Wer von Wohnen und Bauen im architektonischen Sinne spricht, der darf von den Grenzen nicht schweigen. Schon die einfache Mauer macht das faßbar; verleihen wir ihr das tiefe Wort »Umfriedung«, dann um so mehr.
Menschen brauchen Grenzen und bauen sich diese, ihr individuelles und soziales Sein ist davon definiert – insofern finis (lat.) die Grenze meint. Bereits die Biologie diktiert dies. Verfolgen wir die demnach wahrnehmbaren Kontinua von innen nach außen, so dürften wir – ganz grob – folgende Grenzmarkierungen setzen: Haut – Kleidung – Decke – Raum / Zimmer /Zelt – Wohnung – Hütte / Haus – Dorf / Stadt – (Heimat) – Land. Nachfolgend soll das mittlere Feld, jenes, das architektonisch bearbeitet wird, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und bedacht werden.
Das Gegenteil der Architektur war bei den Griechen das Chaos (χάος), die klaffende Leere, die Kluft, der endlose leere Raum. Der Architekt – zusammengesetzt aus ἀρχή (Anfang, Ursprung, auch Leiter, Oberster) und τέκτων (Handwerker, Baumeister) – ist jener Schöpfer, der mit Hilfe einer Technik, einer Kunst oder einer Kunstfertigkeit – τέχνη als Wortstamm – Ordnung ins Chaos bringt. Tektonik ist demnach einerseits die kluge, geplante, kompetente Hervorbringung, andererseits ein erster Aufstand gegen die natürliche Form, denn nichts, was Menschen bauen und konstruieren, gleicht den Formen der Wolken, Berge, Bäume, Wellen – zumindest bis in die Moderne hinein. (1)
Schon das Prinzip Haut als ursprüngliche Gestalt tritt natürlicherweise überall auf, wo Formen sich bilden. Die Plattentektonik ist nichts anderes als ein zäher und kontinuierlicher Prozeß des Aufsteigens heißer Materie, der Abkühlung, Verkrustung und wieder Einschmelzung. Sie verleiht der Erde die Form. Die Zelle am anderen Spektrum bedarf ebenso der Zellwand, diese leistet im kleinen bereits, was die Haut als das komplexeste und größte Organ des Menschen vollbringt: Sie grenzt ab, schützt, sichert das innere Gleichgewicht, garantiert aber auch die Wärmeregulation, besitzt eine Immunfunktion und stellt den Stoffwechsel sicher. Die Worte »Haut« und »Haus«, »Hütte«, aber auch »Hose« lassen sich etymologisch auf den gleichen Wortstamm zurückführen.
So gesehen ist die Kleidung die erste »Ausweitung unserer Haut«, denn sie dient der Unterstützung und Intensivierung dieser Aufgaben, sie ist – nach Marshall McLuhan – ein Medium, verstanden als Ausweitung des Menschen. (2) Die nächtliche Decke mag als weitere Extension gelten; daß sie mehr als ein Wärmegarant ist, erahnt man, wenn man sieht, daß auch in tropischen Gefilden Menschen das Bedürfnis haben, sich zuzudecken. Viele wählen dabei zu Beginn die embryonale Stellung oder ziehen die Decke über den Kopf. Wir erkennen daran zwei weitere Funktionen der artifiziellen Abgrenzungen und Ausweitungen: Sie verringern den Einfluß der Außenweltreize, geben uns ein Gefühl des Alleinseins, schützen vor fremden Blicken, Geräuschen, Erwartungen und Gefahren, stellen aber auch eine Wiederherstellung der pränatalen Situation her. Sogar ein dünnes Zelt in wilder Natur versorgt uns noch mit diesem Gefühl der Unsichtbarkeit.
Bei allen Umhüllungen, die der Mensch sich schafft (das sollte man stets präsent haben), spielt das meist wohl unbewußte Verlangen nach der seligen Ruhe der ersten Dyade oder Sphäre – wie Sloterdijk sie nennt (3) – im Mutterleib eine wesentliche Rolle, selbst das beweglichste Artefakt, das Auto, zieht aus seiner Umhüllungsfunktion als »rollender Uterus« (4) Teile seiner Attraktion.
