Die Schmetterlingstheorie wird bis heute als Begründung für zwei einander entgegengesetzte Verhaltensmöglichkeiten herangezogen. Beide Ansätze blenden aus, daß Lorenz mit seinem Modell vor allem auf chaotische, also kaum oder überhaupt nicht vorhersagbare und somit nicht steuerbare Abläufe hinwies. Es geht letztlich um die Unauffindbarkeit des Schmetterlings und die damit verbundene Unmöglichkeit, ihn an dem einen, entscheidenden Flügelschlag zu hindern oder eine kompensierende und ebenso hauchfeine Bewegung auszuführen.
Man hätte diesen Befund zum Anlaß nehmen müssen, die Unauflösbarkeit der Schöpfungsformel staunend hinzunehmen und sie auf die Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen zu übertragen. Aber das entspricht leider nicht dem für unsere Epoche charakteristischen Furor des Machens und seinem Weggefährten: der Ängstlichkeit, die in der bis ins Detail abgesicherten Welt aus einem damit einhergehenden Mangel an Abfederungsbereitschaft und Robustheit rührt.
(Ein kurzer Einschub, ein literarischer Hinweis: Stefan Zweigs unbedingt empfehlenswerte Sammlung historischer Sternstunden der Menschheit beschreibt anhand einer Schmetterlingstheorie avant la lettre, wie in entscheidenden weltgeschichtlichen Situationen ein einzelner Mensch das Zünglein an der Waage sein und dem Verlauf eine entscheidende Wendung geben könne.
Die Annahme, daß nichts einfach ablaufe, sondern daß es dieser oder jener Mensch zur rechten Zeit am rechten Ort sei, dessen Eingriff in seiner ganzen Tragweite erst im Nachhinein sichtbar würde, ist zugleich ein Lobpreis der Tatkraft und ihre Überschätzung. Es ist: einen Schneeball in einen rutschenden Hang werfen und ihn zum Auslöser der Lawine erklären – literarisch natürlich ungemein ergiebig.)
Zurück zu dem, was das machenschaftsbesessene Zeitalter aus der Schmetterlingstheorie in die Praxis übertragen zu müssen meint: Der eine Ansatz leitet aus den vermeintlichen Verwerfungen aufgrund kleinster Regungen eine grundsätzliche Skepsis allem Handeln gegenüber ab.
Diese Skepsis fußt auf der Überzeugung, daß komplexe Systeme hochsensibel reagierten und durch Eingriffe unwiederbringlich aus dem Gleichgewicht geworfen werden könnten. Der Wald, das Meer, die Aue, aber auch die Persönlichkeit, das Gemeinwesen, die Partnerschaft seien nicht robust, sondern auf Federwaagen ausbalanciert. Hinter dieser Annahme steckt eine Ängstlichkeit, die nur aus einem Mangel an handfester Erfahrung rühren kann.
Auch die andere Handlungsableitung geht von feinsten Wirkungszusammenhängen aus. Sie versucht sich seit Jahrzehnten an Vorhersagemodellen und simuliert mit immer größeren Datenmengen Verläufe und Veränderungen über Kippunkte hinaus. Diese hochkomplexen Modelle waren und sind dabei stets reduziert auf handhabbare Parameter: Nicht jeder Flügelschlag kann einbezogen werden.
Jeder von uns kennt Animationen, auf denen zu sehen ist, wie nach dem Anstieg der Erderwärmung die Polkappen abschmelzen und der Meeresspiegel ansteigt – oder gerade umgekehrt: Denn niemand kann wissen, ob nicht der Eintrag wärmerer Luft in den Norden ganz andere Auswirkungen zeitigte, wenn etwa Meeresströmungen sich veränderten und Landbarrieren überspült würden.
Erst im Nachhinein wird sich die Prognose vom Untergang der Welt, von Verwüstung entlang bestimmten Breitengraden als richtig oder panisch erwiesen haben. Aber mit dieser Vagheit mag man dort nicht leben, wo man ans Machen gewohnt, ins Machen verliebt ist – in den Umbau, den Reset.
Der bescheidene und naheliegende Vorschlag, aus der Schmetterlingstheorie eine skeptische und konservative Verhaltenslehre abzuleiten, hat gegenüber dem Furor des Eingreifens stets das Nachsehen. Vieles bliebe einfach beim alten, weil bewährt und im Grunde unergründbar gut gefügt und geordnet.
