Als ich 1990 als junger Lehrer in Schwerin begann, trat ich mit anderen neuen Kollegen zu einem Vortrag beim gleichfalls neuen Schulrat an, dem ersten »demokratischen« nach Wende und Wiedervereinigung. Auf Herzlichkeit, gar Ermutigung war damals nicht zu hoffen.
Im Gegenteil: Wir Absolventen der DDR‑, also Ostuniversitäten wurden barsch belehrt, daß unsere Abschlüsse jetzt selbstverständlich fragwürdig seien und wir ja selbst wüßten, mit welcher ideologischen Indoktrinierung wir aufgewachsen seien und studiert hätten. Von einer sicheren Perspektive als Lehrer, das hätten wir einzusehen, könne nicht die Rede sein.
Gut, wir sollten nun zwar zunächst zu arbeiten beginnen, aber man müsse sehen, was mit uns ginge und was nicht. Mit Überprüfungen sei zu rechnen, man würde nicht jeden von uns künftig beschäftigen können. Der Fehler liege bei uns selbst; wir hätten doch besser an den Universitäten bleiben und einen vollwertigen Abschluß nach Westrecht anstreben sollen, statt uns mit dubiosen Zeugnissen in den Beruf zu drängeln.
Eine altlastige Indoktrinierung wurde uns Ex-DDRlern also unverblümt unterstellt; und über diese »Gesinnung« wird seither öffentlich geurteilt – pauschal insgesamt oder gegenüber einzelnen Protagonisten wie etwa Uwe Tellkamp, der allein schon wegen seiner kritischen Bemerkung über Migranten keine Westprüfung mehr bestehen könnte, persönlich nicht, als Autor schon gar nicht.
Westrecht, dachte ich 1990, na klar; der Westen hat gewonnen, also jetzt gefälligst nach den Siegern der Geschichte richten. Was immer uns mal Heimat gewesen sein mochte, wir hatten sie verloren. Jeder Mensch sucht zuerst Sicherheit, noch bevor er vielleicht so etwas wie Freiheit oder Demokratie findet. Unsere Sicherheit war dahin; wir waren Beitrittsgebietler, Ossis eben. Wir hatten uns dankbar darüber zu freuen, daß die DDR untergegangen war und uns die Bundesrepublik aufnahm, gewissermaßen als Asylanten aus einer zwar gleichsprachigen, aber doch kontaminierten Volksgruppe. Volker Brauns Gedicht »Das Eigentum« stand hoch im Kurs bei uns:
Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.
Klaus Wolfram konstatierte bei einer Rede vor der Akademie der Künste 2019, worin die erste Wende nach der Wende bestanden hatte: »Die Generalaussprache, das politische Bewußtsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine Bevölkerung gerade erobert hatte, verwandelte sich in Entmündigung und Belehrung.«
Dirk Oschmann meint, genau das sei eben nichts Vergangenes, sondern seither konstant »der gleichbleibende Stand der Dinge«. Sein Buch (Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023, 224 S., 19,99 Euro) ist eine leidenschaftliche Polemik, ein »J’accuse!«, ein lang unterdrückter Schrei. Offenbar hat der Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig lange an sich gehalten, zumal es ihm sonst nicht gelungen wäre, der einzige Lehrstuhlinhaber ostdeutscher Herkunft in der Germanistik zu werden. Woran sich eben das Problem zeigt: Ostdeutsche konnten sich, aus Gründen westdeutscher Dominanz, im vereinigten Deutschland nicht gleichwertig etablieren. Sie stellen heute 19 Prozent der Bevölkerung, aber nur 1,7 Prozent der Spitzenkräfte in Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft.
Der Grund dafür liegt nach Auffassung des Westens nicht in Benachteiligung, sondern in einem Unvermögen, das Arnulf Baring, von Oschmann zitiert, so beschrieb: »Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur. Das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. […] viele Menschen sind wegen der fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen können.«
Der Osten war »Beitrittsgebiet«, dem gegenüber, so Baring, »eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation« erforderlich war. Heute gibt es in der Bundesregierung einen »Ostbeauftragten«. Oschmann erinnert das Wort an Begriffe aus dem Dritten Reich im Geschmack negativer Ost-Stigmatisierungen.