Man kann hier der Weisheit der deutschen Sprache vertrauen. Fast alle höheren Tiere bauen sich im weitesten Sinne ein Nest, nisten sich ein. Auch die befruchtete Eizelle nistet sich in der Gebärmutter ein, sie wohnt sich ein: Wir kennen das schöne Wort des »Beiwohnens« für den intimen Akt. In der Philosophie wiederum hat Merleau-Pontys geheimnisvoller Satz »Der Leib ist nicht im Raume, er wohnt ihm ein« (5) rege Diskussionen ausgelöst; Sloterdijk interpretierte das Verb »einwohnen« als ein »Verhältnis der Teilhabe, das offenkundig älter und tiefer ist als jede Ortsbestimmung, zu welcher die Weisheit der Geometrie und die Einwohnermeldeämter gelangen könnten«. (6)
In seinem Roman Der Scherz beschreibt Milan Kundera, wie sein Held nach einem langen Kasernenleben endlich Ausgang bekommt und wie schön es ist, wieder draußen unter offenem Himmel zu sein, »aber nicht nur das: zum ersten Mal seit einem vollen Jahr befand ich mich wieder in einem kleinen Raum; ein betörender Hauch von Intimität wehte mir entgegen, und seine Intensität warf mich fast um.« (7) Auch hier verrät uns die Sprache die Auflösung des Rätsels, denn sie kennt den Begriff der »Decke« auch in der Bedeutung des Bauteils, der oberen Raumbegrenzung, letztlich des Daches, des schützenden Daches über dem Kopf. Der kleine, Intimität schaffende Raum ist zuvorderst der nach oben begrenzte, der uns aus der kosmischen in die irdische Dimension versetzt.
Um zu erfassen, was ein Raum als Lebensraum ist, kann es helfen, sich in seine äußersten Extreme hineinzuversetzen, dort, wo von Menschen geschaffene Räume in unwirtlichen, an sich lebensfeindlichen Umgebungen existieren, in ganz großer Tiefe etwa oder in ganz großer Höhe: U‑Boot und Raumstation. Neben Anforderungen an starke Wände, Temperatur, sinnvoller Ausstattung fällt der atmosphärische Aspekt sofort ins Auge, weshalb dem Air-Conditioning als zukünftiger Aufgabe des Wohnens und des Lebens besondere Bedeutung zukommt. (8)
Wir verstehen dann auch den ontologischen Status des Stockwerkes und der Etage: Das naturgebundene, noch der einfachen Technik verbundene Haus ist die Hütte, ist ebenerdig. Der Stock hingegen stellt bereits in seiner einfachen Form die Frage der Gründung, ist er doch eine Umrandung, Ummauerung des »Nichts«, der Luft – er schafft einen physischen Raum, den es an sich nicht gibt. Das Unerhörte dieses Aktes wird uns in den Wolkenkratzern augenfällig, die auch in Hunderten Metern Höhe – wo bereits andere klimatische Bedingungen herrschen – Räume aus der Leere ausschneiden. Ohne technisches Air-Conditioning und Elevator sind diese Wohnungen – sofern es noch welche sein können – nicht mehr bewohnbar, beides wird bauliche Bedingung; (9) es sind Räume, die uns an sich nicht zustehen; man könnte Rousseau paraphrasierend ausrufen: Der erste, der ein Stück Höhenluft mit einer Mauer umgab und auf den Gedanken kam »Dies gehört mir …«, ist der eigentliche Begründer architektonischer Hybris.
