Nach dem Jahr 1945 fiel quer durch Europa ein »Eiserner Vorhang«, mit dem sich der künftige sozialistische Machtbereich vom Westen abschottete. Er war von Anfang an eine Metapher für konkrete Maßnahmen, die bis 1989 stetig perfektioniert wurden.
Im westlich dieses Vorhangs gelegenen Deutschland verbreitete sich die lähmende Atmosphäre einer »Stunde Null«. Sie verwandelte ganz Deutschland in eine Zone absoluter Stille und Bewegungsunfähigkeit. Im Lauf von einigen Jahren und unter teilweise physischer Zerstörung von Kulturgut (wie etwa Büchern) wurde dieses Vakuum dann sehr kontrolliert wieder mit Sinn, Lärm und Leben gefüllt, und zwar in gezielter Ausrichtung auf das Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika.
Diese Stunde Null war keine automatische Begleiterscheinung der militärischen Niederlage Deutschlands. Sie stellte ein bewußt gewähltes, amerikanisches Konzept der demonstrativen Entmachtung und des Neubeginns dar. Dies geschah in großem Umfang, wie zum Beispiel ein amerikanischer Bericht aus dem Sommer 1946 festhält.
»Wir kontrollieren jetzt 37 Zeitungen, 6 Radiostationen, 314 Theater, 642 Kinos, 101 Magazine, 237 Verlage, 7384 Buchhändler und Drucker, führen 15 Meinungsumfragen im Monat durch, publizieren eine Zeitung mit 1,5 Millionen Auflage (1), 3 Nachrichtenmagazine, betreiben die Deutsche Nachrichtenagentur (DANA) und 20 Büchereien. […] Die Aufgabe ist gewaltig.« (2)
Während die Deutschen nun durch diese gelenkten Besatzungsmedien mit dem versorgt wurden, was sie wissen und glauben sollten, wurde gleichzeitig nicht nur die persönliche Reisefreiheit von Ort zu Ort innerhalb Deutschlands eingeschränkt, sondern sahen sich selbst neuernannte Vertrauenspersonen daran gehindert, sich mit Informationen aus dem Ausland zu versorgen: Kein deutscher Herausgeber in der US-Besatzungszone könne sich die New York Times, irgendeine andere in England oder den USA gedruckte Zeitung oder irgendein anderes Exemplar der Auslandspresse besorgen, meldete ein anderer Bericht auch noch für das Jahr 1948.
Das war drei Jahre nach Kriegsende. Die Gründungsphase deutscher Bundesländer hatte eingesetzt, ein Jahr später würde aus ihnen die Bundesrepublik Deutschland hervorgehen. Diese neue Staatsform des Deutschen Reiches entstand also unter höchst schwierigen Bedingungen.
Erstaunlicherweise geriet die Stunde Null im öffentlichen Bewußtsein, aber auch in Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft relativ schnell in Vergessenheit. Nachkriegsdeutschland ist längere Zeit vor dem fiktiven Hintergrund betrachtet worden, es hätte eine Stunde Null nicht gegeben. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist ein gegenläufiger Trend innerhalb der Forschung zu beobachten, da nach den Kontinuitäten jetzt die tatsächliche Dimension dieses Umbruchs und das Ausmaß seiner Planung langsam ins Blickfeld geraten.
Symptomatisch für diesen Trend sind etwa Veröffentlichungen wie Die lange Stunde Null (2007), in denen die Lenkung des sozialen Wandels in Deutschland durch amerikanische Planung im Detail nachgezeichnet wird. Auf diese Weise nähert sich die Forschung ebenso vorsichtig wie spät dem an, was die damals lebenden Deutschen erlebt haben. Zudem haben zahlreiche Veränderungen der Medienlandschaft im Internetzeitalter und die amerikanische Außenpolitik ein erhöhtes öffentliches Bewußtsein dafür geschaffen, wie umfangreich Steuerungsversuche und »Nation building« Teil der politischen Praxis des Westens sind.
