Zwanzig Jahre Sezession: das bedeutet 113 Ausgaben, insgesamt mehr als 7000 Seiten, über 1000 Rezensionen, 400 Grundlagen – und ähnlich viele Kurzbeiträge. Zwanzig Jahre bedeuten aber auch, daß man schon fast alles einmal gesehen und kommentiert hat. Und seitdem ab 2010 »Sezession im Netz« die Druckausgabe begleitet, hat sich der Umfang der Berichterstattung noch einmal beträchtlich erweitert.
Wir dürfen, wenn wir zunächst kaufmännisch Bilanz ziehen, von einem undramatischen, aber erfolgreichen Projekt sprechen, das 2003 gegen den Rat etlicher in Gang gesetzt wurde und eine Pionierleistung auf dem Brachfeld rechtsintellektueller Zeitschriftenarbeit war.
Die Abonnenten verteilen sich (man sieht es der Karte an) über das gesamte Bundesgebiet. Das Heft wird nicht am Kiosk angeboten, sondern ausschließlich im Abonnement und als Einzelheft direkt vom Verlag verkauft. Die Auflage hat sich seit 2003 ohne Einbrüche entwickelt, machte in den Jahren nach 2015 einen Sprung und pendelt seither auf dem Niveau von rund 4500 verkauften Heften, von denen über 4000 abonniert sind.
Ebenfalls ab 2015 verschob sich der Leserschwerpunkt deutlich nach Osten, wobei Verhältniszahlen und absolute Menge die Crux der Dünnbesiedelung veranschaulichen: Wo widerständige Mentalität vorherrscht, wohnt weniger Volk. Neben dem politisch interessierten Berlin, das stark abonniert, sind es also die fünf ehemaligen DDR-Gebiete, in denen überproportional viele Menschen Sezession lesen. Ganz hinten findet sich das fast schon verlorene Land. Alles in allem kann es mit der Sezession gut weitergehen. Die gedruckte Ausgabe ist die wirtschaftliche Grundlage, sie finanziert den Online-Auftritt mit.
Das ist also alles solide. Wir würden unsere Arbeit aber auch leisten, wenn sie prekärer wäre (und der Staat nebst seinen angeschlossenen Funkhäusern hat immerhin viel dafür getan, daß es mit uns bergab gehe!). Die Frage, warum wir eine Zeitschrift herausgeben, kann nämlich nicht mit dem Verweis auf Stundensätze beantwortet werden. Unsere ideelle Überzeugung ist der Motor.
Ich kann mich noch gut an einen Artikel mit dem Titel »Bewegung im Überbau« erinnern. Er wurde von Karlheinz Weißmann, dem Mitbegründer von IfS und Sezession, verfaßt und erschien im April 2007 in der Sezession. Er beruht auf einem Vortrag, den Weißmann beim Berliner Kolleg des Instituts für Staatspolitik, des Herausgebers der Sezession, hielt. Die Überschrift spielt auf die marxistische Unterscheidung von Basis und Überbau an, nach der die Produktionsverhältnisse die reale Basis der Gesellschaft bildeten, auf der sich ein Überbau erhebe, der geistiger Natur sei.
Zu diesem Überbau zählten nicht nur die politischen und juristischen Verhältnisse des Staates, sondern auch die religiösen und philosophischen Ausprägungen des Zeitgeistes, die nach marxistischer Auffassung diesen Verhältnissen entsprechen müßten. Folgt man dieser Ideologie, hat der Überbau kein Eigenleben, sondern wird ganz von der materiellen Produktion, man kann auch sagen, vom Leben bestimmt. Bewegungen im Überbau ohne entsprechende Veränderungen in der Lebenswirklichkeit kann es also nicht geben. Der Überbau ändert sich nur, wenn sich die materiellen Verhältnisse ändern, da es dann eine Revolution gibt, die genau dafür sorgt.
Weißmann, der im April 2014 IfS und Sezession in Richtung Junge Freiheit und Cato verließ, meinte damals, eine Bewegung im Überbau wahrnehmen zu können. Es ging ihm um einige bemerkenswerte Bücher, in denen Vertreter des Establishments Thesen aufstellten, die nach einer Absatzbewegung von den geltenden Normen und Werten aussahen. Die Namen, die dabei fielen, dürften den meisten heute kaum noch etwas sagen. Es waren unter anderem der Historiker Jens Hacke, der Psychologe Stephan Grünewald, der damalige Herausgeber des Cicero Wolfram Weimer und der Soziologe Wolfgang Sofsky. (Bei Peter Sloterdijk, dessen Buch Zorn und Zeit Weißmann ebenfalls ausführlich würdigte, ist das anders, er stellt bis heute gewissermaßen die Simulation der Bewegung im Überbau schlechthin dar. Er läuft immer wieder spektakulär an, trifft auch mal einen Punkt, schwenkt dann aber wieder auf die gewohnte Bahn ein, nicht ohne dafür aufsehenerregende Worte zu finden.)