Einen Raum für sich allein zu haben und »five hundred a year« war für Virginia Woolf die Voraussetzung dafür, Gedichte oder Romane zu schreiben, also künstlerisch schöpferisch zu sein. Das galt besonders für die Frauen, Woolfs bahnbrechender Essay A Room of One’s Own wurde zu einem frühen Manifest des Feminismus, der die systemische Alltagsunterbrechung und Ablenkung der Frau durch Haus, Kinder, Ehe und gesellschaftliche Rolle, die kein privates Zimmer ihr Eigen nennt, beklagt. Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz, denn Woolf zeigt auch dies: »Frauen haben Millionen Jahre lang in geschlossenen Räumen gesessen, so daß inzwischen sogar die Wände durchdrungen sind von ihrer Schaffenskraft«, und diese kreative Macht unterscheidet sich maßgeblich von der männlichen, zum anderen hat gerade die ungenügende Lage mitunter – etwa im Falle Jane Austens – jene großartige Literatur erst hervorgebracht. (10)
Es ist aufschlußreich, daß Heidegger in seinem maßgeblichen Vortrag »Bauen Wohnen Denken« (11) diesen Aspekt nicht bedenkt! Bekanntlich hat er das Wesen des Wohnens und des Bauens aus dem »Zuspruch der Sprache« und im Wechselspiel des »Gevierts« – Erde, Himmel, Göttliche, Sterbliche – auf das Sein rückbezogen und dabei das Hegende, Pflegende und Schonende des Wohnens herausgearbeitet. Er gibt uns zum Schluß das Beispiel eines bäuerlichen Schwarzwaldhofes, (12) um das wesentliche Wohnen zu vergegenwärtigen: das Einordnen in die natürlichen Rhythmen (windgeschützte Berglehne etc.), die Nutzung von Naturstoffen, also die »Nachhaltigkeit« (Holz, Schindel), das generationale Zusammenleben (vom Kindbett bis zum Totenbaum), die Offenheit und die Gastfreundschaft (der gemeinsame Tisch), die Anwesenheit des Göttlichen (Herrgottswinkel) und das Handwerkliche. Die Frau hat er vergessen!
Der Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow, selbst ein Schüler Heideggers, hat in seiner großen Studie Mensch und Raum (1963) die Geborgenheit in Haus und Wohnung als »anthropologische Funktion« analysiert und kam zu dem Schluß: Nimmt man dem Menschen den Frieden seiner Wohnung, so ist auch seine »innere Zersetzung unausbleiblich«. Unter den zahlreichen Bedingungen des geborgenen Wohnens, der »Wohnlichkeit« und der »Behaglichkeit«, erwähnt er etwa die »gewohnte Wohnung«, die Abgeschlossenheit, die passende Raumgröße, die Wärme, die liebende Pflege, die die Spuren des gelebten Lebens nicht beseitigt, die Stetigkeit und die Vergangenheit und anderes.
Dort taucht auch die Notwendigkeit der »weiblichen Gegenwart« als konstitutiv auf, ja mehr noch, wirkliches Wohnen sei »nur als in Gemeinschaft möglich, und das wahre Wohnhaus verlangt die Familie«. (13) Alleinsein und Zweisamkeit bedingen einander, verschmelzen zur Intimität. Diese kann erst im möglichen Kontakt mit dem anderen entstehen; sie ist auch Alleinsein innerhalb der Begegnung und kann dann ein Zweisamkeitserlebnis werden, wenn zwei sich vertrauensvoll synchronisieren und furchtlos öffnen. Bollnow sprach von »Neuer Geborgenheit«, weil diese aus der Nachkriegsperspektive den Verlust der urtümlichen Geborgenheit durch die »existentiellen Gefahren« eingesteht; (14) seine Gedanken sind noch immer virulent, auch wenn sich der Charakter der Gefahren verändert hat. (15)
Diese Gedanken finden ihre historische Bestätigung in einer erhellenden Arbeit über den Verlust der Behaglichkeit. (16) Dort werden unter anderem die »Inbesitznahme des Heims durch die Frau«, »das weibliche Prinzip«, letztlich die Geburt der Hausfrau aus dem Geiste des holländischen Calvinismus und Unternehmertums im konkreten und die Entdeckung und Kultivierung der Häuslichkeit durch das Bürgertum im allgemeinen beschrieben. Die Folgen waren exorbitant; sie reichen vom gesicherten Schlafverhalten und der Möglichkeit zu träumen über die Inthronisierung der Küche, die Entdeckung von Privatheit und Intimität und damit die Entwicklung der Kernfamilie bis hin zur Erfindung des Komforts und vielem mehr.
