Mündigkeit geht auf das althochdeutsche „Munt“ zurück, das für Herrschaft, Fürsorge, äußere Haftung und Schutz steht und so dem germanischen Hausherrn gegenüber Familie und Gesinde zukam; philosophisch jedoch ist der Begriff längst vom emanzipatorischen Denken überzeichnet.
Kant wird zwar kaum gelesen, aber jeder kennt dessen verlockende Definition: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Man hört solch Kompliment gern. Der Mensch sei also endlich zum bewußten Sein befreit, mehr noch, es liege in jedem Individuum die Befähigung, diesen Schritt immer wieder autonom zu vollziehen.
Mehr denn ja dürfte heute Urteilsvermögen vonnöten sein, um gängige Zuschreibungen und performative Sprechakte von Marketing bis Politik kritisch prüfen. Bevor das aber möglich ist, sollte man sich in seiner eigenen Position orten können, um von dort aus bewußt und aktiv zu handeln. Ein hoher Anspruch – gleichermaßen an den Verstand wie an die Courage. – „Sapere aude.“
Mündig ist, wer für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet […]. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun mal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen ‚krino’, Entscheiden, herrührt.
So erklärte es Adorno. Aufklärung folglich als Fähigkeit zum nachdenklichen Widerstehen. Aber für sich selbst vermag nun mal nicht jeder zu sprechen, ebensowenig wie jeder aus sich selbst denkt. Die hier aufgerufene Urteilskraft entwickelt sich nicht von selbst und ist nicht einfach wie ein Betriebssystem zu starten.
Daher wollte die Aufklärung zur Reife erziehen, die Persönlichkeit also bilden. Aber genau dieser Bildungsanspruch ist ebenso verloren gegangen wie das einst aparte „Reife-Zeugnis“ vom gängigen „Abi“ abgelöst wurde. Man darf annehmen, daß den hohen aufklärerischen Ansprüchen weder die Mehrheit einer Gesellschaft genügen will noch überhaupt genügen kann. Oder auch nur genügen soll. Bloßes Meinen reicht längst aus, Wissen ist nicht erfordert.
In den Schulen, insbesondere in der politischen Bildung oder eher schon ideologischen Ausbildung, geht es längst wieder eher um das artig nachzusprechende Bekenntnis als um selbständig errungene Erkenntnis. Überhaupt führen grünlinke Bildungsreformen, wie sie hier vorgestellt werden, eben nicht zu soliden Kenntnissen und Fähigkeiten der Heranwachsenden, sondern lassen sie noch beschleunigter degenerieren. Nach jedem desaströsen Test, nach jeder deprimierenden Bildungsstudie forciert linke Schulpolitik genau jene Maßnahmen, die ins Desaster führten.
Die Schulpolitik selbst bedingt derzeit den wachsenden kognitiven und sprachlichen Kretinismus.
Wer heute intellektuell widerständig im Sinne Adornos auftritt, gilt dem herrschenden Bündnis aus Politik und Medien schnell als Populist. Und ein Populist ist nach aktueller Sprachregelung grundsätzlich ja Rechtspopulist. Was für eine Verkehrung von Grundbegriffen einer ehemals eher links inspirierten Philosophie!
Wenn es aber an qualifizierter Mündigkeit zum einen aus Gründen neuer staatlicher Vormundschaftlichkeit, zum anderen infolge eines dysfunktionalen Bildungssystems fehlt, wie ist es dann um die Demokratie als politischer Ausdrucksform der Aufklärung bestellt?
Zunächst einfach geantwortet: Die Demokratie funktioniert ja. Unter bestimmten Umständen und Gewährleistungen. Brechen die weg, droht revolutionäre Gefahr. Die Geschichts‑, Staats- und politische Philosophie helfen hier weniger weiter als die praktische Ethik. Indem Demokratien in Entscheidungsprozessen einfach der Mehrheiten bedürfen, sind sie Politik gewordener Utilitarismus, orientieren sich also daran, was eine absolute oder relative Mehrheit gegebenenfalls unterstützt, weil sie davon ausgeht, daß es ihr nützt.
Mehrheitsentscheidungen galten nach dem Ende des Gottesgnadentums kurzschlüssig als vernünftig kluge, als gute, mindestens als gerechte Entscheidungen. Moderne Demokratien folgen dem „hedonistischen Kalkül“ Jeremy Benthams, schränken dies allenfalls durch Grundgesetzlichkeiten im Sinne eines qualitativer argumentierenden Regelutilitarismus, also nach prinzipiellen, vermeintlich universell geltenden Werteskalen ein, damit Grundlagen von Recht und Moral gewahrt bleiben.
Folgerichtig schreiben sich die angloamerikanischen Ansätze des Utilitarismus bis zu John Rawls’ egalitärem Liberalismus fort, erweitert um kantianische Bestandteile deontologischer Ethik, die unter anderem den schwierig problematischen Begriff der Würde und der „unveräußerlichen Menschenrechte“ betreffen.
