I.
Als die Welle der Black-Lives-Matter-Proteste 2020 vor allem durch die angelsächsischen Länder schwappt, ist ein Faktum ebenso erklärungsbedürftig wie erstaunlich: denn nichts zieht den Eifer, die Wut, das gewaltsame Entladung suchende Ressentiment so auf sich wie die Standbilder der großen Männer im öffentlichen Raum.
Am 7. Juni 2020 stürzt und verunstaltet eine aufgebrachte Menge im englischen Bristol die Statue des Sklavenhändlers, Großkaufmanns und Philanthropen Edward Colston, um sie anschließend durch die Straßen zu schleifen und im Hafenbecken der Stadt zu versenken. Am 9. Juni reißen wütende Demonstranten die Christoph-Kolumbus-Statue in Richmond (Virginia) ab und hängen dem zerstückelten Torso ein Pappschild mit der Aufschrift »Völkermörder« um. Am 23. Juni fällt das Standbild des US-Präsidenten Theodore Roosevelt vor dem American Museum of National History, und die Stadtverordnetenversammlung von New York beschließt die Entfernung der Bronzestatue des Thomas Jefferson aus ihrem Sitzungssaal, da man nicht länger erdulden kann, wie der US-Gründervater herrschaftlich über den Abgeordneten thront.
In Deutschland und Österreich ihrerseits sind die Listen jener Monumente bereits erstellt, denen es bei nächster Gelegenheit an den Kragen gehen dürfte, darunter insbesondere das Dr.-Karl-Lueger-Denkmal am Wiener Stubenring. Der aus einem Ideenwettbewerb siegreich hervorgegangene Vorschlag, das Standbild um 3,5 Grad »nach rechts« zu kippen und dadurch historisch zu kontextualisieren, harrt vorerst der Durchführung, während vor dem Ehrenmal bereits eine »Schandwache« der linken Stadtgesellschaft posiert. In Hamburg ist es das 1906 errichtete Bismarck-Monument im Alten Elbpark, das den Zorn einer progressiven Bürgerschaft erregt.
Schon läßt sich Ulrich Hentschel, »Studienleiter Erinnerungskultur« der Evangelischen Akademie in Hamburg und Pastor der St. Johanniskirche in Altona, mit der Anregung vernehmen, die Statue zu enthaupten und den abgetrennten Kopf neben den Denkmalsrumpf zu plazieren, um die Monumentalität des Standbildes zu brechen. Für die Demonstranten, die sich im Juli 2020 unter dem Motto »Otto must fall« im angrenzenden Parkgelände versammeln, stellt die Präsenz eines »bewaffneten, kriegerischen Helden« einen Dominanz ausströmenden, einschüchternden Popanz dar, der im besten Falle entsorgt gehöre oder jedenfalls »auf Normalmaß geschrumpft« werden müsse. (1)
In Köln wiederum ist das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms II. auf der linksrheinischen Seite der Hohenzollernbrücke ins Visier der Wohlmeinenden geraten. »Überall auf der Welt werden Denkmäler von Rassisten gestürzt. Wilhelm II., unserem letzten Kaiser, geht das am kupfernen Prachtarsch vorbei«, schreibt der FAZ- und Spiegel-Journalist Klaus Ungerer am 12. Juni 2020 im Humanistischen Pressedienst, und weiter: »Über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ist es den Denkmälern gelungen, die von ihnen behauptete Unangreifbarkeit tatsächlich durchzusetzen. […] Unhinterfragt wirken sie in die Welt hinaus, mit ihrer Pose und ihrem Prunk, mit ihrem Namen und, ja, grundsätzlich: mit der Übereinkunft, es gebe unfaßbar großartige Menschen, die über ihre Mitmenschen wesenhaft hinausragten und die man daher als metallenes Abbild auf einen Sockel stellen sollte. […] Denkmäler sind immer lächerlich, je größer und pompöser, desto alberner. Sie wollen uns zwingen, an die Ideale der Erhabenheit zu glauben, und dieser Gedanke ist für sich genommen schon Ausdruck von Unreife, ein vager Nachhall von Religion.« (2)
II.