Aus dem Unmut über dieses Bewährte und seine Unerklärlichkeit rührt der Gewaltakt, die eben nicht nach dem Binärcode gebaute Welt in ihrer Komplexität auf erfaßbare Daten zu reduzieren und sie berechenbar zu machen.
Wenn sich die Schule der großen Ängstlichkeit durchgesetzt hätte, lebten wir in einem empfindsamen, sozusagen femininen Zeitalter, in einem, das Blüten triebe, aber harmlose, rührende, sanfte. Die Politik, die aus diesem Geiste gemacht würde, wäre eine des »Unterlassens«.
Aber es hat sich die katastrophische Berechnung des zukünftigen Weltverlaufs durchgesetzt, und diese Berechnung beruht auf der Annahme, daß die Menschheit nicht nur für ein aus seiner Balance kippendes Klima verantwortlich sei, sondern durch Verhaltensänderungen diesen gigantischen Komplex zurückpendeln lassen könne.
Das Mittel der Wahl, das den an Erwärmungsstufen festgemachten Untergang aufhalten soll, ist dabei so einfallslos wie naheliegend: Es ist eine panisch aufgeladene Technokratie, die indes nicht so genannt wird, sondern als »Transformation« eine weichere Bezeichnung bekommen hat. Aber dieser Begriff ist – wie stets, wenn brutal und unter falschen Voraussetzungen eingegriffen wird – eine Verschleierung:
Die Transformation der Weltgesellschaft ist ein Baukasten aus Verboten, erzwungenem Verzicht, grünem Konsum, »nachhaltigem« Kapitalismus und weit in die Zukunft geworfener Steuerung des Verhaltens von Milliarden bei gleichzeitiger Privilegierung der Macher selbst.
Wer nach einer theoretischen Begründung für diese Anmaßung sucht, wird unter anderem bei Philipp Lepenies fündig. Lepenies lehrt an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaften. Sein Buch Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens ist dicht, selbstbewußt und lehrreich. Lepenies hat es für die grüne Technokratie geschrieben und will sie legitimieren, weil nur sie die Erderwärmung aufhalten könne.
Wir lesen Lepenies trotz seiner falschen Annahmen, weil er in seinem Buch den Finger in eine Wunde legt, die sich die Rechte selbst schlug, als der Staat im Rahmen der Corona-Jahre zu Maßnahmen des Verbots und Verzichts griff.
Diese Maßnahmen waren in keiner Weise gerechtfertigt, denn nach wenigen Monaten war klar, daß es sich nicht um ein wahllos tötendes Virus, sondern um eine Erkrankung handelte, vor der sich dieselben Risikogruppen in Acht nehmen mußten, die sich vor jeder Grippe in Acht zu nehmen haben. Daß der Staat sie dennoch erließ, führte in den Widerstandsmilieus zu einem epidemischen Akzeptanzverlust staatlicher Verordnung und staatlichen Durchgriffs an sich. Dem Staat verlorengehen – das ist zu einer Formel geworden, von der vor zehn Jahren niemand gedacht hätte, daß sie einmal von rechts aufgegriffen würde.
Lepenies, der die Maßnahmen rechtfertigt, verweist in seinem Buch zu Recht darauf, daß in diesem Zusammenhang das Wort »Freiheit« zur heiligen Kuh des Widerstands erhoben worden und die Haltung, sich grundsätzlich nichts sagen zu lassen und Autorität nicht mehr zu akzeptieren, von links nach rechts geradezu übergesprungen sei.
Martin Lichtmesz hat das aus diesem notwendigen Vorgang erwachsende Dilemma der Rechten mit den Begriffen lage‑, notfall- und situationslibertär beschrieben: Massenhaft seien Leute vom Staat abgerückt, in deren politischer DNS eigentlich das Vertrauen auf Institutionen, Staatsautorität und Maßnahmengehorsam zum Wohle aller eingeschrieben war. Dem fahrlässigen emanzipatorischen Gefasel sei mit reifer Begründung immer und immer wieder das Ernstfall- und Staatsdenken entgegengehalten worden.
Lichtmesz und andere versuchen, das Unterfangen von rechts, den Gehorsam zu verweigern, auf Situationen und Lagen einzugrenzen, in denen Gehorsam nicht nur keine Ehre bringe, sondern die Formierung der Gesellschaft in eine falsche Richtung zur Folge habe. Das war im Zuge der Corona-Maßnahmen deutlicher zu sehen als je in den Jahrzehnten zuvor. Aber die Gefahr lauert in der Verführbarkeit durch den Freiheitsbegriff an sich. Er hat nicht ohne Grund eine Karriere als beispielhafter und unfaßbar erfolgreicher linker Kampfbegriff hinter sich.