Es ging Weißmann um eine Bewegung weg vom Progressiven, hin zum Konservativen, weg von den Wünschbarkeiten, hin zu den Notwendigkeiten, weg von Habermas und seinem Verfassungspatriotismus, hin zu uns, den Neuen Rechten, und einem gesunden Verhältnis zur eigenen Geschichte und sich selbst. Von heute aus gesehen, ist es nicht leicht, diese Bewegung für keine Einbildung zu halten. Wohlwollend könnte man von einer Bewegung im erlaubten Rahmen sprechen oder von einem Test einer Ausbruchsbewegung, die nach schmerzhafter Erfahrung nicht weiterverfolgt wurde. Denn: geändert hat sich seitdem manches, aber nichts davon hat sich in unsere Richtung bewegt.
Darüber sollte uns die Tatsache, daß eine Partei im Parlament sitzt, die den antinationalen Konsens nicht mitträgt, nicht täuschen. Die AfD wurde nicht gewählt, weil sich etwas in unsere Richtung bewegt hätte, sondern weil sich ständig etwas in die falsche Richtung bewegte. Wenig hilfreich sind da Kommentare wie der von Karlheinz Weißmann aus dem September 2018.
Damals warnte er in der Jungen Freiheit vor der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz, was »für die Partei eine Katastrophe« wäre, weil viele »Gemäßigte« dann die Partei verlassen und Platz für die »rechten Hardliner« machen würden. Ganz besonders warnte er vor dem »Mann aus Schnellroda«, der zwar immer für eine Überraschung gut sei, aber »eigentlich gar nichts anderes möchte als ein bißchen mehr Achtziger«. Das war, gelinde gesagt, nichts weiter als Polemik.
Es geht hier, in Schnellroda, um Grundsätzliches. Und es gehört immer noch zu den Kernaufgaben einer Zeitschrift wie der Sezession, nach Bewegungen im Überbau Ausschau zu halten, um auf sie aufmerksam zu machen, sie womöglich mit Begriffen zu versorgen, dadurch ihr Selbstverständnis zu ordnen, sie also zu verstärken – oder gar selbst so eine Bewegung anzustoßen. Die Sezession ist und bleibt ein Medium, dessen Auftrag in der Wahrnehmung, in den entscheidenden Hinweisen, in der Metapolitik liegt.
Mir ist der Text ja deshalb im Gedächtnis geblieben, weil er das, was wir tun, so auf den Punkt bringt – bei aller Beschränkung unseres Tuns, das in der Analyse liegt, aber auch im Verweis auf eine Grundüberzeugung: Bei uns steht der Überbau im Fokus, weil es uns nicht gegeben ist, die materielle Basis zu verändern, und natürlich auch, weil wir der Überzeugung sind, daß wir nicht mehr so lange mit der Bewegung warten können, bis sich die Basis einmal ändern sollte. Das tut sie zwar ständig, aber doch so umsichtig moderiert, daß daraus bislang nur sehr verhalten Potential für eine Gegenbewegung entstand.
Diese Konzentration auf den Überbau fußt auf einer Einsicht, die zu den Überzeugungen der Neuen Rechten gehört: Wir brauchen keine Verelendung oder Revolution. Das ist nämlich die Lehre, die man aus dem Wirken der 68er-Bewegung ziehen kann und die wir gezogen haben: Wer einen geistigen Wandel herbeiführen möchte, kann die materiellen Grundlagen unangetastet lassen. Denn die Jahre 1968 und folgende waren keine Verelendungszeit, sondern geradezu das Gegenteil. Aber der Überbau änderte sich in den nächsten Jahrzehnten so gründlich, daß auch ernsthafte weltpolitische Umwälzungen wie der Zusammenbruch des Kommunismus kaum etwas daran ändern konnten.
Es gab 1990 die Hoffnung, daß sich in Deutschland grundsätzlich etwas ändern könnte. So wie der Rest des Ostblocks an seine nationalen Traditionen anknüpfte, so sollte auch aus dem teilwiedervereinigten Deutschland wieder ein souveräner Nationalstaat mit Interesse am Fortbestand des eigenen Volkes werden. Die Nachkriegszeit sollte vorbei sein, die Strafe, ob verdient oder unverdient, sollte abgegolten sein, zumal mit dem endgültigen Verlust der Ostgebiete.
