Vor einigen Jahren verschlug es mich während eines Berlin-Aufenthaltes in ein sogenanntes Shopping- und Entertainment-Center mit angeschlossenem »Food Court« – also an einen besonders geist- und seelenlosen Ort in einer ohnehin immer betrüblicheren Stadt.
Der geschichts- und gesichtslose, dröhnende Konsumtempel, der sich, auch ausweislich seines austauschbaren Angebots und ausgetauschten Publikums, überall in der westlichen Welt hätte befinden können, zeitigte dreierlei Reaktionen: erstens, ihn so rasch als möglich zu verlassen; zweitens die Überlegung, welche Lebensweise in unseren Breiten wohl die Antithese zu diesem Unort darstelle; drittens eine wachsende Faszination für das Ergebnis dieser Überlegung: die Kartause.
Das Leben der Priestermönche des Kartäuserordens ist in seiner Strenge innerhalb der katholischen Kirche ohne Vergleich. Nur an Sonn- und Feiertagen wird das Mittagsmahl gemeinsam eingenommen. Nur daran anschließend sowie auf einem allwöchentlichen Spaziergang – und nur dann halten sich die Kartäuserpriester für einige Stunden außerhalb der Klausurmauern auf – sind ihnen Gespräche miteinander erlaubt; nur an zwei Tagen im Jahr außerdem mit Besuchern aus dem engsten Familienkreis (und nur mit diesem darf ein spärlicher Briefwechsel unterhalten werden).
Diese Ausnahmen stellen die Gesamtheit aller »Zerstreuungen« dar. Andere Kontakte mit der Außenwelt, sei es über Medien oder im Wege der Seelsorge, finden nicht statt, dem Wahlspruch des Ordens entsprechend: Stat crux dum volvitur orbis – »Das Kreuz steht, während die Welt sich dreht«.
Das Kreuz der auch »Zellenmönche« genannten Kartäuserpriester scheint von beängstigender Schwere: Unter Einhaltung eines strengen Stundenplanes verbringen sie ihr Leben fast ausschließlich in tiefem Schweigen, allein, in spartanischen Häuschen, der »Zelle«, vor allem in deren Aufenthaltsraum, dem cubiculum. Dort erhalten sie über eine Durchreiche ihre schlichten, stets fleischlosen Mahlzeiten – niemals Frühstück, am Abend während der monatelangen Fastenzeiten sowie jeden Freitag nur Brot und ein Getränk.
Dort gehen sie geistlichen Studien nach. Dort arbeiten sie handwerklich, im eigenen ummauerten Garten und am eigenen Brennholz – wobei die manuelle Arbeit weniger dazu dient, etwas herzustellen, als gesund zu bleiben. Und dort steht, über allem anderen – beim Stundengebet, beim Offizium zu Ehren Mariens, der Patronin des Ordens, und in weiteren Gebeten –, das Streben nach einer fast ununterbrochenen Zwiesprache mit Gott.
Nur dreimal täglich verlassen die Priestermönche ihre Häuschen: zur Konventsmesse und um anschließend jeder für sich in einer Kapelle die Stillmesse zu lesen; zur Vesper am späten Nachmittag; und, einzigartig in der katholischen Kirche, gegen Mitternacht, zwei bis drei Stunden lang, für matutin und laudes. So erhält ein Kartäuser selten mehr als dreieinhalb Stunden ununterbrochenen Schlafes. Trotzdem stellt die nächtliche Andacht mit dem Singen der gregorianischen Choräle in der nur von Kerzen spärlich beleuchteten Klosterkirche den erfüllenden Höhepunkt im täglichen Leben der Mönche dar.
Dieses harte Regime scheint der Gesundheit allerdings nicht abträglich zu sein – zahlreiche Quellen belegen die Langlebigkeit der Kartäuser, darunter auch eine, die berichtet, wie ein 116jähriger Kartäuser im niederösterreichischen Gaming an den Folgen eines Sturzes von einem Pferd verstarb. »Hier schenkt Gott seinen Athleten für die Kampfesmühe den ersehnten Lohn; einen Frieden, den die Welt nicht kennt, und die Freude des Heiligen Geistes«, so der Ordensgründer Bruno von Köln.
