Hört man sich unter sogenannten 2015ern und allgemein unter denjenigen um, die aus Enttäuschung über Merkel ihren Weg in rechte Sphären gefunden haben, so steht dabei immer wieder, mal direkt, mal implizit, die Behauptung im Raum, daß es die Kanzlerschaft Angela Merkels gewesen sei, die die CDU in den linksliberalen Abgrund gerissen habe – insbesondere mit der Grenzöffnung 2015 und dem, was folgte.
Wer weiter zurückgreift, sieht Merkels Bilanz auch schon mit der sogenannten Eurorettung ab etwa 2010 ins Negative kippen. Aber dies macht die grundlegende Fehleinschätzung nicht besser.
Im Oktober ist es nämlich schon zwanzig Jahre her, daß Merkel im Rahmen einer politischen »Affäre« um den CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann gegen ihn und für den Ausbau der Macht der denunziatorischen Zivilgesellschaft Partei ergriff. Bereits diese Affäre machte deutlich, daß die CDU auch zuvor keineswegs eine Partei gewesen war, in der konservative Positionen mehrheitsfähig waren oder auch nur toleriert wurden. Im Zuge der sich daraus ergebenden Ereignisse wurde diese Ausrichtung sogar noch deutlicher.
Wovon ist die Rede? Der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann (von 2017 bis 2021 dann für die AfD an gleicher Stelle) hatte am 3. Oktober 2003 in seinem Wahlkreis einen Vortrag gehalten, um auf die Lage der Nation am 13. Jahrestag der Wiedervereinigung hinzuweisen. Dieser Vortrag fand zunächst wenig Beachtung. Noch konnte man nicht einfach so mit einem Smartphone mitfilmen, noch blieb, was gesprochen wurde, im begrenzten Raum.
Skandalisierungen liefen langsamer an und erreichten oft wegen mangelnder Mitschnitte oder Sequenzen keine nennenswerte Reichweite, zumal dann nicht, wenn aus vielen Reden, die auf vielen Feierstunden vieler CDU-Kreisverbände gehalten wurden, die eine herausgefiltert werden sollte, an der man eine Exempel würde statuieren können.
Im Falle Hohmanns war es erst die Veröffentlichung einer Abschrift des Vortrags, die auf CDU-Netzseiten zu kursieren begann und für den Skandal sorgte. In seiner Rede hatte Hohmann die Argumentation vertreten, daß man, folge man der Etikettierung der Deutschen als »Tätervolk«, nach der gleichen Logik dann auch das jüdische Volk als Tätervolk bezeichnen könne, da sowohl in der Führungsebene als auch bei den Erschießungskommandos der Bolschewisten Juden überproportional stark vertreten gewesen seien.
Hohmann berief sich zur Abstützung seiner These auf das Buch »Jüdischer Bolschewismus«. Mythos und Realität des früheren Bielefelder Uni-Bibliotheksdirektors Johannes Rogalla von Bieberstein und schloß seine Überlegungen mit dem Fazit, daß man letztlich weder die Juden noch die Deutschen als Tätervolk bezeichnen könne.
Das Buch, auf das Hohmann sich bezog, war im Herbst 2002 im noch jungen Verlag Antaios erschienen und wurde zunächst wissenschaftlich aufgenommen und besprochen. Denn immerhin hatte der Historiker Ernst Nolte ein zustimmendes Vorwort verfaßt und bereits mit den ersten Sätzen die Rezeptionsgefahr prognostiziert: »Eine Untersuchung über den Mythos vom ›jüdischen Bolschewismus‹ würde wohl auch in Deutschland als legitime wissenschaftliche Fragestellung anerkannt werden, sofern der Verfasser von Anfang an deutlich machte, daß er unter ›Mythos‹ soviel wie ›Wahnvorstellung, Erfindung‹ oder ›Lüge‹ versteht.
Ganz anders sehen die Dinge aus, wenn als Mythos der begeisternde oder auch fanatisierende Impuls verstanden wird, der eine tatsächlich vorhandene Wirklichkeit zuspitzend und verzerrend überformt, so daß eine neue, eine ideologische Realität entsteht.«
Infolge der Skandalisierung überboten sich in den Wochen danach die Medien mit der Behauptung, Hohmann habe die Juden als »Tätervolk« bezeichnet. Die Tatsache, daß er eben das gerade nicht getan, sondern am Ende seiner Rede dezidiert ausgedrückt hatte, man dürfe weder die Juden noch die Deutschen pauschal so kriminalisieren, wurde entweder unterschlagen oder als unstatthafter Vergleich bezeichnet. Das Bild vom vermeintlichen »Antisemiten« Hohmann war in der Welt, und das Vorwort Noltes, in dem die Reflexe bereits skizziert waren, hatte daran nichts ändern können.