Kein neues feministisches »Rollenverständnis« kann die Tatsache ändern, daß unsere Häuser, Wohnungen und Zimmer auch in heutigen modernen Formen wesentlich Ergebnis weiblicher Ingeniösität sind. Es waren auch maßgeblich Frauen, die den technischen und logistischen Fortschritt in Heim und Küche vorantrieben; amerikanische »Hausingenieurinnen« wie Catherine Beecher, Lillian Gilbreth und Christine Frederick schufen die seither gültigen Raumaufteilungen, Arbeitsflächen, Abläufe, die Art und Weise, wie wir in vier Wänden kochen, waschen, essen, ruhen, spielen, lieben und leben. Selbst ein wichtiger Teil der Haushaltsgeräte, vom Kaffeefilter bis zur Spülmaschine, geht auf weibliche Sorge und Erfindungsgabe zurück.
Die Doppelbedeutung des Wortes »Raum« als room und space könnte dazu verführen, das Wohnen vornehmlich als räumliches Phänomen zu begreifen. Der Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy betonte hingegen den Zeit-Aspekt, nannte die Architektur eine »Kalenderkunst« und betonte, daß »jeder Raum einem anderen Zeitkreis angehört«, einen »besonderen Zeitsinn bildet« und »verschiedene Zeiterfüllungen verlangt«, daß es eine »Wohnstubenzeit« oder eine »Küchenzeit« gebe, daß etwa die »Zeitluft, die das Wohnzimmer ausatmet, kürzer und beschwingter« sei. Jedes Zimmer einer Wohnung habe eine eigene Botschaft: »So sagt also die Küche: Ich bin aktiv. Die Wohnzimmer sagen: Wir leben gesellig […]. Das Elternschlafzimmer hütet das Geheimnis: Wir werden geliebt«, und aus alldem ergibt sich die »Vollgestalt«. Dort, wo Menschen wahrlich wohnen – »die moderne Bauweise hat die Räume aus der Zeit herausgerissen« –, leben wir »in der Spannung der Vollzahl der Zeiten«. (17)
Eugen Fink – auch er ein Schüler Heideggers – nennt das Wohnen einen »schillernden Begriff«, versteht darunter im weitesten Sinne das »menschliche In-Sein in der Welt«. Heideggers Unzeitgemäßheit offenbart sich auch in seinen Schülern: Nachdem Bollnow und Fink meinten, Lebensphilosophie und Existentialismus verwunden zu haben, erleben beide Strömungen nun in der Populärkultur – diesmal als Farce – eine Renaissance, zuvorderst in der Behauptung, daß das richtige, volle Leben und Erleben das Wohnen und Sein übertrumpfe, zum anderen in der prospektiven Angst, etwa in Form des globalen (also unbehausten) Klimakatastrophismus und der Treib-Haus-Panik als Wert- und Handlungsgrundlage. Mit der Zielsicherheit, die begabten Werbedichtern oft eigen ist, wurde dieses Geheimnis beispielhaft in die IKEA-Parole »Wohnst du noch, oder lebst du schon?« kondensiert.