Gerade in den neuen Bundesländern war diese Hoffnung stark, denn lange genug war man ein Anhängsel des Hegemons gewesen, durfte seine Meinung nicht frei äußern und hatte einer Demokratiesimulation zugeschaut. Im Osten wird seit zwei Jahrzehnten anders gewählt als im Westen, die NPD und die DVU hatten und die AfD hat hier ihre Hochburgen. Aber die Theorie, ob und wie der Überbau zu verändern und dem schleichenden Niedergang etwas entgegenzusetzen sei, kam aus dem Westen, nicht selten von Abweichlern des etablierten Milieus aus Politik und Medien.
Das alles zählt zu einem Anlauf, der notwendig war, damit die Sezession gegründet werden konnte. Sie steht zwar, durch Armin Mohler vermittelt, in geistiger Verbindung mit der Konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit. Von dorther ragen aber nur wenige Bücher und Ideen so in unsere Zeit hinein, daß sie auf heutige Herausforderungen die richtigen Antworten parat hätten. Die Situation, in die wir hineingestellt sind, ist das teilwiedervereinigte Deutschland, das von einer übermächtigen EU innenpolitisch und von dem Hegemon USA außenpolitisch dominiert und manipuliert wird. Das ist im Vergleich zum Kalten Krieg, als Mohler und die Zeitschrift Criticón ihre große Zeit hatten, eine andere Lage, und es bieten sich andere Handlungsmöglichkeiten.
Wie fest der Überbau sitzt, war in den letzten 30 Jahren gut zu beobachten. Bereits 1993 wurde mit Steffen Heitmann ein »Ossi« als Bundespräsident vorgeschlagen. Einige Äußerungen zu den heiligen Kühen Vergangenheitsbewältigung und Ausländer (das Klima spielte damals noch keine Rolle) sorgten für einen Sturm der Entrüstung, der Heitmann die Unterstützung der CDU kostete, so daß er seine Kandidatur zurückzog. Ebenfalls 1993 erschien der Essay »Anschwellender Bocksgesang« von Botho Strauß. Der Spiegel druckte ihn, heute undenkbar, und er ist gewissermaßen das Gründungsdokument des IfS und der Sezession, die nicht ohne Grund ihren Namen trägt.
Denn bei Strauß heißt es: »Der Leitbild-Wechsel, der längst fällig wäre, wird niemals stattfinden. Zum Sturz des faulen Befreiungszaubers, des subversiven Gemütskitsches wird es nicht kommen. Das alles geht über in eine endlose Prolongation durch technische Wiederaufbereitung. Dabei: so viele wunderbare Dichter, die noch zu lesen sind – so viel Stoff und Vorbildlichkeit für einen jungen Menschen, um ein Einzelgänger zu werden. Man muß nur wählen können; das einzige, was man braucht, ist der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream. Ich bin davon überzeugt, daß die magischen Orte der Absonderung, daß ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems unerläßlich ist.«
Das war der Auslösertext für unsere Generation, und das ist, in allem resignativen Optimismus, in dem Strauß das damals geschrieben hat, heute gültiger denn je. Denn darin ist der Spagat, den derjenige, der nicht nur einen Platz im System begehrt, weil er meint, daß da die Falschen an der richtigen Stelle säßen, jeden Tag vollziehen muß: zwischen der Einsicht in die Aussichtslosigkeit, die hier nichts anderes meint als die ausrechenbare Aussicht auf Erfolg, und der Überzeugung, es dennoch tun zu müssen, weil sonst die völlige Heil- und Sprachlosigkeit drohe, weil sonst kein Funken Hoffnung mehr glimme.
Der Name Sezession ist daher Programm, und wenn wir gefragt werden, was mit »Sezession« gemeint sei, dann denken wir nicht an die Abtrennung Brandenburgs oder Sachsen von Deutschland, sondern verweisen auf die grundsätzliche Bedeutung des Wortes: unseren Mut zur Sezession, oder anders ausgedrückt: wir machen nicht mit und gehen davon aus, daß gelogen wird, wenn alle dasselbe sagen.
