DIMITRIOS KISOUDIS: Beides. Die Rebe ist heimisch, wo ich geboren und aufgewachsen bin: in Hohenlohe, Württemberg. Sie steht aber auch für Mitteleuropa, weil sie in Deutschland, Österreich und Ungarn ihre Heimat hat. Also im Kerngebiet Mitteleuropas.
GREINDBERG: Was verstehen Sie unter dem Begriff Mitteleuropa?
KISOUDIS: Wenn man Europa der Länge nach gliedert, ist Mitteleuropa die deutsche Einflußsphäre. Westeuropa dagegen ist romanisch geprägt und wird von Frankreich dominiert. Untergliedert man Europa der Breite nach – zwischen reichem Norden und armem Süden – verlieren die Kernstaaten ihre strategische Tiefe. Das ist etwa der Fall, wenn man eine Unterteilung von Nord-Euro und Süd-Euro vorschlägt. Diese Betrachtungsweise ist rein ökonomisch.
Die Polen erkennen das richtig, wenn sie mit der Drei-Meere-Initiative die Verbindung von Ostsee im Norden und Mittelmeer sowie Schwarzem Meer im Süden herstellen. Diese Neuauflage des Intermariums aus der Zwischenkriegszeit ist eminent politisch, sie verschafft Zugang zu Gewässern und Rohstoffen. Allerdings treibt sie einen Keil in den Kontinent, weil ihr Zweck darin besteht, die Verbindung zwischen Deutschland und Rußland zu trennen.
Mitteleuropa muß den Zweck haben, eine Brücke von Westen nach Osten zu bauen. Historisch ist Mitteleuropa der Versuch, das Heilige Römische Reich in die Moderne zu versetzen. So wie es Polen mit der Polnisch-Litauischen Union unternimmt. Politik spielt sich in langer Dauer ab. Daher ist es sinnvoll, an historische Gebilde Anschluß zu suchen.
GREINDBERG: Welche Rolle hat Deutschland in diesem Mitteleuropa gespielt? Welche Rolle könnte es einst wieder darin spielen?
KISOUDIS: Mitteleuropa ist sozusagen der Ausstrahlungsraum der deutschen Nation gewesen. Schon der Ökonom Friedrich List, Vordenker des deutschen Nationalstaats, legt den Deutschen Zollverein als mitteleuropäischen Großraum an. Sein Ziel besteht darin, der englischen Vorherrschaft über die Welt eine Kontinentalallianz entgegenzusetzen. Und Mitteleuropa soll der Nukleus dafür sein.
Als vor 1900 eine neue Weltordnung mit mehreren Großmächten im Weltmaßstab in den Blick kommt, will Deutschland auch Weltmacht sein. Kolonialbesitz in Übersee und Mitteleuropa sollen diesen Anspruch untermauern. So wird ein Mitteleuropa unter deutscher Vorherrschaft zum Kriegsziel im Ersten Weltkrieg. Mit Ausgang des Kriegs sind Deutschlands Weltmachtansprüche begraben, die Vorherrschaft der Angelsachsen über Europa ist besiegelt.
Heute befinden sich China und Russland in einer ähnlichen Lage wie Deutschland und Österreich damals. Die westlichen Mächte wollen die Entstehung einer Kontinentalmacht im östlichen Eurasien unterbinden. Aber auch in Afrika und Südamerika ist eine multipolare Weltordnung mit mehreren starken Regionalmächten im Entstehen. Wenn diese Ordnung Europa erreicht, werden die Karten neu gemischt.
GREINDBERG: Ein Wort, das sehr häufig in ihrem Buch vorkommt ist der „deutsche Sonderweg”. Können Sie diesen Begriff näher erläutern?
KISOUDIS: Der deutsche Sonderweg ist die Verneinung des westlichen Wegs. Westlich, das bedeutet: Menschenrechte werden als Zivilreligion behandelt. Der westliche Weg findet vollendeten Ausdruck im Kult des höchsten Wesens nach der Französischen Revolution. In Anrufung dieses Wesens verkünden die Revolutionäre die Menschen- und Bürgerrechte. In einem Massenkultus tanzen die Franzosen 1794 um das Bildnis dieses Wesens wie heute die Untertanen der westlichen Sphäre unter der Regenbogenflagge.
Deutscher Sonderweg, das bedeutet: Das Bürgertum vollzieht keine Revolution von unten, sondern arrangiert sich mit dem Adel. Im Beamtentum und Militär herrscht ein Ethos der Pflicht und Neutralität. Machen technische Neuerungen und Veränderungen in der Sozialstruktur politischen Wandel nötig, dann vollzieht ihn der Staat von oben. Muß Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden, sagt Otto von Bismarck.
