massenparteien ein Konkurrent entstanden, der fortwährende Agitation zum Ausbau der eigenen Wählerbasis einsetze. Aus Interesse am Machterhalt müßten sich deshalb alle elitenbasierten Parteien zwangsläufig in Massenparteien umwandeln (»Ansteckungsthese«).
Daraus ergebe sich auch eine Rückwirkung des Wahlsystems auf das Parteienspektrum (»Loi de Duverger«): Das Bestehen eines relativen Mehrheitswahlsystems führe zur Herausbildung eines Zweiparteiensystems, während umgekehrt das Verhältniswahlrecht eine Vielzahl an Parteien hervorbringe. Dieses Modell ist nicht widerspruchsfrei, trägt aber zur Verständlichkeit des Parteienstellenwerts insgesamt bei. In den Worten des Autors: »Die Gegner einer ›Parteienherrschaft‹ werden viele Argumente in diesem Buch finden.«
Friedrich August Freiherr von der Heydte, Karl Sacherl: Soziologie der deutschen Parteien (1955)
Für Heydte (1907 – 1994), Ordinarius für Öffentliches Recht und Politische Wissenschaften in Würzburg, und Sacherl (1916 – 1994), Privatdozent für Psychologie in Mainz, waren in der jungen Bundesrepublik »die in Freiheit sich bildenden und umbildenden politischen Parteien […] das Lebenselement aller politischen Freiheit, das Lebenselement vor allem der Demokratie«: »Der moderne demokratische Staat steht und fällt mit der Freiheit der Parteien.«
Sie betonten indes, Parteien dürften nicht verabsolutiert werden, um den Pluralismus zu erhalten. Das stand bereits damals im Widerspruch zur politischen Praxis. 1958 urteilte das Bundesverfassungsgericht zur dem Verfassungsprinzip der Gleichheit widersprechenden Bevorzugung der Parteien gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen: »Dort, wo es sich nicht um politische Willensbildung oder Ausübung politischer Macht, sondern um ein Tätigwerden gesellschaftlicher Mächte und Institutionen handelt« – zu denen die Parteien also nicht zählen –, »hat der Satz von der Chancengleichheit, wie er sich im Bereich der politischen Willensbildung für die Parteien entwickelt hat, keine Geltung.«
Der erste Teil des Buchs beleuchtet »Die Parteien im Gefüge der Gesellschaft«. Demnach könne die politische Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Parteien deren Selbstansprüchen und denen des Grundgesetzes kaum genügen. Entgegen ihrem eigentlichen politischen Auftrag seien sie primär mit der Absicherung von Machtpositionen befaßt. Ein kreativer Umgang mit den demokratischen Regelmechanismen zeige sich in der strategischen Zeitplanung: Zu lange Wahlkämpfe ermüdeten die Wähler; gleichzeitig könne keine Partei ihre Gegner unwidersprochen auf die öffentliche Meinung einwirken lassen. Die Bundestagswahl 1953 habe »das für Deutschland (und den ganzen europäischen Kontinent) neue Phänomen einer ersten allumfassenden ›public-relations‹-Kampagne gebracht, wie sie in diesem Umfang selbst im Ursprungsland – den USA – noch nicht durchgeführt wurde«.
Der zweite Teil des Buchs fokussiert »Das Gefüge der Gesellschaft in den Parteien« – mit hochinteressanten Betrachtungen zum Präzedenzfall der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei (vgl. Sezession 80) und zum Art. 21 GG, der bis heute bestimmt, wie eine politische Partei dem Bannspruch der Verfassungswidrigkeit entgeht: demokratische innere Ordnung (Heydte und Sacherl nennen das »erzwungene Demokratisierung«), öffentliche Auskunft über Herkunft und Verwendung der Mittel sowie Verfassungstreue und Staatsbejahung.
Brisant wird dies ob der Funktion des Abgeordneten als »Vertreter des ganzen Volkes« statt seiner Partei gemäß Art. 38 GG, denn mit Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei verlieren deren Parlamentarier ihre Mandate. Gemäß »SRP-Urteil« des BVerfG kann der Abgeordnete einer verfassungswidrigen Partei nicht »Vertreter des ganzen Volkes« sein – und die Wähler einer solchen Partei?
Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie (1967)
Johannes Agnoli (1925 – 2003) kam in Venetien zur Welt, war sowohl faschistischer Nachwuchsfunktionär als auch im Dienst deutscher Gebirgsjäger und studierte nach dem Krieg Politische Wissenschaft in Tübingen. Seit 1955 deutscher Staatsbürger, stieg Agnoli zu einem wesentlichen Theoretiker des SDS auf und wurde 1972 Professor.