Diese neue Oberflächlichkeit mißachtet eine wesentliche und in langen Traditionen verwurzelte Bedeutung des Wohnens, denken wir nur an das Richtfest, die Weihe, den Segen oder das rituelle Übertreten der Schwelle bei Hochzeit und Einzug. Auch in der Scheu, ungebeten in andere Häuser einzudringen, die nur eine kriminelle Energie nicht kennt, lebt es noch fort: das Sakrale. In der baulichen Ummauerung, in der substantiellen Umschließung des freien Raumes als Wohnraum liegt ein Gründungsakt verborgen, eine Heiligung, die durch alle Kulturen und Zeiten geht. Nicht nur der Mensch zieht ein, sondern auch das Numinose: »Jeder Hausbau ist die Gründung eines Kosmos im Chaos«, (18) mit den Worten Mircea Eliades eine Hierophanie – der Einbruch des Heiligen ins Profane. Demnach wiederholt der zirkelnde, bauende und ordnende Mensch nicht nur das Werk der Götter, er schafft auch eine daran orientierte geordnete Welt, die »zum Archetypus für jedes menschliche Schöpfungswerk« wird. (19)
Mit der Höhe korrespondiert auch die Tiefe, so wie ein komplettes Haus einen Keller und einen Dachboden hat. Es ist daher mythisch und symbolisch, und es verwundert nicht, wenn es in unseren Träumen bedeutungsvoll erscheint. Freud sah im Haus den menschlichen Leib symbolisiert (20) und entdeckte im Heimischen das Unheimliche, (21) den Bezug auf das Fremde, wie ihn später Eugen Fink explizit machte. (22) Und für C. G. Jung wurde der Traum vom Haus zum Schlüsselerlebnis: Ihm träumte der Abstieg ins Erdgeschoß – dort »begann bereits das Unbewußte« – und in immer tiefere Keller, in denen er mittelalterliche, römische und urzeitliche Interieurs, die gar »an das Leben der Tierseele grenzten«, vorfand, und so ging ihm zum einen die Idee vom »kollektiven Unbewußten« auf, zum zweiten war der Haus-Traum der Beginn der Trennung von Freud. (23)
Der Begriff »Wohnungsnot« kommt nicht nur bei Heidegger – als Variante der Heimatlosigkeit, der Seinsvergessenheit – vor, sondern auch bei den Klassikern des Marxismus. Dort erhält er einen gänzlich anderen, positivistischen Klang. Friedrich Engels plagte das soziale Gewissen schon in Teenagerjahren, wovon seine »Briefe aus dem Wuppertal« Zeugnis ablegen. In seiner Pionierschrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England von 1845 beschreibt und analysiert er akribisch die fatalen Wohn- und Lebenssituationen der untersten industrieproletarischen Schichten. 1872 folgte die Programmschrift der empirischen Sozialforschung »Zur Wohnungsfrage«.
Gedacht war sie als Auseinandersetzung mit Proudhon und als praktische Anwendung der Marxschen Lehre, de facto lebt sie heute noch in der universitären Stadtsoziologie fort. Wohnungsnot wird nun als »Erzeugnis der bürgerlichen Gesellschaftsform« beschrieben, ihre Beseitigung könne nur »durch die Lösung der sozialen Frage, d. h. durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise« erreicht werden. Es müsse im Zuge des Umsturzes der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben werden, »die Wohnungsfrage lösen wollen und die modernen großen Städte forterhalten wollen, ist ein Widersinn.« Der unmittelbaren Wohnungsnot könne freilich einfacher abgeholfen werden: »durch Expropriation der heutigen Besitzer, resp. durch Bequartierung ihrer Häuser«, durch »Einquartierungen durch den heutigen Staat.« (24)
Ein halbes Jahrhundert später entwickelte die bürgerliche Stadtsoziologie andere Ideen, oft getragen von einem habituellen kulturkritischen Pessimismus (auch Heideggers Regionalismus zählt darunter), der die Stadt unter dem Vorzeichen des Verlustes beschrieb. Spengler drückte das idealtypisch aus: »Der Steinkoloß ›Weltstadt‹ steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht.« (25)
Soziologisch war das ein Rückschritt, hatte sich doch schon 1905 Georg Simmel durchgerungen, von der »Attitüde des Richters« zurückzutreten. In seinem an die Philosophie des Geldes anschließenden, stark kondensierten Vortrag »Die Großstädte und das Geistesleben« schuf er auf lange Sicht Vorbildliches. Von der menschlichen Psyche in der großstädtischen Situation ausgehend und diese mit sozialen und ökonomischen Parametern konfrontierend, gelang ihm eine objektivierende Beschreibung des modernen Lebens, in dem der Mensch zwar permanent überfordert wird, seelisch verarmt (Simmel beschreibt das als Blasiertheit, Reserviertheit und als Intellektualismus), dafür aber Wesentliches gewinnt: Freiheit! Die städtische Kälte und Vereinzelung sind überhaupt ihre Vorbedingung, und der gesellschaftliche Progreß ist ihr Resultat.
