Daß die Wechselbeziehungen zwischen Raum und nationaler Identität seit über sieben Jahrzehnten zu den stiefmütterlich behandelten Bereichen kulturwissenschaftlicher Disziplinen gehören, kann kaum überraschen.
Wenn überhaupt Publikationen zu dieser Verbindung erscheinen, dann üben sie sich in Versuchen historischer Rekonstruktion. (1) Zu nahe stehen solche Zusammenhänge den angeblich überholten Fachbereichen Geopolitik oder Geopsychologie.
Mit dem Pflanzenökologen Hansjörg Küster verfügt diese Disziplin über einen international renommierten Gelehrten, der das Thema Landschaften nicht zuletzt unter den Gesichtspunkten von Schönheit und Komplexität erörtert. (2) Darüber hinaus ist die Stellung des Menschen im Raum immer wieder thematisiert worden, allerdings weithin abstrakt. (3) Die Prägekräfte des Menschen durch den Raum, besonders durch Boden und territoriale Eigenheiten, bleiben häufig unberücksichtigt.
Es paßt vor diesem Hintergrund ins Bild, wenn Hansjörg Küster den Zusammenhang von Landschaft und nationaler Identität für den Nachbarn Holland untersucht und nicht für Deutschland. (4) In kurzen Betrachtungen sieht er die traditionellen Identitätsmarker durch Nivellierung und Gleichmacherei bedroht, darunter Windmühlen und Deiche, die vornehmlich durch politische Interventionen geschützt werden, zählen sie doch in besonderer Weise zum Kulturerbe der Niederlande. Man hat zu entscheiden, ob gegebenenfalls alte Identitäten zu bewahren oder im Einzelfall sogar neu zu schaffen sind. Nicht nur die traditionell für das Land so wichtigen Tulpen kommen zur Sprache, sondern ebenso Tomaten, die sie in identitärer Perspektive ablösen könnten.
Ganz so einfühlsam ist Küster hinsichtlich seines eigenen Landes nicht, wenngleich er sich jahrelang als Präsident des Niedersächsischen Heimatbundes engagiert hat. Ein skeptisches Argument ist jedoch auch jenseits der (öfters nur vorgeschobenen) vergangenheitskritischen Position stimmig: Die Landschaftsformationen in Deutschland, von der Nordsee bis zu den Alpen, sind zu vielfältig, als daß man daraus einfache politisch-kulturelle Schlüsse ziehen könnte.
Anders sieht es hingegen für die Schweiz aus: Vom Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer bis zum mehrfachen Bundespräsidenten Philipp Etter, einem der führenden katholisch-konservativen Vertreter des 20. Jahrhunderts in diesem Land, wurde der Homo alpinus als wichtigster Grund für zentrale politische, kulturelle und geistige Weichenstellungen des Landes exponiert. Darunter nimmt die hauptsächlich alpin bedingte Demokratie eine wichtige Stellung ein. Sie konnte sich nach verbreiteter Meinung deshalb durchsetzen, weil die Menschen sich regional und unabhängig von einer Zentralgewalt organisieren und die politischen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen mußten.
Vergleichbare Ansätze, zugeschnitten auf deutsche Verhältnisse, sucht man vergebens. Es bleibt dem an deutschen Landschaften und deren Prägekräften Interessierten nichts anderes übrig, als sich aufzumachen, um Schätze vergangener Zeiten zu heben. Besondere literarische Perlen verdanken wir in diesem Zusammenhang dem nationalprotestantischen Dichterhumanisten jüdischer Herkunft Rudolf Borchardt (1877 – 1945). 1925 veröffentlichte der gebürtige Königsberger, Italien-Emigrant lange vor 1933, erstmals eine vielbeachtete Anthologie: Der Deutsche in der Landschaft. (5) Selbst ein kritischer Rezipient wie der Germanist Franck Hofmann hebt im Nachwort der Neuauflage die Aktualität der Frage Borchardts nach dem Menschen und seinen Formungen infolge von kulturell-natürlichen Einflüssen hervor, wobei er »das Deutsche« weniger gewichten möchte, als es der Meister tat.