Der Zusatz »Ost« avancierte zum Synonym für »das Defizitäre, Abwegige, Kuriose, Unnormale«, das der Westen mit dem Osten verband, er kennzeichnet ein Milieu, das die diffizile Demokratie nicht begreift, Eigenverantwortung nicht wahrzunehmen versteht und daher der AfD nachläuft und ein spießig-piefiges Nazitum entwickelt. Pathologisch und gefährlich. Was sie früher verächtlich »Zone« genannt hatten, das war jetzt eben »der Osten«. Der Spiegel erschien 2019 mit einem Cover, das ein schwarzrotgoldenes Anglermützchen zeigte und den Leitartikel ankündigte: »So isser, der Ossi. Wie der Osten tickt – und warum er anders wählt«.
Oschmann polemisiert dagegen: »Der Westen redet immer positiv von der Vielfalt der Welt, hält aber in schönster Einfalt seine eigene Perspektive für die einzig mögliche.« Die Intention des Autors liegt nicht darin, einen weiteren Versuch zu unternehmen, Ostdeutschland als Phänomen zu erläutern, sondern zu zeigen, mit welchen »vermeintlichen Deutungsselbstverständlichkeiten« der mächtigere und selbstgerechte Westen sich den nach wie vor schwächeren und verzagten Osten in seiner Wahrnehmung mit »herrischem Demokratiestolz« konstruiert – teilweise neurotisch, weil ihm das über die eigenen Lebenslügen hinweghilft.
Herrschte vor der Vereinigung dem Osten gegenüber eher Gleichgültigkeit, so dominieren nun, meint Oschmann, Kränkung und Diffamierung. Das Dilemma: »Der Westen aber hat gedacht, er müsse sich nicht ändern und könne einfach Westen bleiben, während zugleich der Osten natürlich Westen werden sollte, obwohl im selben Moment alles dafür getan wurde, ihn zum ›Osten‹ zu machen.«
Oschmann beklagt das nicht einfach, er sieht darin vielmehr eine enorme Gefahr: »Wenn in Deutschland über ›Westen‹ und ›Osten‹ nicht grundlegend anders geredet wird, vor allem aber wenn die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige und gesellschaftliche Stabilität.«
Es gilt also, endlich anders über den Osten zu reden, spiegle sich in dem Problem doch ein »Spezialfall der Globalisierung«, der sich so allgemein im Verhältnis von West- und Osteuropa oder von West und Ost überhaupt finde und im »Reichtums‑, Macht- und Kommunikationsgefälle« seine Ursache habe.
Nun könnte man meinen, der Vereinigungsprozeß laufe lange genug und sei abgeschlossen. Von Ost und West könne in so diametraler Entgegensetzung längst nicht mehr die Rede sein. Oschmann jedoch erkennt eine »verstetigte Ungleichheit«, meint insbesondere für den akademischen Bereich davon ausgehen zu müssen, eine Art »westdeutscher Tribalismus« rekrutiere sich aus eigenen Seilschaften, es gehe dabei »nicht um demokratische Abstimmung, sondern um Netzwerke und Stammesvorsorge, um Freundschaften, Bekanntschaften, Ähnlichkeiten der Herkunft, im Habitus, in der Weltwahrnehmung, natürlich geht es außerdem ganz schlicht um Vetternwirtschaft, Vitamin B, Machtbehauptung, Besitzstandswahrung.«
Wenn dem wirklich so sein sollte, werden Alt-Westler das Buch als wiederum undankbare und jetzt sogar besonders dreiste Variante des Ost-Gejammers kritisieren, es also mißverstehen. Die zwischen 1945 und 1975 Geborenen finden aus ihren Rollen nicht mehr heraus, weder in Ost noch in West. Der Osten, so meint Oschmann mit Jürgen Habermas, habe in der DDR keine Öffentlichkeit gehabt. Nur: Er habe sie nach der Vereinigung immer noch nicht. Also muß er sie erzwingen, »beispielsweise basisdemokratisch auf der Straße, weil sich keine anderen Formen der Kommunikation bieten«.
Wo das aber geschieht, heißt es dann vorwurfsvoll, es geschehe tendenziell von rechts, weil bei der Artikulation ostdeutscher Probleme längst die AfD die einstige PDS beerbt habe.