Im April 2003, zehn Jahre vor Gründung der AfD, erschien die erste Ausgabe der Sezession, damals noch als Vierteljahreszeitschrift, seit 2006 zweimonatlich. Im Oktober 2003 folgte jener geschichtspolitische Skandal, der zum Parteiausschluß Martin Hohmanns aus der CDU führte. Im Dezember 2006 trat mit Henry Nitzsche ein MdB unter Protest gegen Multikulti aus der CDU aus. 2009 erschien Thilo Sarrazins Skandal-Interview in Lettre International, ein Jahr später sein Buch, das für ernsthafte Bewegungen im Überbau sorgte. Die Sezession widmete ihm eine ihrer seltenen Sonderausgaben.
AfD und Pegida waren 2014 ein weiterer Anlaß für solche Zwischenhefte, ebenso die geschichtspolitische Debatte um das Buch Finis Germania von Rolf Peter Sieferle im Jahr 2017. Das waren Kontroversen, die etwas bewegt haben, die den Raum des Sagbaren ausgeweitet haben. Nicht nur, weil jemand etwas sagte, der als unangreifbar galt, sondern auch, weil die anschließenden Diskussionen und Versuche der Mundtotmachung vom Publikum mit Unverständnis quittiert wurden. Veröffentlichte und öffentliche Meinung standen in einem wahrnehmbaren Gegensatz, und solche Konstellationen sorgen stets für Bewegung.
Seither sind Gewißheiten wie Staat, Nation und Volk durch die Schaffung von neuen Tatsachen ins Wanken geraten. Es stellen sich neue Fragen: Wenn Staat und Zivilgesellschaft ununterscheidbar werden, wie stellen wir uns dann zum Staat? Wenn EU-Europa und NATO antideutsche Veranstaltungen sind, wie stellen wir uns dann zu diesen Zusammenschlüssen? Sind wir noch immer für oder mittlerweile doch gegen den Staat in seiner derzeitigen Gestalt? Hieß es in der Jungen Freiheit nicht auf dem Höhepunkt der Corona-Impfkampagne in einem Kommentar von Karlheinz Weißmann »Ärmel hoch!«, liest man dort nicht immer wieder vom bürgerlichen Block aus AfD, CDU und FDP, der eine Mehrheit hätte? Und ist nicht dort auch die Neigung besonders groß, die Lügen der Amerikaner zu glauben, insbesondere im Hinblick auf den Ukrainekrieg?
Aber diese internen Risse sind immer vor dem Hintergrund einer umfassenden Ächtung zu lesen: Früher wurde die Sezession in der FAZ besprochen, meistens wohlwollend und interessiert. Heute geht es, falls überhaupt berichtet wird, nur noch um die Sezession als Code für rechtsextreme Intellektualität, nicht mehr um ihre Inhalte.
Es steht einem Projekt wie der Sezession gut zu Gesicht, einen Kleinkrieg, einen Bewegungskrieg gegen den übermächtigen Überbau zu führen. Dazu muß man immer in Bewegung sein, um dem Gegner zu entweichen – und ihn möglichst im Gegenstoß an einer überraschenden Stelle zu treffen. Aber eine Zeitschrift ist keine Guerillaformation, sondern – solange sie nicht verboten ist – ein Medium, das seine Qualität und Überzeugungskraft der Tatsache verdankt, daß ihre Macher im Leben stehen, keine Luftmenschen sind, aber auch nicht im Kellerloch einer verbohrten Ideologie hocken.
Mit Blick auf die Bewegungen im Überbau wird man sogar sagen können, daß sich die Sezession angesichts dessen sogar als ein Fels in der Brandung gezeigt hat. Wir mußten uns nicht oft korrigieren, weil das skeptische Menschenbild, der Blick auf die Wirklichkeit und der gehörige Respekt vor dem Bestehenden eine gute Grundlage für die politische Urteilskraft sind.
Ich will aber nicht vergessen, daß die Sezession neben der Orientierung auch Unterhaltung und Wissensvermittlung zu bieten hat, wenn auch von Ausgabe zu Ausgabe in unterschiedlichen Anteilen. Das erfolgt nicht in Form aufdringlicher Angebote, sondern in der vornehmen Weise des grundsätzlichen Argumentierens und des leitenden Hinweisens.
Dieser Anspruch, der nicht zugunsten der politischen Eindeutigkeit aufgehoben wird, der keine esoterische Oase errichtet und auch nicht in Gleichgültigkeit oder Uneindeutigkeit abgleitet, zeichnet die Sezession aus. Unsere Zeitschrift hat nur eine Zukunft, eine Chance auf die nächsten 20 Jahre, wenn es uns gelingt, eine Position zu behaupten, die uns für die üblichen Bewegungen im Überbau unangreifbar macht.