Hier deutet sich bereits an, daß die Statuen und Standbilder nicht nur Angriffsziele werden, insofern sie feindliche Ideologien, Staaten oder geschichtliche Erscheinungen repräsentieren. Vielmehr löst die öffentlich-herrschaftliche Darstellung der großen Menschen inzwischen ein generelles Mißbehagen aus. In seiner Schrift über den Weltstaat schreibt Ernst Jünger: »Daß heute die Aufstellung von Standbildern des Großen Menschen an beherrschenden Orten zum Wagnis geworden ist, hat mannigfache Gründe, die sich jedoch in einer zentralen Ursache treffen: dem Ermatten der geschichtsbildenden Kraft. Damit hängt eng zusammen, daß historische Größe, personal verkörpert, unglaubwürdig geworden ist.« (3)
S0 hat der Sturz der Statuen und Standbilder zugleich eine metahistorische Seite: Der Unwille, den die Präsenz historischer Größe im öffentlichen Raum inzwischen evoziert, signalisiert, daß jenes geschichtliche Zeitalter sich dem Ende neigt, in dem der Mensch den Anspruch erhebt, souverän die Szenerie zu beherrschen. Nach Jünger verhält es sich nur vordergründig betrachtet so, daß der Mensch als gestaltende Potenz der Erde zu Leibe rückt, indem er Wissenschaft und Technik zu Lasten der Natur mobilisiert. In Wirklichkeit handelt der Mensch durchaus nicht (mehr) hoheitsvoll und souverän.
Vielmehr ist es die Erde selbst, die den Menschen für sich einspannt, um ein neues erdgeschichtliches Zeitalter (einen neuen tellurischen Großzyklus) einzuläuten: »Der Sinn der Erde beginnt sich zu ändern, und dieser Einschnitt trifft in die Schicht, in der Menschen auf der Erde leben, mit ungeheurer Wucht.« (4)
In einem Gebärprozeß befindlich, stellt die Erde den Menschen in ihren Dienst: Sie teilt ihm die Aufgabe zu, als ihr Agent jene titanischen Kräfte, die das neue Erdzeitalter heraufführen, aus dem Urgrund der Erde zu entbinden und aus kosmischen Sphären auf die Erde herunterzulenken. Indem der Mensch die Welt mit einem »immer dichteren Netz von Drähten und Kabeln, einem Wald von Sendern, Empfängern […] und Antennen« überspinnt, verhilft er der Erde dazu, sich ein neues Kleid anzulegen. Die Erdhülle lädt sich energetisch auf, umgibt sich mit einer unsichtbar lumineszierenden, immateriell-vergeistigten Haut aus Wellen und Feldern, Strahlen und Signalen: »Man kann annehmen, daß der Urgrund Vergeistigung erstrebt, indem er sich des Menschen als Mediums bedient. […] Die Technik ist projizierter Geist, wie das Steinbeil verlängerte Faust gewesen ist.« (5)
Indem der Urgrund sich aufwölbt, geht das Zeitalter der vom Sinn des Menschen bestimmten Weltgeschichte zu Ende, und ein neues, von tellurisch-kosmischen Kräften beherrschtes Zeitalter beginnt. Die Schicksalskräfte wachsen und nehmen dem Menschen das Zepter der Souveränität aus der Hand. Längst spürt der Mensch, daß er nicht mehr stabil im Zentrum des Geschehens steht und die Szenerie überblickt, sondern von einer unaufhaltsamen wissenschaftlich-technischen Bewegung fort- und entlanggerissen wird: daß es unmöglich geworden ist, jenen losgelassenen elementaren Kräften wirksam und dauerhaft Einhalt zu gebieten, die längst ihr Eigenleben entwickelt haben und der menschlichen Verfügungsgewalt entwachsen sind: »Jede Entscheidung, jede Wahl und jede Dialektik kann nur das Ja bestätigen, die Grundrichtung fortsetzen.« (6)
Die titanischen Kräfte jener »proteushaften Macht«, die der Mensch entfesselt und deren Schicksalshaftigkeit er sich unterstellt hat, dringen schließlich in ihn selber ein: Das Wesen des Menschen ändert sich, indem Gentechnik, Transhumanismus und Künstliche Intelligenz seine Substanz erfassen und ihn in den Wirbel der großen Erdbewegung, der kosmischen Umwälzung reißen: »Zugleich geschieht etwas mehr, insofern als jeder Eroberer auch selbst erobert wird.« (7)
So stellt sich die Frage, ob es den tellurisch-kosmischen Energien zuletzt gelingen wird, den Menschen aus seiner biologischen Verfassung herauszupressen. Daß der Mensch des 21. Jahrhunderts die Statuen und Standbilder nur mehr schwer ertragen kann, hängt folglich damit zusammen, daß er seinen Rang als souveränen, unumschränkten Gestalter verloren hat. Ihre gebieterische, selbstherrliche Haltung, die die Welt ihrem Werk und Willen unterwirft, wirkt im Angesicht der Ermüdung der geschichtsmächtigen Kraft des Menschen fehl am Platz.