Im Rahmen des Projekts eines Neustarts Nachkriegsdeutschlands kam es zu Veränderungen der deutschen Schul- und Hochschullandschaft, die sich in zahlreichen persönlichen und institutionellen Kontakten und einem transatlantischen Personen‑, Wissens- und Methodentransfer niederschlugen. Die vor allem von den Vereinigten Staaten ausgehenden Maßnahmen zur Bildung einer völlig neuen, auf die intellektuelle wie wirtschaftliche Westbindung Deutschlands ausgerichteten Führungsschicht verstanden die deutschen Hochschulen als wesentliches Instrument zur Prägung dieser neuen Eliten.
Eine entscheidende Rolle wurde von seiten der Besatzungsbehörden dabei der Etablierung neuer ideologischer Leitwissenschaften an den deutschen Universitäten zugewiesen, eine Rolle, die von der neudefinierten Soziologie und besonders durch die neugeschaffene Politikwissenschaft und die Zeitgeschichtsforschung übernommen werden sollte. Beide Fachkomplexe sollten nach diesen Vorstellungen einen Einfluß auf alle Studiengänge entwickeln, ganz besonders aber auf die Ausbildung von Schul- und Hochschullehrern.
Ergänzt und überlagert wurden diese Absichten von den neugeschaffenen Reise- und Austauschprogrammen, die einer größeren Anzahl von ausgewählten vielversprechenden Personen aus wichtigen Berufen und Fachrichtungen im Rahmen von Studienaufenthalten in den Vereinigten Staaten ein westlich geprägtes, gemeinsames Elitenbewußtsein vermitteln sollten.
Die Umsetzung dieser Pläne geschah über Gastvorträge, durch Stipendien der Rockefeller- und der Ford-Stiftung, die Gründung von Instituten aus Stiftungsmitteln und über eine ganze Reihe von Austauschprogrammen, von denen das Fulbright-Programm das bekannteste ist.
Daneben spielten die internationale Korrespondenz und eigentümliche Netzwerke eine Rolle, insbesondere auch durch Remigration von Forschern, die seit 1933 Deutschland verlassen hatten und dann während und nach dem Krieg an teilweise führender Stelle an der US-amerikanischen Machtentfaltung beteiligt waren, soweit dort die Dienste von Politik- und Sozialwissenschaftlern benötigt wurden. Diese Projekte unterlagen deshalb in der Regel direkter politischer, nicht selten auch direkter geheimdienstlicher Einflußnahme.
Letzteres kann bis heute nur in Umrissen erforscht werden, da in diesem Bereich weiterhin viele Dokumente nicht zugänglich sind oder sicherheitshalber gleich vernichtet wurden, wie zum Beispiel aus einem 1977 verfaßten internen amerikanischen Bericht hervorgeht. Frühzeitig erfolgte auch die Gründung formaler Netzwerke wie der bekannten Atlantik-Brücke, eines Vereins, dem in der Nachkriegszeit sehr viele bundesdeutsche Politiker aus der ersten Reihe angehörten und der aktuell beispielsweise vom sozialdemokratischen Multifunktionär und mehrfachen Minister Sigmar Gabriel geleitet wird.
Auf die zahlreichen Institutionen und Programme einzugehen, die sich dem deutsch-amerikanischen Austausch widmeten, ist im Rahmen dieses Artikels nicht oder nur flüchtig möglich. Das Handbuch für diese Fragen listete etwa 1958 und 1965 jeweils 175 Institutionen und Programme auf.
In der neueren Forschung wird mittlerweile das große Interesse der Besatzungsmächte an verschiedenen Fächern konstatiert. Insbesondere die Fächer Soziologie und Politikwissenschaft wurden von ihnen mit Blick auf die Förderung der westdeutschen Demokratie besonders gewürdigt. Die Militärregierungen der Westzonen organisierten den ersten Soziologentag, Besatzungsoffiziere hielten die ersten Vorlesungen.
Die Fragen nach Interessenlagen und biographischem Hintergrund von Entscheidungen in der Bildungspolitik wurden in den letzten Jahren zunehmend konkreter gestellt. Dabei ergänzten sich zwei Trends. Zum einen erfreute sich der biographische Zugriff generell aus methodischen Gründen einer neuen Beliebtheit, zum anderen schuf der zeitliche Abstand zu den Ereignissen erst die Möglichkeit zu wirklichen Biographien.
