Die Liebe zum Russischen, später zum Polnischen, wurzelte in ihm. Man kann sie in seinen kongenialen Übersetzungen – allen voran Witold Gombrowiczs – spüren. Kühl war auch viele Jahre Rußlandreferent des Berliner Bürgermeisters. Er verfügt somit über intime politische Einblicke und hat das Land viele Male bereist. Der Krieg gegen die Ukraine ließ ihn nun förmlich explodieren, in seinem Buch Z, das als »kurze Geschichte Rußlands« angekündigt wird, sammelt er all seine empirisch gewonnene Wut über die enttäuschte Liebe.
Das Bild, das er von Rußland entwirft, ist düster: Korruption, Verbrechen, Dreck, Verkommenheit, Primitivität, Brutalität, Gier, Dummheit, Verblendung, Wahn, Lüge, Propaganda … Die Evidenz ist überwältigend. Kühl sammelt tausend kleine Geschichten und Episoden zusammen, versucht sich in historischen und psychologischen Erklärungen, konfrontiert den Leser mit Unmengen an Namen und Ereignissen und beschränkt sich damit freiwillig sogar, »um den Leser nicht zu ermüden«.
Der Untertitel ist irreführend – statt einer Geschichte bekommen wir ein Blitzlichtgewitter präsentiert, mit sehr unterschiedlichen Belichtungszeiten: Manches rauscht in einem Satz vorbei, anderes wird entfaltet, auch wenn der unmittelbare Bezug zum Krieg nicht immer herzustellen ist. Links ist die Argumentation insofern, als sie die Russen an einem Ideal – wie sie sein sollten, könnten, müßten – mißt und nicht als das nimmt, was und wie sie sind.
Oft geht es heillos und hektisch durcheinander, der Autor läßt sich von seiner Wut treiben – man erwarte keine objektive Auseinandersetzung mit dem geliebten Feind, statt dessen haben wir ein ergiebiges Sammelsurium anekdotischer Evidenz, einen Geschichtensteinbruch vor uns. Immerhin, es kristallisiert sich ein rasanter politischer und moralischer Verfall, die wachsende Macht der Geheimdienste, der Verlust der Meinungsfreiheit, der Niedergang der öffentlichen Intelligenz, die Einführung von Gewalt und Korruption als politischen Mitteln etc. in den letzten drei Jahrzehnten heraus.
Aus seiner Perspektive muß Rußland den Krieg verlieren, will es überhaupt eine Chance haben, eine Zukunft zu gewinnen; eine gesichtswahrende Lösung wäre gerade keine. Man liest das atemlos, entsetzt, kopfschüttelnd. Und man sollte es lesen! Der Eindruck ist unglaublich stark, Kühl will beeindrucken, will übermannen.
Lehnt man sich dann reflektierend zurück, werden die Mängel des Buches sichtbar. Sein analytischer Gehalt ist eher dünn; Gewalt, Gier und Lüge als Unterbau eines maroden Systems festzumachen ist zu wenig. Man müßte konzentriert historisch-ökonomisch herangehen, aber gerade hier verspricht das Buch mehr, als es hält, sofern man unter Geschichte eine systematische Herleitung versteht.
Statt dessen zieht Kühl psychoanalytische Begriffe aus der Mottenkiste und will Putin etwa als analen Charakter mit Nekrophilie (nach Fromm) diagnostizieren, das Land leide unter Kränkungen, »ausgehungertem Selbstwertgefühl«, vollführe »Ersatzhandlungen« und »symbolische Aggressionen«. Die Menge des Materials hätte dringend ein Quellenverzeichnis erfordert, soll das Buch zu ernsthafter Weiterarbeit taugen.
Auch wird mitunter argumentativ getrickst, werden aus Einzelerscheinungen allzu schnelle Verallgemeinerungen gezogen. Selbst wenn Kühl nicht auf Selbstkritik verzichtet, insbesondere wenn es die deutsche Rußlandpolitik betrifft – den eigenen Arbeitgeber nicht ausgeschlossen –, leidet er doch unter einer stark selektiven Wahrnehmung. Er erklärt den Krieg gegen die Ukraine ausschließlich aus der eigenen systemischen Verkommenheit heraus, die Rolle der anderen, der Ukraine, des Westens, der Amerikaner etc. wird nicht einmal erwähnt.
Dieser stark verengte Fokus taugt wunderbar zur Konzentration – in dieser Hinsicht ist das Buch dringend zu empfehlen. Wer allerdings eine breite Analyse sucht, findet hier nur ein paar Bausteine zum Selberbauen. Daß es eine »Russische Seele« gebe, verneint Kühl – sie sei ein europäisches Konstrukt und ist weder im Wesen noch in der Sprache verankert –, aber wer die »Russische Seele« kennenlernen will, besonders ihre dunklen Seiten, wird kaum eine bessere Einführung finden. Für Verklärungen bleibt danach jedenfalls wenig Raum.
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Olaf Kühl: Z. Kurze Geschichte Rußlands, von seinem Ende her gesehen, Berlin: Rowohlt 2023. 223 S., 24 €
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