Das steingewordene Selbstbewußtsein, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt und über die großen Entscheidungen verfügen läßt, paßt nicht mehr zu jener Haltung des gesenkten Hauptes, die einer bußfertigen Selbstwahrnehmung entspricht. Nicht der einzelne Handelnde steht nunmehr im Fokus, sondern anonyme, namenlose, Personalität zurückdrängende und Individualität abschleifende Kräfte übernehmen das Ruder. Der Mensch ist nicht mehr der strahlende, unangreifbare Held der Welt, als den ihn die Statuen und Standbilder sitzend, stehend oder thronend darstellen; er ist vielmehr angreifbar, fragwürdig geworden, empfindet sich selbst als schuldhaft verstrickt, unzulänglich, verbesserungs- und optimierungsbedürftig. Schon steht die Mutation der leibseelischen Existenz des Menschen als Naturwesen zu einer neuartigen, entkörperlichten, bewußtseinsmonadischen, supraintelligenten, siliziumbasierten Spezies als Fanal am Horizont.
III.
In der Sprache der Astrologie, derer sich Jünger bisweilen befleißigt, bezieht die Erde ein neues Haus: Auf das Zeitalter der Fische (der vom Menschen aktiv gestalteten und verantworteten Weltgeschichte, deren morphologische Zyklen Spengler beschreibt) folgt das Zeitalter des Wassermanns. Dabei stellt sich die Frage, ob der menschliche Geist die titanisch-erdrevolutionären Energien so zu hegen vermag, daß er imstande sein wird, das neue Haus mit zu beziehen, welches die Erde betritt.
Oder bleibt im Übergang in einen neuen, erdvergeistigten Zeitgroßraum seine leiblich-seelische Substanz auf der Strecke? Nimmt sich der Mensch, vermittels der von ihm ersonnenen Apparaturen und in Bewegung gesetzten Kräfte, am Ende selber aus dem Spiel, um den Weg in das Zeitalter der Titanen zu bahnen? »Es wäre denkbar«, schreibt Jünger, »daß der Zug ohne den Menschen weiterfährt, der über seinen Geschäften die Abfahrt versäumt. Es wäre auch denkbar, daß der Mensch auf ein Nebengeleis geschoben wird. Das wäre eine Bewegung, wie sie im Lauf der Erdgeschichte schon oftmals stattgefunden hat.«(8)
Wenn die Perfektion der Technik erreicht ist und eine vereinheitlichte, künstlich-automatisierte Organisation an die Stelle des Organismus tritt, könnte die Freiheit des Menschen entbehrlich, seine Irrtumsanfälligkeit zum Störfaktor werden: »Die rationale Ordnung gewinnt die Schärfe des Instinkts. Auf solche Vereinfachung strebt offensichtlich eine der großen Tendenzen des Weltplans zu.« (9) Gleichwohl spielt in Jüngers Spekulationen stets die Hoffnung eine Rolle, daß die menschlichen Geisteskräfte »die gewaltige Bewegung zügeln und sich ihrer wohltätig bemächtigen« können. (10)
Der Mensch bleibt prinzipiell aufgerufen und befähigt, nicht nur ausführendes Organ der Schicksalskräfte (Agent des erdgeistigen Transformationsschubes) zu sein, sondern sich zugleich als aktives, bewußtes, verantwortungsbereites Subjekt zu erweisen. Wo der Mensch als zur Freiheit begabtes Wesen in den Gang der Ereignisse, ja in seine eigene Evolution interveniert, »kann ein Geschehen daher nicht völlig determiniert ablaufen, weder im mechanischen noch im zoologischen noch im astrologischen Sinn«. (11) Freiheit und Bestimmung kreuzen sich und gehen ineinander über: »Der menschliche Plan wirkt in den Schöpfungsplan hinein.« (12)