Borchardts Sammlung umfaßt Reiseberichte von Deutschen: Wege, Berge, Täler und Ebenen aller Erdteile werden in Form von 74 Texten präsentiert, deren bekanntere und unbekanntere Verfasser von Johann G. Sulzer bis Anton Prokesch von Osten reichen. Der erwähnte Kommentator und Borchardt-Kenner, ein mediokrer Hauptstrom-Literaturwissenschaftler, könnte ob der Auswahl der Schilderungen eigentlich beruhigt sein: Eine internationalere Ausrichtung der Orte ist kaum denkbar!
Erlebnisse vom Ararat werden ebenso dargeboten wie Berichte aus dem Tal von Kaschmir; und doch insistiert Borchardt darauf, daß es »der Deutsche in der Länderwelt der Erde« sei, »der Deutsche in der Landschaft, und es ist darum ein nur innerhalb der deutschen geistigen Geschichte und Charakterwelt, nur deutsch mögliches Buch«. (6) Die Berichte anderer Völker seien diesen nicht zur Seite zu stellen. Borchardt zeigt, inwiefern der Deutsche überall auf der Welt zu Hause ist.
Verbindungen zur Poesie kommen selbst von unter der Erde: Das Bergwerk gilt ihm als geheimnisvoll offenbarer Seelenort der Deutschen. Der junge Alexander von Humboldt, mit mehreren (Reise-)Beschreibungen in der Anthologie vertreten, wirkte in jungen Jahren als Oberbergrat in Preußen; der nur wenig jüngere Dichter Novalis arbeitete als Bergassessor in der Salinenverwaltung von Weißenfels. Weniger bekannte Gestalten wie der Geowissenschaftler Abraham Gottlob Werner, der Vater der modernen wissenschaftlichen Geographie, Carl Ritter, und der Geologe Leopold von Buch werden ebenfalls vorgestellt.
Weiter verklammert das Thema »Wald« – so Borchardt – Landschaft und deutsches Geistesleben auf existentielle Weise. Selten hat jemand eine vielgestaltigere Rekonstruktion der deutschen Geistesgeschichte zusammengetragen, mit Natur- und Landschaftsmetaphern aller Art. Diese Auswahl kann und soll dennoch als »Einheit im Sinne der Geschichte des deutschen Geistes« gelesen werden, als »Restitution verlorener deutscher Geistesgröße«, wie es Borchardt vorschlägt. (7) Der Verlagstext anläßlich der Neuausgabe trifft die Intention Borchardts, wenn vom Ziel einer großangelegten »Selbstreflexion über die eigene Herkunft« die Rede ist.
Wie einsam der »schöpferische Restaurator« bereits in der Literatengemeinschaft der 1920er Jahre war, zeigt der Vergleich mit dem Roman Alfred Döblins Berge, Meere und Giganten. Mit Andeutungen über Megacitys, Gentechnik und abschmelzendes Grönlandeis steht in dieser Erzählung eine planetarisch-utopische Zukunftslandschaft im Vordergrund. Nicht zu übersehen ist allerdings, daß Borchardt einige Akzente in späteren Publikationen verschoben hat. In Der leidenschaftliche Gärtner geht es, neben allerlei Reflexionen über die Pflanzenwelt, hauptsächlich um den Menschen in der Welt. (8) Der Deutsche als zentraler Akteur tritt indessen zurück.
Borchardt hat stets darauf hingewiesen, welcher Autor ihn an erster Stelle inspiriert hat: der österreichische Literaturwissenschaftler Josef Nadler. Diesem gelingt es in einem vierbändigen Werk, das der Autor später in einer einzigen Abhandlung zusammenfaßte, (9) herausragendes deutsches Schrifttum im Kontext von Zeiten und Räumen darzustellen. Literatur geht in seiner Perspektive aus den unterschiedlichen Landschaftskreisen der deutschen Stämme hervor.