Die Forschung warf einen detaillierteren Blick auf die Austauschversuche, kam allerdings zu relativ unterschiedlichen Bewertungen hinsichtlich des Erfolgs dieser Programme. Die Aktivitäten der großen amerikanischen Stiftungen und deren nicht immer transparente Verbindungen zu US-amerikanischen Regierungsaktivitäten gerieten spät in den Fokus und damit auch eine Fragestellung, die bis Ende der 1990er Jahre noch weitgehend unbekannt war.
In den Absichtserklärungen und Berichten der US-Behörden wurde die Zusammenarbeit mit privaten Institutionen generell als wünschenswert bezeichnet, ohne daß Art und Umfang immer ersichtlich gewesen wären – das machte es einer Forschungsanalyse nicht leicht. Tim B. Müllers Studie über Krieger und Gelehrte – Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg (2010) stellt dies mit Blick auf die Verbindungslinien von einflußreichen deutschen Intellektuellen zu US-Geheimdiensten und unter anderem der Rockefeller-Stiftung fest.
Der vielzitierte militärisch-industrielle Komplex der Vereinigten Staaten wurde im Zusammenhang mit den transatlantischen Beziehungen von einem regierungsamtlich-stiftungsrechtlichen Komplex unterstützt. Die Rückverfolgung solcher Netzwerke anhand der Positionswechsel vieler Personen aus der Emigration in amerikanische Universitäten, Armee und Geheimdienste, US-Verwaltungsbehörden, erneut in deutsche Hochschulstellen, transatlantische Nichtregierungsnetzwerke und internationale Organisationen wie die UNESCO kann dies sichtbar werden lassen.
Die transatlantischen Beziehungen der Nachkriegszeit zielten von amerikanischer Seite aus auf die Schaffung einer neuen deutschen Elite, die demokratisch geprägt und auf die Westbindung Deutschlands ausgerichtet sein sollte. Dies brachte eine Umformung mit sich, die sich zugleich auf übergeordnete Maßstäbe des »Westens« stützen sollte, aber dennoch auf die Schaffung einer »nationalen« Elite im engeren Sinne ausgerichtet war. Bei genauem Hinsehen lassen sich in diesem Vorgang allerdings bereits Elemente jener Elitenbildung feststellen, die Jahrzehnte später um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert in vielen Ländern die nationalen Eliten in transnationale Eliten umwandeln sollte, insbesondere im Wissenschafts- und Bildungsbereich.
Dieser Vorgang bedeutet eine Verschiebung von Einfluß, weg von der nationalen Bildungselite und hin zu einer naturwissenschaftlich geprägten, transnational organisierten, nach eigenem Anspruch verbindlich urteilenden Wissenselite, die eine Verbindung mit ebenfalls transnational organisierten Wirtschaftseliten eingegangen ist, was, so darf man wohl sagen, in dieser Kombination den Einfluß der eigentlich politischen Elite in manchen Bereichen fast vollständig verdrängt hat. Hochkomplexe Gesetze etwa werden von standardisiertem Fachwissen nach transnationalen Maßstäben vorformuliert und im nationalen Politikbereich häufig nur noch – in vielen Bereichen aufgrund der Rechtslage zwangsweise – umgesetzt.
Die Verlagerung von Entscheidungsprozessen in transnationale Organisationen wie die Europäische Union, die OSZE oder die UNO mitsamt ihren Unterorganisationen geht einher mit der Bildung von weltweit kommunizierenden Wirtschaftseliten, die sich der Kontrolle durch den klassischen Parlamentarismus oder das Gegengewicht nationaler Verbände und/oder Gewerkschaften weitgehend entziehen. Im Zeitalter des Regimes von PISA, McKinsey & Co. kommen die Maßstäbe gerade im Bildungs- und Sozialwissenschaftsbereich nicht mehr aus den national verfaßten Ländern.