Sich als Rechter, als Widerständiger, vom links erbeuteten Staat grundsätzlich zu emanzipieren und sich in jeder politischen Lage nun auf eine Autonomie in Sachen Beteiligung oder Abstand zu berufen, ist verführerisch und bequem – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die politische Opposition gegen die herrschende Politik. Und so pocht das alternative Potential auf seine gegen die Klimareligion gerichtete Konsumautonomie des mündigen Bürgers. Denn nichts ist derzeit einfacher, als die Gegnerschaft zur grünen Transformationspolitik mit dem Verweis auf das vermeintlich gute Recht des Einzelnen auf freie Entscheidung in Fragen Heizung, Zapfsäule, Flugreise und Billigschnitzel populistisch aufzuladen:
»Ich darf alles« ist zur Widerstandsbotschaft geworden.
Aber diese Botschaft ist zu billig, und sie ist eine Falle. Daß sich die Rechte damit nämlich in die Fänge einer Marktlogik begibt, die dem Neoliberalismus alles, dem Staat fast nichts zutraut, gerät als Argument ins Hintertreffen. Lepenies argumentiert stark, wo er die Verlogenheit des Geredes vom »freien Markt« aufdeckt: Er verweist auf die Selbstüberschätzung des Einzelnen, der sich als vernünftigen Marktteilnehmer begreift und die Fesselung und Außensteuerung durch Mechanismen wie Bedarfsweckung, Markt- und Meinungsmacht, Mode, Konsumlenkung und Verfallsprodukt ignoriert.
Eine Rechte, die dem grünen Transformationsfuror das Konsum-Ich entgegenstellt, zerstört ihre eigene Substanz und gibt ihren Gestaltungsanspruch auf. Was nämlich an politischem Gegenbild zu Verzicht und Verbot und rettender Disziplin übrigbleibt, ist genau das, was der überhaupt nicht und nie jemals »freie« Markt will: daß nämlich, wie Lepenies es ausdrückt, »der Konsum zum dominanten identitätsstiftenden Merkmal der Individuen postmoderner Gesellschaften geworden ist«.
Das ist kein rechtes Programm, das über den Tag hinausreichte. Es ist ein gefährlicher situationslibertärer Zwischenschritt.
Maximilian Krah, Europa-Abgeordneter für die AfD, weist derzeit auf zwei Besonderheiten seiner Partei hin. Diese Merkmale, so Krah, machten aus der AfD ein europaweit einzigartiges und dadurch sehr interessantes rechtes Parteienprojekt. Zum einen habe die AfD im Gegensatz zu allen anderen Rechtsparteien in Europa ihre Stabilisierung und ihren Ausgriff auf über zwanzig Prozent der Wähler nicht durch eine Bewegung in Richtung liberalkonservativer Mitte erreicht. Vielmehr sei sie so erfolgreich aufgrund der unausgesetzt gesendeten Botschaft, es handele sich bei ihr tatsächlich um eine grundsätzliche Alternative.
Glaubwürdig vermittelt worden sei diese Bewegungsrichtung, weil die AfD durch dreimalige Häutung ihre Abwehrbereitschaft gegen ein Einschwenken in liberalkonservative Bahnen unter Beweis gestellt habe – wobei die zweite Häutung (jene, die Frauke Petrys Netzwerk abstreifte) die riskanteste gewesen sei.
Zweitens: Mit diesem Anspruch stelle die AfD nicht nur ihre Mitglieder, sondern bereits ihre Wähler vor eine grundsätzliche Entscheidung, die einem Bekenntnis gleichkomme. Es gehe nicht (wie beim Wechsel von einer Altpartei zur anderen) um ein Sowohl-als-auch, sondern um ein Entweder-oder. Krah ist überzeugt davon, daß dieser Bekenntnisschritt ein Schritt in die Freiheit aus den Verblendungszusammenhängen der sehr geschickt aufgestellten und mit Schreckenserzählungen bewehrten BRD-Matrix sei.
