Luttwak kalkulierte dabei so: Für den Fall, daß sich nur fünf Prozent der ukrainischen Bevölkerung mobilisieren ließen, würden bei einer Bevölkerung von rund 30 Millionen anderthalb Millionen neue Soldaten herausspringen. Und er schloß:
Mit einer solchen Truppenstärke könnte die Ukraine ihre Schlachten gewinnen und ihr Territorium auf die altmodische Art und Weise befreien: in einem Zermürbungskrieg, so wie in den meisten europäischen Unabhängigkeitskriegen.
Das läuft praktisch auf die Mobilisierung eines letzten Aufgebots hinaus, wie wir es in Deutschland aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs kennen. Denn was Luttwak hier mit einer einfachen Prozentzahl — lediglich fünf Prozent, bloße fünf Prozent! — als leicht machbar und wünschenswert hinstellt, um die Ukraine wieder kampffähig zu machen, kippt bei näherem Hinsehen ins Unmöglich weg. Um das zu sehen, muß man kein Militärtheoretiker sein, es genügen einfacher Common sense und die Grundrechenarten. Versuchen wir es einmal damit.
Die Ukraine, so wissen wir, hat eine Bevölkerung von 30 Millionen. Bei einem Frauenanteil von, grob geschätzt, 50 Prozent, macht das 15 Millionen Männer. Davon sind — wenn sich westliche Durchschnittszahlen auf die Ukraine übertragen lassen — wahrscheinlich 30 Prozent unter 20 Jahren alt, kommen also als Soldaten nicht oder nur sehr bedingt in Frage, und 30 Prozent sind älter als 60 Jahre und sind als Soldaten zunächst auch einmal außen vor. Bleiben also von 15 Millionen Männern noch 40 Prozent, die als wehrfähig gelten können; das sind 6 Millionen.
Von diesen werden mindestens 10 Prozent nicht verwendungsfähig sein, und mindestens 10 Prozent werden sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entziehen. Bleiben, realistisch gesehen, nur noch rund 4,8 Millionen Männer übrig, die man in den Krieg schicken könnte. Das ist das Maximum, wenn man nicht mit Alten und Kranken und Kindern kämpfen will.
Nun sagt uns die Wikipedia, die ukrainischen Streitkräfte hätten 250.000 Mann aktiver Soldaten und 1.000.000 Reservisten (das waren die Angaben zu Kriegsbeginn). Das ist in der Summe ein Viertel der oben genannten 4,8 Millionen, die sich überhaupt mobilisieren und mit einer Waffe an die Front stellen ließen.
Warum nur ein Viertel? Weil die anderen Dreiviertel Männer im besten Alter sind und anderswo ebenso benötigt werden wie an der Front: für den Betrieb der Kraftwerke, den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur, die Verwaltung, die Krankenhäuser, die Schulen. Und weil ein kämpfendes Heer immer einen erheblich größeren Troß von Nichtkämpfenden braucht, die die Bewegung des Heeres organisieren und seine Versorgung sicherstellen.
Kurzum: 4,8 Millionen Mann an der Front sind ein Ding der Unmöglichkeit, und die Wahrheit wird darin liegen, daß die Ukraine für den Krieg zwischen 1,25 Millionen Männer (jetzige Aktive plus Reservisten) und 2,5 Millionen Mann (die Hälfte der überhaupt Mobilisierbaren) zur Verfügung haben wird.
Luttwaks Zahlen liegen also durchaus im Bereich des Möglichen. Aber es ist ein Mögliches, das an der Grenze des Möglichen liegt und unmerklich ins Unmögliche übergeht oder bereits übergegangen ist. Denn was Luttwak verschweigt, ist die Anzahl der bereits jetzt gefallenen ukrainischen Männer, über die es natürlich nur Schätzungen gibt, denn beide Seiten, die russische und die ukrainische, haben ein Interesse daran, daß diese Zahlen nicht öffentlich werden.
Es gibt jedenfalls Meldungen, in denen von 400.000 gefallenen Ukrainern die Rede ist. Sollte das stimmen, würden die Verluste jetzt schon die Anzahl der zu Kriegsbeginn verfügbaren Soldaten übersteigen. Und nimmt man die Maximalmobilisierungsmenge von 2,5 Millionen Mann, dann sind davon jetzt bereits fast 20 Prozent tot oder durch Verletzung kampfunfähig. Einsatzfähig sind auf ukrainischer Seite also nur noch zwischen 800.000 und maximal 2 Millionen Mann.
Wer an dieser Stelle rasch in der Wikipedia nachschaut, um sich darüber zu informieren, wieviele Soldaten Rußland hat und als Maximum mobilisieren kann — nämlich 1 Mio Aktive plus 2 Mio Reservisten plus 2–5 Millionen weitere Wehrfähige —, der wird zu dem Schluß kommen müssen, daß die Ukraine keine Chance hat, diese Krieg zu gewinnen. Sie ist faktisch ausgeblutet oder steht kurz vor der Ausblutung.
Wäre es um die Kampfmoral der Ukrainer wirklich so gut bestellt, wie die Propagandamedien uns einreden wollen, müßte Selenski nicht damit drohen, daß die Ausmusterungen, die es seit Kriegsbeginn gegeben hat, alle noch einmal überprüft werden sollen. Und neuerdings bittet man auf ukrainischer Seite sogar darum, die fahnenflüchtigen Ukrainer auszuliefern. Das macht man nur, wenn einem die regulär zur Verfügung stehenden Männer ausgehen bzw. bereits ausgegangen sind.
Artabanus
Die Frage ist wofür diese Männer überhaupt kämpfen und ihr Leben opfern sollen. Damit in Donezk Ukrainisch zur Pflichtsprache wird? Weit über die Hälfte der Ukrainer haben Russisch als Muttersprache. Es ist daher klar dass außer einem kleinen Prozentsatz Fanatiker niemand freiwillig dort kämpfen möchte. Der Krieg ist bereits jetzt nur noch durch brutalste Repressionsmassnahmen aufrecht zu erhalten. Die Menschen wollen Frieden, die Politiker und Journalisten wollen Krieg.