Der heute vergessene Geograph und Schriftsteller Ewald Banse (1883 – 1953) untersuchte das Verhältnis von Landschaft und Seelenleben verschiedener Erdteile. (10) In diesem Rahmen analysierte er sogenannte seelengeographische Räume. Ausführlich werden zentrale Faktoren erörtert: Landschaft, Klima, Rasse und Weltlage. Aus ihnen konstruiert er ein wenig überzeugendes Seelenklima.
Die Grenzen seiner Korrelationsbetrachtungen hat er an einigen Stellen selbst eingeräumt: So ist (ihm zufolge) die Verbindung von Klima und Rasse nicht eindeutig zu bestimmen. In toto neigt der Autor dazu, ideale Menschen in als ideal angenommenen Landschaften zu verorten. Im nordischen, Banse zufolge überlegenen Teil Europas überwiege ein Prinzip der Gleichmäßigkeit und Ausgewogenheit. Hingegen dominierten in östlichen Regionen (»Hintereuropa«) Zerrissenheit und Dissonanz. (11)
Banse geht im Einklang mit einem Teil der zeitgenössischen Charakterforschung von Wechselwirkungen zwischen räumlich-landschaftlichen Gebilden und dem menschlichen Charakter aus. Unterschiedliche Menschentypen ordnet er verschiedenen konzentrischen Kreisen zu: reingermanisches Kernland, halbgermanische Randlage und ungermanisches Fremdland. Bereits Zeitgenossen – auch solche, die politisch nicht weit von Banses NS-affinen Positionen entfernt waren – machten auf die Willkürlichkeit solcher Festlegungen aufmerksam.
Banses frühe Bücher wurden nach 1945 intensiver rezipiert, etwa seine »morgenländischen« Themen. Seine späteren Publikationen sind weit weniger empirisch ausgerichtet und bleiben häufig bei suggestiv-willkürlichen Andeutungen stehen, nicht zuletzt im Kontext der Rasseproblematik.
Als Wissenschaftler weitaus anerkannter als Banse war der Psychiater, Psychologe, Hochschullehrer, Autor und zeitweilige Politiker Willy Hellpach (1877 – 1955). Zu den Disziplinen seines Fachbereichs Psychologie, die er partiell neu fundiert hat, zählt das Feld »Geopsychologie«. Diese Bezeichnung ist weithin aus dem Sprachgebrauch der Gegenwart verschwunden. Da aber die Anregungen, die Hellpach und andere zu dieser Thematik gegeben haben, nach wie vor fruchtbar sind, faßt man etliche Erkenntnisse unter dem Terminus »Umweltpsychologie« zusammen.
Die einst von der Fachwelt anerkannte Studie Die geopsychischen Erscheinungen, erstmals 1911 erschienen, mußte später kaum überarbeitet werden (Titel ab 1935: Geopsyche). Themen wie Seele, Wetter und Klima kommen ohne Rekurs auf den Rassebegriff aus. Besonders interessant für die vorliegenden Betrachtungen sind die Hauptteile »Boden und Seele« und »Landschaft und Seele«.
Zu seinen (wenn auch kritisch beurteilten) Gewährsleuten gehört der Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel, der lebensräumliche Tatbestände für Pflanzen, Tiere und Menschen vermessen hat. Die Bodenbeschaffenheit könne für Menschen schon deshalb nicht gleichgültig sein, weil sie »erdgebundene Geschöpfe« seien. (12) Menschen und Völker leben auf bestimmten Arealen und können im Kollektiv nicht willkürlich verpflanzt werden. Ethnische Prägungen seien daher nicht von ihren Wohnorten zu trennen. Hellpach vermeidet in seinen Ausführungen indessen einen Schwachpunkt, der an einigen Stellen von Ratzels Œuvre offenkundig wird: nämlich den Hang zur geodeterministischen Deutung. Der Boden ist nicht allein für Prägungen aller Art verantwortlich, auch nicht in längeren Zeiträumen. Er ist nach Hellpach nur ein wesentliches Element.