Menschlich betrachtet, gleichen moderne Großstädte Fleischwölfen, die das Fremde einvermengen, technisch sind sie die Turbinen der Moderne und des Fortschritts; sie bringen in ihrem komplizierten Wechselspiel aus Nivellierung und Differenzierung neue Siedlungs‑, Produktions‑, Konsumtions‑, Herrschafts- und Rechtsformen hervor. Mit Simmel wurden einerseits der neue Individualismus und das Ringen nach Identität – auch nach wechselnder – verständlich, aber auch, warum es zu »großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums« kommen muß. Nicht »anzuklagen oder zu verzeihen« sei unsere Aufgabe, »sondern allein zu verstehen«, die Großstadt als »neuen Wert« in der »Weltgeschichte des Geistes« zu affirmieren. (26)
Auch Max Weber kommt in seinem historisch und komparatistisch überbordenden Text »Die Stadt« – Teil seines Riesenwerkes Wirtschaft und Gesellschaft – zu dem Schluß: »Die okzidentale Stadt war […] ein Ort des Aufstiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit durch das Mittel geldwirtschaftlichen Erwerbs«. (27) Seine fein ziselierten Kategorisierungen verdeutlichen die Schwierigkeit, definitorisch abschließend festzuhalten, was eine Stadt überhaupt ist – Weber arbeitet eine große Menge an Charakteristika heraus und unterscheidet zudem eine Reihe von verschiedenen Stadttypen, entwirft eine »Typologie der Städte«.
Dennoch, die politische Linke bestimmt derzeit den Diskurs. Ihr marxistischer und neomarxistischer Zweig denkt mit Hilfe der Wohnungsfrage noch immer über den Systemwechsel nach: »Eine langfristig angelegte Wohnungspolitik sollte sich an der Perspektive einer grundlegenden Aufhebung der bestehenden Machtverhältnisse orientieren«, (28) und damit ist nicht das Ringen um die kulturelle Hegemonie gemeint, sondern die »Abschaffung des Kapitalismus als ökonomisches System«. Darüber hinaus denkt sie aber auch sehr dezidiert und fruchtbar über »Dekommodifizierungen« nach, über Demokratisierungen, Infrastrukturänderungen, alternative Finanzierungszirkel, Entkopplungen vom Markt, Selbstorganisation, Gemeinnützigkeit etc. Sie setzt sich dabei partiell von den Maximalforderungen von Marx und Engels ab, kommt letztlich aber nicht vom Gedanken der Enteignung los.
Allerdings beobachten wir gerade in Deutschland einen Paradigmenwechsel. Nicht die rote, sondern die grüne Linke diktiert zunehmend die Agenda. Aus Marx’ »Expropriation der Expropriateure« wird sukzessive eine der lohnabhängigen Expropriierten, der einfachen Besitzer und Bewohner von Eigentum. Den aktuellen Regierungsentscheidungen liegen weniger politökonomische Analysen zugrunde als eine sich verselbständigende, entgrenzte Ideologie, deren psychischer Brennstoff eine Mischung aus politischer Korrektheit und Angst ist. Sie versucht gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Ob Grundsteuererhöhung, Verbot von Öl- und Gasheizungen, Zwangssanierung oder immer lauter werdende Stimmen, Wohnraum (Älterer) nicht nach Erwerb, sondern nach Bedarf (etwa von kinderreichen Familien) neu aufzuteilen, »Bequartierungen« (Engels) vorzunehmen – alles läuft auf schleichende Enteignung hinaus; unter dem grünen Mantel schimmern zwei gesellschaftsverändernde Ziele durch: die weitere Zerstörung der deutschen häuslebauenden Kern- und deren Ersetzung durch die migrantische Vielkinderfamilie.