Indes: Das Problem solcher individueller Selbstermächtigung liegt zutage. Sie ist der notwendige erste Schritt, aber auf diesen Befreiungsschritt und das euphorisierende Freiheitsgefühl muß die Selbsteinpassung in die rechte Politik- und Lebensalternative erfolgen. Diese Alternative ist zweifellos nahe dran am »normalen« Leben, aber sie ist keine Kutschfahrt ohne Kutscher. Individuelle Freiheit ist kein ausreichendes Gegenprogramm, ist keine starke Alternative zum Steuerungswahn und zur Transformationskraft linksgrüner Politik.
Die rechte Politik- und Lebensalternative hat einen deutlich größeren und schwierigeren Auftrag als die Ermöglichung von Konsum- und Verhaltensautonomie. Ihr Programm ist die Rekonstruktion des Gemeinwesens und der deutschen Nation und ihres Sonderwegs in der Mitte Europas, der insofern ein sonderbarer Weg war und wieder wäre, weil er überall dort, wo er gebahnt ist, sich absonderte vom bloßen Hinnehmen und Wuchern auf der einen und vom gehör- und geistlosen Machen und Planieren auf der anderen Seite und etwas anderes, drittes, dazwischenliegendes zeigte.
Eine solche Rekonstruktion muß sich im Gegensatz zu linksgrünen Entwürfen nicht aufwendig rechtfertigen. Sie ist robust, weil sie die Aussage der Schmetterlingstheorie so begreift, wie ihr Erfinder sie verstanden wissen wollte: als Warnung davor, Ursache und Wirkung des komplexen Systems »Leben« bis ins Detail ergründen und vor allem regulieren zu wollen.
Das rechte Vorhaben ist stets an die Robustheit und den chaotischen Verlauf des Lebens und seine unergründliche und nicht konstruierbare Vielfalt angelehnt. Es ist Rahmensetzung und Wachsenlassen und in diesem Sinne stets »organische Konstruktion«. Es ist keinesfalls Politik aus dem Geiste des Unterlassens, keine Politik eines Nachtwächterstaats und keine, die den Bürger wahlweise als mündig über- und als Masse unterschätzt.
Aus der Sicht der Gegner ist solche Politik im Gegensatz zur eigenen, zur linken Transformation, eine Anmaßung mit katastrophalen Folgen. Aber unsere Gegner irren sich – wieder einmal. Anmaßend und katastrophal ist ihre eigene Politik. Nichts paßt zusammen, Sprachsensibilität und vegane Panik gehen einher mit Massenmigration und wokem Konsumrausch, und wer für seine E‑Mobilität den Kongo Kobalt schürfen läßt, ist blind oder zynisch.
Rechte Politik hingegen ist ein lebensdienliches Vorhaben. Sie zielt auf eine Gestalt, die als Ergebnis jahrhundertelanger Erziehung herausgemeißelt wurde und die es abgedrängt noch immer gibt. Lepenies umreißt diese Gestalt in seinem Buch, aber er kann mit ihr nichts anfangen. Kennzeichen seien, so schreibt er, ein »Sich-selbst-Zivilisieren und der geschliffene, vernünftige Umgang miteinander, der aus Verzicht bestand – aus dem Verzicht auf Affekte und Konsum«.
Verzicht – eine rechte Grundvokabel. Rechte Politik bedeutet: einer robusten Gestalt Platz zu verschaffen, die sich dort nicht alles bieten läßt, wo es um die Substanz geht. Gelingt diese Formung, prägt sie das Bild, dann kann es zu einem fulminanten und gedeihlichen Wechselspiel zwischen Staat und Einzelnem, zwischen Rahmen und Maler, zwischen großer Erzählung und Vertrauen kommen.
Staat und Bürger sind robust und belastbar. Die Fähigkeit der Deutschen zur Resilienz, also zur Anpassung auch an schwierigste Lagen, ist sprichwörtlich, und den Flügelschlag eines Schmetterlings wahrnehmen zu können, bedeutet nicht, seine Wirkung zu überschätzen.
Dort liegt der Unterschied, der so wesentliche Unterschied zwischen Ängstlichkeit und Achtsamkeit und der zwischen robustem und stumpfem Leben.
Mitleser2
"Eine Rechte, die dem grünen Transformationsfuror das Konsum-Ich entgegenstellt, zerstört ihre eigene Substanz und gibt ihren Gestaltungsanspruch auf."
Welche Rechte (oder welcher relevante Teil davon) verkörpert denn diesen Widerspruch? Scheint mir etwas weit hergeholt.