Hellpach erwähnt viele Abhängigkeiten des Menschen vom Boden, so im Rahmen der Wohnungstektonik, die vor allem an der Bodentemperatur festgemacht wird. Weiter erörtert er auch umstrittene Phänomene (wie Wünschelruten und Erdstrahlen), die wissenschaftlich kaum zu klären sind. Hellpachs Überlegungen zu den morphologischen und funktionellen Implikationen des Bodens im Hinblick auf menschliche Wesensart sind für die damalige Zeit eher als zurückhaltend zu werten. Diese Einflüsse helfen, konkrete menschliche und tierische Ausprägungen wie Größe und Charakter mitzugestalten. (13) Man merkt aus späterer Sicht, daß die seinerzeitige Unkenntnis genetischer Grundlagen nur mancherlei Andeutungen in bestimmte Richtungen erlaubte.
Aufgrund des damaligen Forschungsstandes war es kaum möglich, mehr als nur an der Oberfläche zu kratzen. Hellpach ist nur eines von vielen Beispielen. Heute lassen sich nicht nur historische, kulturelle und sprachliche Identitäten von Völkern genauer angeben, sondern auch jene von Volksgruppen sowie die Ausprägung regionaler Typen. (14) Gemäß dem heutigen, vor allem molekulargenetischen Wissensstand kann man auf landschaftlich-regionaler wie nationaler Ebene sowohl morphologische Exprimierungen als auch korrespondierende genetische Merkmale darstellen. (15) So zeigen sich markante Bevölkerungsunterschiede.
Mit einem derartigen wissenschaftlichen Rüstzeug kann man nicht nur Ethnien als menschliches Dasein grundierende »Dauergemeinschaftsformen« herausstellen, sondern auch regional-landschaftliche Verbundenheit und Identitäten. Das Thema »Deutsche und ihre Landschaften« ist auf diese Weise weiter zu vertiefen, ungeachtet der bekannten Übermächtigkeit aller Spielarten des Globalismus, die Landschaften, Regionen und Nationen gern mit geistigen Planierraupen einebnen wollen.
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(1) – So auch Rainer Guldin: Politische Landschaften. Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität, Bielefeld 2014. Dieser Autor stützt sich nicht zufällig stark auf den historiographischen Klassiker von Benedict Anderson, der Nationen (und Räume) im Rahmen seines Konzepts als konstruiert-erfundene Gemeinschaften untersucht.
(2) – So die populäre Darstellung Hansjörg Küsters: Deutsche Landschaften. Von Rügen bis zum Donautal, München 2017.
(3) – Klassisch etwa die Veröffentlichung von Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart 112010.
(4) – Vgl. Hansjörg Küster: Heimaten. Von Natur, Kultur und Ideen geprägte Landschaften, Hannover 2023, S. 45 – 47.
(5) – Der Deutsche in der Landschaft, besorgt von Rudolf Borchardt, Berlin 2018.
(6) – Rudolf Borchardt: »Nachwort«, in: Der Deutsche in der Landschaft,
S. 493 – 507, hier S. 495.
(7) – Ebd., S. 506 f.
(8) – Vgl. Rudolf Borchardt: Der leidenschaftliche Gärtner, Berlin 2020.
(9) – Vgl. Josef Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, 2., ergänzte Auflage, Regensburg 1961.
(10) – Vgl. Ewald Banse: Landschaft und Seele. Neue Wege der Untersuchung und Gestaltung, München / Berlin 1928.
(11) – Beispiele vgl. ebd., S. 88 ff.
(12) – Vgl. Willy Hellpach: Geopsyche. Die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, 6., verbesserte Auflage, Stuttgart 1950, S. 158.
(13) – Vgl. ebd., S. 165.
(14) – So pointiert Andreas Vonderach: Die deutschen Stämme, Beltheim-Schnellbach 2021.
(15) – Für Deutschland vgl. Andreas Vonderach: Anthropologie Europas: Völker, Typen und Gene vom Neandertaler bis zur Gegenwart, 2., völlig überarbeitete Auflage, Graz 2015, bes. S. 290 – 308.
(16) – Willy Hellpach: Einführung in die Völkerpsychologie, 3., neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 1954.