Unsere staatlichen Deutungsbehörden vermitteln, Demokratie entspringe als Ergebnis einer geschichtlichen oder biographischen Weltbürger-Reifung quasi evolutionär-weltgeistlich einer „Idee des Demokratischen“, ähnlich der platonischen Idee des Guten. Hier erweist sich die Verbundenheit der Aufklärung mit dem deutschen Idealismus von Kant bis Hegel als Problem.
Diese Namen aufzurufen – beide übrigens alles andere als „lupenreine“ Demokraten – gilt als ausreichender Autoritätsbeweis für die Gutheißung des Demokratischen in gegenwärtiger Gestalt. In ähnlicher Weise muß Kants Altersschrift „Zum ewigen Frieden“ als Legitimierung für die EU oder gar eine „Weltregierung“ herhalten.
Die immer mal beschworenen Gefahren für die Demokratie gehen weniger von nachdenklichen Opponenten aus, die ja für einen kritische Falsifikation sorgen, sondern viel eher von der bequemer Pauschalität, mit der sie zur besten aller möglichen Welten erhoben wird, und zwar meistens voraussetzungslos, also per se. Gern verbunden mit der autoritären Abkanzelei: Wer nicht absolut dafür ist, hätte mindestens nichts aus der Geschichte gelernt. Da ist er wieder, der Erziehungsgedanke.
Da aus der Geschichte aber alles Mögliche zu lernen wäre, bleibt zu fragen, weshalb die Demokratie beeindruckende Erfolge vorweist, die meist an der Dauer ihres Funktionierens gemessen werden. Seit Goethes „Amerika, du hast es besser“ und Alexis de Tocquevilles‘ „De la démocratie en Amérique“ halten vor allem die USA als das schlagender Beispiel dafür her, ungeachtet ihrer Verbrechen nach innen und außen.
Dergleichen Irrläufer, heißt es, würden schon verläßlich durch Gewaltenteilung und politischen Wechsel geregelt. Früher oder später. Das wäre ja gerade der Beweis für den faszinierenden Vorzug der Demokratie. So ruft die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Website Churchills Aphorismus auf, die Demokratie wäre die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von all den anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden seien.
Ließe sich eine treffendere Bezeichnung für demokratische Gesellschaften finden, eine, die den pragmatischen Hintergrund genauer aufzeigte? Vorgeschlagen sei der Begriff der oralen Gesellschaft. Er vermag ein Gemeinwesen zu bezeichnen, dem es gelingt, die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder versorgend zufriedenzustellen, und zwar deren physisch-physiologische wie ideelle Bedürfnisse.
Seitdem der Citoyen erst durch den Bourgeois und dann durch den Verbraucher abgelöst wurde, kennzeichnet die Politik mehr als aktive Äußerung die passive Aufnahme, mithin der gesicherte Konsum. Eigentlich eine Plattitüde, kommt doch, mit Brechts „Dreigroschenoper“, das Fressen nun mal vor der Moral.
Mit DDR-Wende und der deutschen Grenzöffnung etwa suchten die in den Westen drängenden und den Westen herbeirufenden DDR-Bürger zwar in Minderheiten – wie Joachim Gauck und Gefährten – wohl schon die „Freiheit“ im Sinne verbriefter Grundrechte, in der Mehrheit aber – entgegen gängiger Legendenbildung – die D‑Mark, die überbordenden Supermärkte, die Vielfalt des Medien- und Entertainmentangebots.
Wohlstand statt Sozialismus! DDR-Bürger als Boat-People ohne Boot, erst die West-Botschaften in Prag und Warschau als eine Art Flüchtlings-Lampedusa nutzend, dann risikofrei per Beitrittsklausel auf dem Weg aus der Ideologie ins verheißene Schlaraffenland der Marktwirtschaft.
Abseits aller Heroisierungen besteht der demokratische Konsens in der Sicherstellung von Lebens- und Luxusbedürfnissen – um den Preis problematischen Ressourcenverschleißes und zunehmender Sinnentleerung. Die Ablösung der Diktatur des ideologisch aufgerüsteten Mangels durch den Pluralismus des totalen Konsums.
Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden.
Meinte Marx. In der Zusicherung dieser Freiheit erkennt er das Anliegen der Menschenrechte, die Verfügungsgewalt des Egoisten zu garantieren.
Solange demokratische Gesellschaften durch den liberalisierten Markt regulativ in der Lage sind, Bedürfnisse immer neu zu wecken und zu bedienen, existieren sie weiter, wenn es gelingt, die „Verlierer“ und „Abgehängten“ eines sozial selektiven Prozesses ausreichend zu alimentieren.
Selbst dem Ärmsten fällt ins Auge, was er kaufen könnte, wenn er die dazu nötigen Erwerbsmittel hätte oder doch noch irgendwie, beispielsweise kriminell, dazu käme. Man tanzt weiterhin motiviert um das goldene Kalb, nur eben weiter hinten, auf den billigen Plätzen, von wo aus kaum noch ein goldener Schimmer wahrnehmbar ist. Aber die anderen melden von vorn durch, der Fetisch wäre schon noch da, alles ginge glücklicherweise weiter.