Dieser war um 1030 im »Rom des Nordens« geboren worden, hatte sich zum Studium nach Reims begeben und war dort mit wenig mehr als 25 Jahren zum Rektor der Universität aufgestiegen, dann aber mit seinem simonistischen Bischof in Konflikt geraten, dem er nach dessen Absetzung im Amt nachfolgen sollte. Bruno jedoch, »der sich wie viele ›Eliteseelen‹ seiner Zeit zum Eremitenleben berufen fühlte« (James Hogg), wies den Bischofsstuhl in der illustren Krönungsstadt der französischen Könige zurück und verließ Reims. Er gelangte schließlich mit sechs Gefährten nach Grenoble, dessen Bischof, der heilige Hugo, während eines halben Jahrhunderts Freund und Protektor der kleinen Gemeinschaft sein sollte.
Er führte die sieben höchstpersönlich in die »schreckliche Einsamkeit« (Jean-François Ducis) eines im namensgebenden Gebirgsmassiv der Chartreuse (lat. cartusia, dt. Kartause) auf über 1000 Metern gelegenen, schwer zugänglichen Hochtals, das schon vor dem Kommen der kleinen Gemeinschaft »die Wüste« genannt worden war. Sieben Sterne hatten Hugo den Weg gewiesen, die ihm im Traum erschienen waren und sich noch heute im Wappen der Kartäuser finden. 1084 entstand so die erste Niederlassung dieser »Einsiedler in Klostergemeinschaft«, unweit der heutigen Grande Chartreuse, des Mutterhauses des Ordens.
Bruno wurde alsbald von Papst Urban II., seinem ehemaligen Schüler zu Reims, nach Rom gerufen. Nach wenigen Monaten und der Ausschlagung eines weiteren Bischofshutes erhielt er vom Papst die seltene Gunst, wieder seiner wahren Berufung folgen zu dürfen. In Kalabrien errichtete Bruno eine neue Einsiedelei, in der er 1101 starb. Er hinterließ ein geistiges Erbe, aber keine Ordensregel. Aber der fünfte Prior, Guigo, schrieb die Bräuche der Kartäuser nieder. Während seines Priorats entstanden außerdem sieben weitere Kartausen, weshalb er als »zweiter Gründer« des Ordens bezeichnet wird.
Seine Schrift wurde vom Papst 1133 approbiert und bildet bis heute die Grundlage der Statuten, die zuletzt im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils moderat erneuert wurden, unter Beibehaltung des schlichten eigenen Ritus. So mag die sprichwörtliche Feststellung eines Papstes – »cartusia nunquam reformata quia nunquam deformata« (»die Kartause wurde nie reformiert, weil sie nie deformiert war«) – im einzelnen zwar nicht mehr zutreffen, aufs Ganze gesehen nach über 900 Jahren Kartäusergeschichte jedoch noch immer.
Für die Historie des Ordens und dessen Haltung ist ein Wort des anonymen Verfassers des Standardwerkes La Grande Chartreuse charakteristisch: »Was waren die wichtigen Ereignisse, die eine neun Jahrhunderte währende Geschichte markierten? Die erste Feststellung lautet, daß es in Wirklichkeit nicht viel zu sagen gibt. […] Eine vollständig der Kontemplation Gottes geweihte Existenz hinterläßt kaum sichtbare Spuren in der Geschichte der Menschen«. Umgekehrt trifft dies allerdings nicht zu: Die Pest im 14. und die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert warfen ihren Schatten voraus; im 16. Jahrhundert erlebte der Orden zwar mit fast 200 Häusern seine größte Ausdehnung, aber auch die bisher größten Heimsuchungen: Reformation, Religionskriege, Türkensturm oder das Martyrium der Londoner Kartäuser, als diese sich weigerten, den englischen König als Oberhaupt der Kirche anzuerkennen.
Im 17. Jahrhundert nahm die Grande Chartreuse nach dem achten und letzten Brand ihre heutige Form an; im 18. Jahrhundert hob Kaiser Joseph II. alle Kartausen und zahlreiche weitere Klöster im Reich auf. Vor allem aber die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die Säkularisation gingen dem Orden beinahe ans Leben – er verlor fast drei Viertel seiner Häuser. Im 20. Jahrhundert schließlich dekretierte eine aggressiv kirchenfeindliche Gesetzgebung die Schließung aller Kartausen in Frankreich; und am 29. April 1903 – einem wahrhaft stolzen Tag der Französischen Republik – wurden die Pforten des Mutterhauses manu militari mit Axthieben eingeschlagen und die Mönche mit aufgepflanztem Bajonett vertrieben. Erst 1940 konnte die baufällig gewordene Grande Chartreuse wieder bezogen werden.
Deren Architektur entspringt wie die aller Kartausen der Suche nach dem »richtigen Verhältnis vom Individuum zur Gemeinschaft«. Dieser Gegensatz müsse sich auch »in der Architektur ›verleiblichen‹« (P. Jean Marie Hollenstein). Bisher standen hier der Eremitismus nach Antonius: das Sich-Verlieren des »Anachoreten« in der Wüste, und dort das Zönobitentum nach Benediktinerart: ein gemeinschaftlicher Rückzug aus der Welt in eine Art Klosterkaserne, Pate.