Sie werden von außen gesetzt und kontrolliert, im Rahmen von PISA‑, VERA- oder Bologna-Evaluationen. Dabei wird die Rolle von Bildung als Kulturgut, als Wert an sich und als Ausdruck nationaler Identität zugunsten eines technischen Wissensbegriffs von Bildung zurückgedrängt, was eine weitere grundsätzliche Entmachtung der traditionell verfaßten Nation mit sich bringt. (3)
Der innerdeutsche Konsens über die Bildungsinhalte und Strukturen, auch derjenige, der vor dem Nationalsozialismus existiert und ihn überstanden hatte, wurde von den 1945 mit Truppenunterstützung einmarschierenden und agierenden Bildungs- und Wissenschaftsberatern radikal aufgekündigt. Der modische und jederzeit anrufbare Maßstab dessen, was gut und zukunftsfähig sei, kommt seit dieser Zeit in Deutschland immer wieder von außen, die Reformen finden in immer kürzeren Abständen statt. Andererseits dürfen auch in diesem Bereich die Beharrungskräfte nicht unterschätzt werden, die bis in die Mitte der 1960er Jahre immer wieder einen Weg fanden, sich auszudrücken.
Zu diesen Mechanismen gehört besonders auf dem Feld der Elitenbildung die Erwartung in die besondere Bedeutung einzelner Persönlichkeiten als Multiplikatoren neuer Meinungen. Diese Bedeutung ergibt sich aus der Ansicht, daß die Lebensverhältnisse von Menschen nicht von ihrer Existenz als Individuum unter anderen Individuen geprägt werden, sondern von ihrer Existenz als Teilen von kleineren Netzwerken und Cliquen.
Ein einzelnes Individuum würde sich durch einen Wechsel seiner Meinung gegenüber der Umwelt zunächst isolieren, neigt also zur Beharrung auf dieser Meinung. Wechselt aber der Meinungsführer eines Netzwerks oder einer Clique seine Meinung, werden dies tendenziell die Angehörigen dieser Gruppen ebenfalls tun. Der Vorteil eines völligen Mentalitätswechsels durch Elitenwechsel ist also nicht nur ein quantitativer, sondern ein qualitativer.
In diesem Sinne zielten die Reorientierungsprogramme der Nachkriegszeit auf einen Elitenwechsel zu einem bestimmten Zweck, trafen jedoch bei den verantwortlichen Personen sowohl auf Beharrungskräfte wie auf revolutionäre Absichten, die beide auf Motive abseits der eigentlichen Reorientierungszwecke zurückgingen. Die personelle und institutionelle Vorgeschichte der Bildungsreformen und politischen Bewegungen der Nachkriegszeit wurde jedenfalls lange Zeit vorwiegend als innerdeutsches Binnenphänomen und Teil allgemeiner Entwicklungen aufgefaßt.
Ein unmittelbares politisches Interesse anderer Staaten an diesen Reformen wurde häufig nicht angenommen. Den weiteren Aspekt – amerikanische »cultural diplomacy« habe unvermeidlich die Wirkung subtiler Propaganda – sahen viele schon eher. Zeitgenössische Klagen über »Amerikanisierung« und Gegenvorwürfe wegen »Antiamerikanismus« spiegeln dies wider. Im Rahmen der Durchsetzung von neuen Fachbereichen an Universitäten und der Prägung politischer Entscheidungsträger spielten allerdings durchdachte Maßnahmen der Besatzungsmacht die Hauptrolle, die die Initiative ergriff, fortführte und den auf deutscher Seite handelnden Personen erst ermöglichte, ihre Rolle zu spielen.
Die Geschichte der bundesrepublikanischen Eliten nach 1945 läßt sich insgesamt ohne die »lange Stunde Null« überhaupt nicht verstehen. Diese lange Stunde hat prägende Nachwirkungen, zum Teil bis heute.
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(1) – Gemeint ist die Neue Zeitung in München, vgl. Joseph Dunner: »Information Control in the American Zone of Germany, 1945 – 1946«, in: Carl Joachim Friedrich (Hrsg.): American Experiences in Military Government in World War II, New York 1948, S. 283. Aus ihrer Redaktion gingen schließlich 16 deutsche Chefredakteure und über 30 Redakteure deutscher Zeitungen hervor. Vgl. Arnd Bauerkämper (Hrsg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945 – 1970, Göttingen 2005, S. 148.
(2) –Zit. n. Colonel Alfred H. Paddock: »Major General Robert Alexis McClure – Forgotten Father of US Army Special Warfare«, in: www.psywarrior.com (die DANA war eine Schöpfung der amerikanischen Psychological Warfare Division, vgl. Dunner: Information Control, S. 284).
(3) – Dazu ganz allgemein der Soziologe Richard Münch: Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey und Co., Berlin 2009, S. 90.