Die uns invasiv heimsuchenden Flüchtlinge handeln nicht anders: Sie wollen gleichfalls den großen Profishopper-Einkaufswagen durch den Super-Markt schieben. Folgerichtig, daß das utilitaristische Prinzip der Demokratie nun darauf zu reagieren beginnt: Immer mehr wenden sich gegen die Einwanderung in die Sozial- bzw. Versorgungssysteme.
Eine Gesellschaft funktioniert, solange es ihr gelingt, Supermarktregale und Autohäuser zu füllen. Wenn eine Unzahl an Unterhaltungsmöglichkeiten jeden Geschmack, selbst den abseitigsten und abartigsten, zu bedienen vermag, hat jedes individuelle Bewußtsein noch etwas abzubilden und zu verarbeiten.
Über allem erhebt sich derzeit ein Überbau, der mit woken Diskriminierungsverboten, Gleichstellungsphrasen und allerlei Trost- und Hoffnungsgedöns genau die Emanzipation von all und jedem suggeriert, die es sozial nicht gibt und hoffentlich nie geben wird.
Die orale Gesellschaft ist eine der Aufnahme, der Verdauung, der Rezeption, mithin der Genuß- und Ruhebedürfnisse. Sie ruft immerfort nach mehr „Teilhabe“! Die gerade noch leistungsfähige Wirtschaft, deren schwindende Zahl echter Leistungsträger unter immer mehr Abgabenlasten ächzt, finanziert über ein staatliches Regulierungssystem auf der Basis von Höchstbesteuerung die explodierende Zahl der Transferempfänger, Bürger- und Wohngeldler sowie Millionen komfortabel geatzter „Zuwanderer“.
So entwickelt sich eine Art Binnen-Sozialismus innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems und wird darin die Sollbruchstelle, über die es, so scheint’s, irgendwann zum Crash kommen wird.
Der seltsame politische Kompromiß zwischen den linksgrün-woken Gut- und den liberalen Tatsachenmenschen macht alternative Sinngebungen schwer, begonnen bei einfacher Selbstreflexion und damit der Idee vom eigenen Selbst und vom genauen Standort.
Der politisch folgsamen Gesellschaft der Versorgten und der Übersättigten ist Bewegung, gar Veränderung physisch wie intellektuell ein Graus. Es soll bitte zugereicht und serviert werden. Anstrengungsfrei, ohne die Last der Eigenverantwortung. Verantwortung abzunehmen, dazu sind linke Propagandisten nur allzu gern bereit. Ihre Botschaft: „Wir nehmen für euch Geld in die Hand. Ihr habt Bedarfe, also stellen wir euch zufrieden; ihr verspürt Nachteile, wir sind eure Nachteilsausgleicher.“
Das bedingt den auffallenden Kretinismus, sichtbar u. a. über Adipositas, erlebbar am signifikanten Unvermögen zur Eigenverantwortung und fitten Leistungsbereitschaft. Weil immer mehr immer weniger aushalten, werden Schule, Ausbildung, Lehre und Studium vielfach abgebrochen. Mag sein, deshalb holen deutsche Leichtathleten auch keine Medaillen mehr. Anforderungen, die Härten erfordern, gelten aktuell durchweg als unzumutbar und diskriminierend.
Laut Mikrozensus befinden sich in Deutschland über 600.000 der 18- bis 24-Jährigen weder in der Schule oder in einem Arbeitsverhältnis noch in der Berufsausbildung. Wo sie nun sind und was sie tun, weiß niemand so genau, aber versorgt werden sie.
Man kann die latent passive Oralität der Demokratie gutheißen, aber man sollte sie darum nicht als höchsten Reifegrad alles Menschlichen und Geschichtlichen verklären. Die Demokratie wird nicht das letzte Wort der Welt- oder auch nur der europäischen Geschichte sein.
Der klassische Faschismus sollte auch in diesem Zusammenhang nicht nur interpretiert werden als das, was er wurde, sondern von seinen Ursachen her erkannt werden als ein Korrektiv, an dem insbesondere interessant ist, was es korrigieren wollte.
Wovor wir offiziell gewarnt werden, das erscheint gegenwärtig dringend nötig, nämlich: einfache Antworten auf komplexe Problemfragen zu finden. Vorzugsweise in der Migrations‑, also Überfremdungspolitik, die als Antwort auf den Fachkräftemangel angesehen wird, der wiederum mehr als von der Demografie vom versagenden Bildungssystem verursacht wird, das seinerseits einer linksgrün verzerrten Anthropologie folgt.
Zauberer von Oz
Der Michel war in der Geschichte, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, noch nie mündig. Woher soll der Widerstand für die Demokratie kommen? Es ist kein Widerstand gegen die Demokratie (wie uns manche Medien glaubhaft machen wollen).