Auch die Mittellage gehört zum Sonderweg. Deutschland ist ständig in Gefahr, eingekreist zu werden. Die einkreisenden Mächte nehmen deutsche Vorkehrungen zur Selbstbehauptung ihrerseits als „Auskreisung“ wahr.
GREINDBERG: Beim Sonderweg handelt es sich, wie Sie schreiben, um eine „schwarze Legende“, um einen „negativen Mythos“. Warum sollte man seine eigene Geschichte mit einem negativen Begriff beschreiben?
KISOUDIS: Schon kleindeutsche Historiker wie Heinrich von Treitschke haben den Sonderweg positiv verstanden. Heute gilt er als negativ, weil die bundesrepublikanische Geschichtsschreibung ihn umcodiert hat, um den Bürgern den westlichen Weg schmackhaft zu machen.
Wenn wir in Deutschland eine Wende zum Guten bewirken wollen, dann müssen wir an den eigenen Weg anknüpfen und negative Codierungen aufheben. Natürlich haben auch andere Völker ihre Sonderwege, wenn man den westlichen Weg als Maßstab nimmt. Die Hispanität ist dafür ein gutes Beispiel. Auch sie wurde von den westlichen Mächten als schwarze Legende umerzählt.
Die Multipolarität bietet die Möglichkeit, diese Geschichten neu zu erzählen. Sie zwingt gewissermaßen dazu, weil die schwarzen Legenden die möglichen Regionalmächte daran hindern, ihre Einflusssphären und Großräume zu erkennen.
GREINDBERG: Der Hofhistoriker der deutschen Westbindung, Heinrich August Winkler, schreibt: „Deutschlands Weg nach Westen war lang und auf weiten Strecken ein Sonderweg. Die Deutschen bedürfen der Vergegenwärtigung ihrer Geschichte aber nicht nur um ihrer selbst willen. Sie sind diese Anstrengung auch dem gemeinsamen Projekt Europa schuldig.“ Ist es nicht vermessen, angesichts der Wirkmächtigkeit dieser Sonderwegsthese in der deutschen Zeitgeschichte, den deutschen Sonderweg positiv umdeuten zu wollen?
KISOUDIS: Nein. Die Wirkmacht der schwarzen Legende erschöpft sich ja übrigens schon. Man erkennt das etwa daran, dass die junge Generation von Historikern und Journalisten die Empörungsmaschinerie der alten Bundesrepublik gar nicht mehr zu bedienen weiß. Der Bezugsrahmen von Winklers Erzählung ist längst verschwunden: Das Wohlstandsversprechen des Westens ist gebrochen.
Auf einen starken souveränen Staat zu verzichten war schön und gut, solange die Wirtschaft lief. Heute stehen wir vor der Deindustrialisierung. Viele junge Leute haben eine Migrationsgeschichte und können mit dem moralischen Koordinatensystem der alten BRD nichts mehr anfangen. Sie sind von Haus aus häufig an positive Erzählungen im Zusammenhang mit ihrer Herkunft und Zugehörigkeit gewöhnt.
Die Ordnung, die in Asien entsteht, bietet beste Voraussetzungen für die Wiederentdeckung der deutschen Geschichte. Denn Tugenden wie Ordnung, Disziplin, Autorität werden dort groß geschrieben.
GREINDBERG: Sie fordern, dass sich Deutschland aus der US-geführten unipolaren Weltordnung lösen solle. Manche könnten nun einwenden: Haben wir nicht unter den USA – mit Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung, mit Frieden in Europa und einem blühenden EU-Binnenmarkt – nicht „das beste Deutschland aller Zeiten“ erlebt? Warum sollte Deutschland all das aufgeben und wieder einen Sonderweg beschreiten?
KISOUDIS: Das Wirtschaftswunder hat sich „ausgewundert”. Die Wiedervereinigung war eher ein Beitritt der DDR zur BRD, nicht die neutrale Vereinigung zweier Staaten. Um einen Binnenmarkt zum Funktionieren zu bringen, brauchen wir die USA nicht. Auch in den deutschen Europa-Ideen des 19. Jahrhunderts war Europa ja als Binnenmarkt angelegt, der allmählich zur politischen Kontinentalallianz zusammenwächst. Der Sonderweg könnte also vielmehr dazu führen, diese Allianz zu verwirklichen. Denn die Frage der Nation ist nicht zu klären, ohne dass man die europäische Frage beantwortet.
Ich sehe eine andere Gefahr, besonders in der politischen Rechten: Nämlich die Fehlentwicklungen einseitig Europa zuzuschreiben, weil man das sanktionsfrei tun kann. Dann droht die Balkanisierung Europas, und Europa wird unter dieser Bedingung in der multipolaren Ordnung keine Rolle spielen. Besonders die Ideologie des „National-Konservatismus“, die Yoram Hazoni und seine Anhänger vertreten, befördert diese Gefahr. Alle Nationen sollen demnach konservativ sein. Aber alle vertreten zufälligerweise die Positionen der USA.