Sein Aufsatz von 1967, eine scharfe Abrechnung mit der »pluralistischen Falle« in der Bundesrepublik seiner Zeit, gilt als wichtigste deutschsprachige parlamentarismuskritische Schrift der Nachkriegszeit. Zentrales Element der Argumentation ist die Entwicklung westlicher Strukturen von freiheitlich-demokratischen Entitäten zu dirigistischen Apparaten (»Involutionsthese«), ausgehend von Hegels 1820 geäußerter Annahme, das Volk sei nicht in der Lage, sich selbst zu regieren.
Agnoli entgegnete sozialdemokratischen Wortführern seiner Zeit, die verkündeten, nur die konsequente Reform von Staat und Recht verwirkliche Freiheit, daß sie dann ja gerade die linksrevolutionäre Opposition unterstützen müßten. Dabei war klar, daß auch für vorgeblich revolutionäre »Jungsozialisten« Antikapitalismus gar nicht zur innerparlamentarischen Debatte stand. Vielmehr sei die »Geschichte der westlichen Gesellschaften nach dem Krieg« definiert von der Steuerung der »politisch unartikulierten« Massen, die der Ausgang des Zweiten Weltkriegs aus ihren gesellschaftlichen Bindungen gelöst habe.
Dabei würden »Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit« weit auseinanderklaffen, da der Staat auf 200 Jahre alten Traditionen basiere und aktuellen Konfliktsituationen in keiner Weise gewachsen sei. In seiner Wortwahl verrät Agnoli die Rezeption Carl Schmitts. In ganz ähnlicher Weise wie dieser und dessen rechte Epigonen diagnostiziert er der parlamentarischen Demokratie die zentrale Funktion, »den Widerspruch erfolgreich glätten und durch staatliche Regelung sozial ausgleichen« zu müssen.
Die hierzu notwendige »Transformation« der Demokratie, eine »widersprüchliche Befriedung«, bedinge eine Funktionsverlagerung. Dabei trete konsumistisch induzierter Pluralismus neben gesellschaftlich-politische Polarität: Die »erlaubte« Meinungsvielfalt werde auf einen allgemeinen Konsens festgenagelt und verliere so ihre Ergebnisoffenheit. Den Parteien – und ganz besonders den domestizierten, sich auf ihren einstmaligen sozialrevolutionären Lorbeeren ausruhenden Sozialdemokraten – komme dabei die Funktion zu, »Rebellionsgefühle gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu neutralisieren«.
Demgegenüber hoffte Agnoli, der »Staatskritiker mit Lehrstuhl«, auf eine außerparlamentarische Opposition, die »das Licht der Öffentlichkeit scheut« und sich so der Kontrolle noch entziehen könne. Indes war bereits Anfang der 1970er mit dem Zerbrechen der Studentenbewegung deutlich geworden, daß die Gefahr einer weiteren Eskalation mehr als begrenzt war. Daß die Frankfurter Allgemeine seinerzeit urteilte, Agnoli schreibe konsequent »am Bedarf vorbei«, spricht alles andere als gegen ihn.
Nach der Wende
Spätestens seit dem Mauerfall 1989 und dem befürchteten Erstarken nationaler politischer Strömungen werden die etablierten politischen Institutionen der BRD tendenziell als sakrosankt behandelt; sie zu kritisieren, kommt seither angeblich einem Angriff auf die Demokratie selbst gleich. Dieses Verdikt traf nach einem entsprechenden Interview 1992 selbst den damaligen Bundespräsidenten und prominenten Vergangenheitsbewältiger Richard von Weizsäcker. Im Zusammenhang mit diesem Tabu wird Parteienkritik seit den späten 1980er Jahren vor allem über die Umwege von Populismus und Korruptionsgefahr geübt. Als aktuelle »Klassiker« in unserer Zeit, in der laut Forsa nur noch 17 Prozent der Deutschen politischen Parteien vertrauen, haben sich der Verfassungsjurist Hans Herbert von Arnim (u. a. Staat ohne Diener und Demokratie ohne Volk, beide 1993), der Politikwissenschaftler Philip Manow mit (Ent-)Demokratisierung der Demokratie (2020) sowie der Soziologe Erwin Scheuch (Cliquen, Klüngel und Karrieren, 1992) etabliert.
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Ergänzende Literatur:
Klaus von Beyme: Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993;
Rolf Ebbighausen: Die Krise der Parteiendemokratie und die Parteiensoziologie. Eine Studie über Moisei Ostrogorski, Robert Michels und die neuere Entwicklung der Parteienforschung, Berlin 1969;
Christian Graf von Krockow, Peter Lösche (Hrsg.): Parteien in der Krise. Das Parteiensystem der Bundesrepublik und der Aufstand des Bürgerwillens, München 1986;
Helmut Stubbe da Luz: Parteiendiktatur. Die Lüge von der »innerparteilichen Demokratie«, Frankfurt a. M. 1994.