Diese Thesen scheinen in der globalisierten Welt neue Aktualität zu erhalten, zumindest wenn man das umstürzende Werk Arrival City (29) von Doug Saunders ernst nimmt. Darin wird ein starkes und empirisch reich belegtes Plädoyer für die Großstadt und ihre positive Bedeutung für die unaufhaltsamen Migrationsströme gehalten. Wer über Migration oder die Entwicklung der Stadt mitreden will, darf seine Überlegungen nicht ignorieren. Er geht von der Tatsache aus, daß der Mensch sich zur urbanen Spezies entwickeln werde; weltweit lebt jeder zweite Mensch in der Stadt, in Deutschland und in Europa nähern wir uns der 80-Prozent-Grenze, Tendenz steigend. Daher, so Saunders, liege der Mittelpunkt der Welt an der Peripherie, an den Stadträndern, dort, wo die Neuankömmlinge zuerst ankommen. Diese wirken wie ein großes Sieb, durch das vor allem die Besten unter den Ankömmlingen in das Zentrum durchsickern.
Die Frage ist nicht, ob, die Frage ist, wie. Wenn man diese Entwicklung affirmiert und politisch unterstützt und reguliert, so die These, dann könne es eine Erfolgsgeschichte sein. Was herkömmlich als »Problemviertel« oder »Ghetto« wahrgenommen werde, sei in Wirklichkeit eine Ankunftsstadt, ein Garant für die Fortentwicklung, die nicht zuletzt die Existenzfragen der Menschheit – Umwelt und Bevölkerungswachstum – lösen könnte. Statt Planierung sei ungehinderte Entfaltung vonnöten, das heißt, man schafft – alles auf sehr niedrigem Niveau – einen rechtssicheren Raum, läßt Eigentumserwerb zu, Kreditwesen, Geschäft und Gewerbe, schafft eine Infrastruktur, Märkte, Selbstverwaltung, erlaubt Netzwerke, sichert ein basales Bildungs‑, Kanalisations‑, Medizinsystem zu, letztlich auch den Familiennachzug und die Staatsbürgerschaft, und aus den Abermillionen Ankömmlingen, aus den Elenden werden sich – unter vielen Verlusten und endlosem Leid und Scheitern – Millionen in eine Mittelschicht hocharbeiten, deren verbürgerlichte Kinder als menschliches Kapital Erfolgsgeschichten schreiben können.
Unter dieser Perspektive werden gewohnte Narrative wie etwa die Push-pull-Dialektik, das Bild des Migrationsstromes (tatsächlich sind es hin- und herwogende Wellen) oder der Unterschied von Stadt und Land fraglich. Behindere man diese Entwicklung hingegen, ernte man fast naturgesetzlich organisierte Kriminalität und religiösen Fanatismus. Auch die Architektur kann eine große Rolle spielen, wie an Amsterdamer Vorortbeispielen überzeugend demonstriert wird. Dort wurden die idealistischen Reißbrettstädte Slotervaart und Bijlmermeer, die sich zu gravierenden sozialen Problemzonen entwickelt hatten, durch vergleichsweise geringfügige architektonische Änderungen und urbanes Design deutlich befriedet und aus failed cities funktionable arrival cities geformt.
Auch wenn Saunders die ethnische Frage weitgehend ausblendet, klingen seine Überlegungen bestechend und decken sich frappant mit den scheinbar kontraintuitiven Beobachtungen Steven Pinkers, (30) der von einer kontinuierlichen Abnahme der Gewalt in jeder Form innerhalb des fortschreitenden Zivilisationsprozesses ausgeht. Ist dieser Prozeß der Ankunftsmigration einmal in Gang, ist er als Kettenmigration auch nicht mehr zu stoppen.
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(1) – Vgl. Karl Christiansen: Tektonik. Den tektoniske fordring, Aarhus 2019.
(2) – Vgl. Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964), Düsseldorf 1992, S. 142 – 154.
(3) – An vielen Stellen exemplarisch in: Sphären I. Blasen. Frankfurt a. M. 1998.
(4) – Peter Sloterdijk: »Rollender Uterus«, in: Der Spiegel Nr. 8/1995.
(5) – Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, § 20.