Als eine auch architektonisch neue, »halberemitische Zwischenform kann das lauriotische Mönchtum angesehen werden«, schreibt der Architekt und Klosterbauer Matthias Mulitzer über die Kartäuser und die ihnen nahe verwandten Kamaldulenser – »kennzeichnend ist die ›gebaute Einsamkeit‹«. Diese bildet eine Art Hierarchie der Stille: außen Pforte, Gästetrakt sowie Werkstätten und Wohngebäude der Brüdermönche – »vollwertige« Kartäuser, die jedoch stärker handwerklich orientiert sind und seit den Tagen des heiligen Bruno das Eremitenleben der Priestermönche überhaupt erst ermöglichen; dann für das gemeinsame Leben bestimmte Anlagen wie Kirche, Kapellen, Kapitelsaal, Refektorium und Bibliothek; schließlich der innerste Bereich mit dem für Kartäuserklöster typischen Kreuzgang, der die Häuschen der Priestermönche miteinander und mit der Kirche verbindet und in seiner Mitte den Friedhof aufnimmt.
Dort werden die Toten der Kartäuser beerdigt, mit heruntergezogener, zugenähter Kapuze, ohne Sarg auf einem Brett, und über den Gräbern namenlose Holzkreuze aufgerichtet. Exemplarisch für den Stil des Ordens – in der Architektur und insgesamt – ist eine Kapitelüberschrift aus den Vorgaben für den Bau der 1964 fertiggestellten Kartause Marienau im Allgäu: »Der Bau im allgemeinen – Genügsamkeit, Armut, Einfachheit, Lebenshärte«.
Wozu nun all die Härten und Entsagungen, die auf Außenstehende geradezu beklemmend wirken? Auf Spekulationen, gar psychologisierende, sind wir nicht angewiesen – unzählige Zeugnisse aus neun Jahrhunderten Kartäusertum bestätigen das in der Ordensregel Niedergelegte: »Hier erwartet uns Gott, denn man kann ein Gefäß nur füllen, wenn es leer ist, und Er will uns mit sich selbst erfüllen. Er muß uns erst von dem freimachen, was uns den Weg verstellt.« – »Unser Bemühen und unsere Berufung bestehen vornehmlich darin, im Schweigen und in der Einsamkeit Gott zu finden. Denn dort unterhalten sich der Herr und sein Diener häufig miteinander, wie jemand mit seinem Freund.«
So sind Entsagung und Einsamkeit nicht bloß zwangsläufige Begleiterscheinungen des Weges eines Kartäusers, sondern geradezu Voraussetzung für dessen Erfüllung. Das zeigt auch das Beispiel der »Offizialen«: Der Prior (jener des Mutterhauses ist zugleich Ordensgeneral mit dem Titel reverendus pater), der Vikar oder der Prokurator haben Leitungsaufgaben, die ihnen unvermeidlich gewisse Kontakte mit der Außenwelt und »Auflockerungen« gegenüber dem Alltag der »gewöhnlichen« Kartäuser einbringen. Und dennoch sehnen sich die Amtswalter nach der Einsamkeit ihrer Anfänge in der Zelle zurück.
Die noch bestehenden 21 Kartausen sind Antipoden zur lärmenden, materialistischen Welt unserer Tage. Ein durchaus wertschätzender Tourismus sucht sie deswegen verstärkt auf, beeinträchtigt dabei aber zwangsläufig deren so fundamentale Einsamkeit. Wer die Kartause zu schätzen weiß, sollte sich also von ihr fernhalten – und sich an ihrem Geist und dem Chartreuse-Likör laben, dessen Erlös heute ihren Bestand sichert.
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Quellen (Auswahl):
chartreux.org
Janez Hollenstein, Tomaz Lauko: Wo die Stille spricht, Kartause Pleterje 1986;
Philip Gröning: Die große Stille, Dokumentarfilm, 2005;
Matthias Mulitzer: Die Architektur der Kamaldulenser-Eremiten von Monte Corona in Europa, Wien 2014;
Karl Thor (Hrsg.): Einsamkeit und Schweigen als Wege zu Gott – Wirken und Botschaft der Kartäuser, Aggsbach-Dorf 1985;
Marijan Zadnikar, Adam Wienand (Hrsg.): Die Kartäuser. Orden der schweigenden Mönche, Köln 1983.