Wie schon mehrfach in der Erdgeschichte geschehen, bringt die Erde eine neue geologisch-terrestrische Gestalt hervor, doch bedient sie sich dazu erstmals des Menschen als »ihres klügsten Sohnes« und damit einer mit Bewußtheit ausgestatteten Potenz. Indem »ein selbstbewußtes Wesen an der Schichtbildung arbeitet, tritt Freiheit, aber auch Verantwortung in die Entwicklung ein. Der Prozeß verliert seinen unmittelbaren, schuldlosen Charakter, wenigstens in gewissem Umfang.« (13)
Dem menschlichen Geist, der die schmale Kuppe eines riesigen, schicksalhaft in Bewegung geratenen Berges bildet, kommt die Aufgabe zu, »dieser eminenten und notwendigen Bewegung einen Sinn zu geben, der sie über die bloße Tatsache der zoologischen, technischen und dämonischen Veränderung erhöht«. (14) Obwohl die Einwirkungsmöglichkeiten des Menschen nicht zu überschätzen sind, bleibt abzuwarten, was Willensfreiheit innerhalb der großen Erdbewegung ausrichten, ob sie die kosmische Umwälzung substantiell überstehen kann: »Eine andere Frage ist die, was mitgenommen werden kann […] ob Hauptmerkmale der Menschenart, vor allem die Willensfreiheit, in das neue Haus mitgenommen, ob sie als Erbe eingebracht oder ob sie dort rudimentär werden.« (15)
So könnte sich der Umgang mit Statuen und Standbildern durchaus als Indikator erweisen, inwiefern es gelingt, den Kernbestand des Menschlichen auch im Angesicht des Titanischen zu bewahren. Solange der Mensch ihren Anblick noch ertragen und ihrer Präsenz noch standhalten kann, bleibt das Menschliche (seine leibseelische Existenz ebenso wie sein aus Freiheit erwachsender Mitgestaltungsanspruch) dem Grunde nach intakt.
Erst wenn es dereinst dahin käme, daß die letzten Standbilder aufgespürt, demoliert und aus dem Bereich ihrer öffentlichen Sichtbarkeit entfernt werden, wäre die Zeit des Menschlichen endgültig abgelaufen. Diejenigen, die sich schützend vor Bismarck, Wilhelm oder Lueger stellen, verteidigen mithin womöglich mehr als nur eine nationalgeschichtliche Tradition oder Identität. Es zeichnet sich ab, daß in ihren Bemühungen das Humanum überhaupt im Feuer und auf dem Spiel steht.
– – –
(1) – Axel Schröder: »Streit um Hamburger Denkmal: Bismarck schrumpfen«, deutschlandfunkkultur.de vom 2. Dezember 2020.
(2) – Klaus Ungerer: »Lang lebe der Völkermörder!«, in: Humanistischer Pressedient vom 12. Juni 2020.
(3) – Ernst Jünger: »Der Weltstaat. Organismus und Organisation«, in: ders.: Schriften. Eine Auswahl, Stuttgart / Zürich / Salzburg 1966, S. 335 – 372, hier S. 339.
(4) – Ernst Jünger: An der Zeitmauer, Stuttgart 1959, S. 212.
(5) – Ebd., S. 137 und 210.
(6) – Ebd., S. 254.
(7) – Ebd., S. 228.
(8) – Ebd., S. 269 f.
(9) – Jünger: Weltstaat, S. 361.
(10) – Jünger: Zeitmauer, S. 312.
(11) – Ebd., S. 276 f.
(12) – Ebd., S. 200.
(13) – Ebd., S. 246.
(14) – Ebd., S. 263.
(15) – Jünger: Weltstaat, S. 362.