(6) – Peter Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Hamburg 2007, S. 289, sowie: »Mit dem einwohnenden Weltverhältnis ist stets eine interieurbildende Aktivität, eine ent-fernende Praxis (im Sinne Heideggers) und eine befriedende Kultivierung (im Sinne von Schmitz) verbunden. Wo gewohnt wird, sind Sachen, Symbionten und Personen zu lokalen Solidarsystemen zusammengefaßt. Das Wohnen entwirft eine Praxis der Ortstreue über längere Zeit […]. Wohnen schafft ein Immunsystem aus wiederholbaren Gesten; es verbindet das Entlastet-Sein dank erfolgreicher Habitualisierungen mit dem Belastet-Sein durch deutliche Aufgaben. Darum ist das Einwohnen die Mutter der Asymmetrie.« (Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt a. M. 2005, S. 402)
(7) – Milan Kundera: Der Scherz, Frankfurt a. M. 1989, S. 107.
(8) – Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären III. Schäume, Frankfurt a. M. 2004, S. 154 – 192.
(9) – Dazu: Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt a. M. 1997, S. 426 ff.
(10) – Virginia Woolf: A Room of One’s Own (1929), London 1977, S. 95 und 73.
(11) – Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, S. 139 – 156, oder: Gesamtausgabe, Bd. 7, S. 145 – 164.
(12) – »Denken wir für eine Weile an einen Schwarzwaldhof, den vor zwei Jahrhunderten noch bäuerliches Wohnen baute. Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet.«
(13) – Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum (1963), Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 123 – 154.
(14) – Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Neue Geborgenheit, Stuttgart 1955, S. 160 – 191.
(15) – Dazu: Jörg Seidel: »Die Erziehbarkeit des Menschen – Otto Friedrich Bollnow«, in: Sezession 108 (Juni 2022), S. 44 – 47.
(16) – Witold Rybczynski: Verlust der Behaglichkeit. Wohnkultur im Wandel der Zeit, München 1991.
(17) – Eugen Rosenstock-Huessy: Soziologie, Bd. 2: Die Vollzahl der Zeiten, Stuttgart 1958, S. 13 – 30.
(18) – Bollnow: Mensch und Raum, S. 144.
(19) – Diesem Phänomen widmet Eliade die ersten Kapitel seines Klassikers Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen (1957), Frankfurt a. M. 1998, Zitat S. 43.
(20) – Vgl. Sigmund Freud: »Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse« (1917), in: ders.: Gesammelte Werke XI, Frankfurt a. M. 1999, S. 161.
(21) – Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche« (1919), in: ders.: Gesammelte Werke XII, Frankfurt a. M. 1999, S. 229 – 268.
(22) – »Das Wohnen hat so den Sinn: irgendwo beheimatet zu sein in einer Nahzone der Vertrautheit, die schließlich übergeht in die Fernzone der Fremde. Das ist eine harmlose Deskription; hier wird übersehen, daß gerade das ›Haus‹ in seinem Bergen und Schützen schon mitbezogen ist auf das Bedrohliche, Fremde; daß gerade, weil und sofern es Schutz gewährt, es mit zu verstehen gibt, wogegen es schützt.« (Eugen Fink: Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft, Würzburg 1987, S. 220)
(23) – Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken, Ostfildern 2011, S. 179 – 183.
(24) – Friedrich Engels: »Zur Wohnungsfrage«, in: MEW 18, Berlin 1962, S. 242 und 227.
(25) – Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes (1922), Bd. 2, München 1991, S. 673.
(26) – Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Bd. I (= Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 128 und 130.
(27) – Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), Frankfurt a. M. 2005, S. 923 – 1032, Zitat S. 942.
(28) – Andrej Holm: Objekte der Rendite. Zur Wohnungsfrage und was Engels noch nicht wissen konnte, Berlin 2022, S. 144.
(29) – Doug Saunders: Arrival City, München 2011.
(30) – Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt a. M. 2013.
Empfohlene Literatur:
Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. 1987;
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1982;
Vilém Flusser: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994;
Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte, Hamburg 2014;
Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick, 2 Bde., München 1979.