Das ist eine Neuauflage des Nationalismus wilsonianischer Prägung. Damals ging es darum, das alte Europa mit Hilfe junger Nationen abzuwickeln. Heute geht es darum, das neue Europa zu verhindern. Europa braucht aber einen außenpolitischen Willen und eine Verteidigung.
GREINDBERG: Angesichts des Ukrainekriegs ist es zu einer breiten Debatte gekommen, ob dies zu einer Stärkung oder Schwächung der USA geführt hat. Wie beurteilen Sie die derzeitige Position der USA und die der Kräfte des Multipolarismus?
KISOUDIS: Die USA haben ihre Position gegenüber Europa gestärkt. Aber ihr Anspruch geht ja weit darüber hinaus. Weite Teile der Welt entziehen sich der Sanktionspolitik. Der Energiehandel wird zunehmend in den Währungen der Regionalmächte abgewickelt. Dadurch gerät der Petrodollar ins Wanken, der zusammen mit der Geldschöpfung aus dem Nichts die Grundlage des US-Imperiums bildet. Die BRICS formieren sich als Gegenblock zur westlichen Welt und entfalten immer größere Anziehungskraft.
China tritt als Friedensmacht auf und befriedet alte Feindschaften wie zwischen Iran und Saudi-Arabien. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit wird zur Gegen-NATO und formuliert in Ansätzen ein Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Afrika und Südamerika gehen eigene Wege. Das ist nicht, was sich die USA zur Jahrtausendwende erhofft hatten. Natürlich sind die USA weiterhin die stärkste Großmacht.
Aber das Ende der Geschichte im Zeichen westlicher Werte ist nicht in Sicht. Und das kontinentale Herzland bleibt für die USA zunächst unerreichbar. Jetzt müssen die Kräfte der Multipolarität die entstehende Ordnung in Begriffe und Regeln fassen.
GREINDBERG: Sie beenden Ihr Buch mit den Worten: „Ein Land hat Persönlichkeit. Diese Persönlichkeit übersteigt, was in den Köpfen der Landsleute gerade gedacht wird. Sie mag schlafen, in Büchern oder Wäldern, in den Bergen oder im Boden. Mit einem Zauberwort wacht sie auf.“ Sehen Sie in den jüngsten Erfolgen der AfD bei Wahlen und Umfragen, die ersten Wirkungen dieses Zauberworts?
KISOUDIS: Die Erfolge zeigen: Unten wächst das Bedürfnis, den Weg der Selbstverneinung zu verlassen und einen Weg der Selbstbehauptung einzuschlagen. Was fehlt, das ist das breite Bewusstsein, wo dieser Weg liegt und wohin er führt. Konvergierende Katastrophen sind voller falscher Rettungswege. Es gibt in Deutschland keine Elite mit dem ausgebildeten Bewußtsein dafür, welche Bedingungen eine Wende zum Guten hat.
Und der Rechtspopulismus ist für die Umbrüche, die uns bevorstehen, von seiner Verfasstheit her nicht gerüstet. Er operiert mit einfacher Ansprache des gesunden Menschenverstandes, verspricht die Rückkehr zur alten Normalität. Transformationen stehen uns aber so oder so bevor. Wir müssen den Blick noch weiter in die Vergangenheit und noch weiter in die Zukunft richten, als wir 2015 vielleicht dachten. Aber wir dürfen nicht pessimistisch sein.
Im europäischen Vergleich steht die AfD gut und selbstbewusst da. Jetzt besteht die Aufgabe darin, den Rechtspopulismus endgültig hinter sich zu lassen und zu einer geostrategischen Kraft zu werden. Es kommt nicht darauf an, immer mehr Leuten immer besser zu erzählen, was sie hören wollen. Kommunikation ist nicht Strategie. Es kommt darauf an, in die geschehenden Veränderungen hineinzuwachsen. Mitteleuropa kann der Raum dazu sein.
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Dieses Gespräch erschien im Juli 23 auf der Internetseite des österreichischen Heimatkuriers. Wir bringen es mit freundlicher Genehmigung der Kollegen.
Der Essay Mitteleuropa und Multipolarität von Dimitrios Kisoudis kann hier bestellt werden.
Mitleser2
"Nämlich die Fehlentwicklungen einseitig Europa zuzuschreiben, weil man das sanktionsfrei tun kann. Dann droht die Balkanisierung Europas, und Europa wird unter dieser Bedingung in der multipolaren Ordnung keine Rolle spielen."
Mir steckt in dem Text zu viel Wunsch nach so einer Art "Vereintes Europa". Aus dem Negativbeispiel EU sollte eigentlich was anderes gelernt werden.