Die Denunzierung Hohmanns war nicht mehr aufzuhalten und ähnelte in ihrer Dynamik der Kampagne gegen den FDP-Politiker Jürgen Möllemann ein Jahr zuvor: Er hatte Kritik an Israels Politik in den besetzten Palästinensergebieten geübt und sich auch später nicht von seinem harten verbalen Gefecht distanziert, das er gegen den deutsch-jüdischen Journalisten Michel Friedman geführt hatte. Man warf Möllemann damals vor, antisemitische und antijüdische Argumente zurück in die Debatte geholt zu haben, und sah in Hohmanns Rede eine Folge dieser erneut geöffneten Argumentationsräume.
Hohmann selbst kämpfte gegen die Verleumdung unter anderem auf juristischer Ebene an. Einstweilige Verfügungen konnten die Weiterverbreitung der Fehlinformation, er habe sich antisemitisch geäußert, schließlich stoppen: Der Stern, der WDR, die Frankfurter Rundschau, Spiegel-online, Bild, t‑online, berlinonline und die Schweriner Volkszeitung mußten sich verpflichten, die Behauptung zu unterlassen, er habe die Juden als Tätervolk bezeichnet. Doch jeder, der sich ein wenig mit medialen Dynamiken in derlei Fällen auskennt, weiß: Gegendarstellungen sind nichts gegen das, was die Skandalmeldung war.
Außerdem machten die Gegner Hohmanns subtiler weiter. Wolfgang Benz, damaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung und stets einer der ersten, die sich in derlei Fällen mit entsprechenden Anwürfen zu Wort melden, verstieg sich zu der Formulierung, das sei »Goebbels pur«. Auch begreife Hohmann die Juden als Volk anstatt als Religionsgemeinschaft, was selbst bereits nazistisch sei. Die Tatsache, daß die Formulierung vom »jüdischen Volk« unter Juden selbst gang und gäbe ist, fiel dabei ebenso hintenüber wie Hohmanns Fazit – auch wenn beide Tatsachen einem Mann wie Benz mit hundertprozentiger Sicherheit bekannt waren.
Die CDU – damals schon unter dem Vorsitz Merkels, aber noch nicht Regierungspartei – reagierte so, wie man es auch heute von ihr kennt: die Richtung des medialen Stroms abwartend, dann mitschwimmend. Politiker wie Heiner Geißler und Jürgen Rüttgers überboten sich mit Forderungen nach einem Ausschluß Hohmanns aus der Fraktion und der Partei. Beides erfolgte einige Zeit später. In der Union fanden sich nur wenige Stimmen, die zu seiner Verteidigung bereit waren – zu diesen wenigen zählten Konservative wie der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis, der frühere Berliner CDU-Innensenator Heinrich Lummer und die damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld.
Wenige Wochen später schloß sich dem Vorgang eine weitere »Affäre« an: Kein Geringerer als der Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte (KSK), Brigadegeneral Reinhard Günzel, hatte Hohmann in einem Brief Beifall gezollt, was nach Bekanntwerden den damaligen SPD-Bundesverteidigungsminister Peter Struck dazu veranlaßte, Günzel kurz darauf in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen, mit Verweis auf einen angeblichen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot. Günzel wiederum veröffentlichte einen Gesprächsband über diese plötzliche Politisierung seiner Person. Er erschien ebenfalls im Verlag Antaios und wurde zum Ausgangspunkt für eine Vortragsreise Günzels und eine Sammlung von Unterstützern und Lesern, die wiederum den Kern der späteren, ausgreifenden Projekte aus Schnellroda bildeten.
Der ganze »Skandal« ist ein (aus heutiger Sicht) frühes Lehrstück darüber, daß der Blick auf vermeintlich »gute alte Zeiten« der Bundesrepublik mindestens trügerisch ist. Das System konnte bereits früher so restriktiv werden, wie es das heute ist – mal auf dem direkten, staatlich-repressiven Wege, mal über sozialen und beruflichen Druck durch mediale und »zivilgesellschaftliche« Akteure. Auch in den angeblich so freien und »guten alten« 1980er Jahren stellte sich die Situation nicht maßgeblich anders dar: Im berühmt-berüchtigten Historikerstreit hatte der BRD-Haus-und-Hof-Philosoph Jürgen Habermas bereits damals seinen Kontrahenten Ernst Nolte innerhalb der intellektuellen und universitären Szene der Bundesrepublik faktisch zur Persona non grata gemacht.
Die CDU als Systempartei der Westbindung erweist sich also schon seit Jahrzehnten nicht als Rückzugsraum für Politiker und andere Personen, die von medialen, geisteswissenschaftlichen und politischen Gegnern attackiert werden. Nie hat sie solchen Hetzstimmungen etwas Substantielles entgegengesetzt.
Im Gegenteil: Die Kohl-CDU schwamm im liberalen Strom von Westbindung und BRD-Geschichtsschreibung, so wie es später die Merkel-CDU tat und so wie es heute die CDU des Brandmauer-Apologeten und Ex-BlackRock-Managers Friedrich Merz und des VS-Chefs Thomas Haldenwang tut. An dieser strukturellen Kontinuität ändern auch einzelne CDU-Rebellen mit Rückgrat nichts.