Diesmal sind wir von unserer antiken Kategorisierung “Gutes- Wahres-Schönes” abgewichen. Unsere Autoren empfehlen hier in loser Reihenfolge allerbeste und geprüfte Leseempfehlungen unter den Überschriften “Lernen- Lesen-Schauen”. Ich mache den Anfang.
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Lernen
Eva Menasse ist so dazwischen. Eigentlich Österreicherin, aber seit langem in Berlin lebend. Eigentlich „Halbjüdin“ (ihr jüdischer Vater war Fußballer der österreichischen Nationalmannschaft), und doch hart angegriffen dafür, daß sie das jüdische Establishment bisweilen harsch kritisiert. Links, aber mit bedeutsamen Abstrichen. Eva Menasse ist eine unbestritten großartige Romanautorin.
Was sie hier in ihrem Essay über die Smartphone- und Internetseuche schreibt, sucht seinesgleichen. Sie ist so hellwach, sie hat es drauf, diese zeitgenössischen Phänomene mit Worten zu beschreiben, die alles andere als abgegriffen sind. (Einen Boomer-Begriff wie „Smartphoneseuche“ würde sie beispielsweise vermeiden.)
Menasse hat genau verstanden, was diese perfide Kombination aus „zeitlich nah“, aber „räumlich distant“ mit uns macht, eine eigentlich absurde Grenzsprengung! Was einen Brief von einem „Post“ unterscheidet. Warum unsere „Posts“ so einerseits flüchtig, andererseits ewig sind. Wie die „Sozialen Medien“ geschickt unsere Eitelkeit bewirtschaften.
Niemand kann sich heute der digitalen Massenkommunikation entziehen, selbst die wenigen Asketen, die sich Smartphone und Social media verweigern, nicht.
Haha, zeichnet Menasse nach, standen damals bei Kulturpessimisten nicht auch die Eisenbahn und die Photographie unter massivem Verdacht? Die schnelle Fahrt sollte die Organe schädigen, das Lichtbild die Seele rauben. Ist „das Internet“ also in Wahrheit nur ein simples Werkzeug?
Eva Menasse widerlegt es. Sie schaut ganz genau hin, sie registriert die Empörungskurven „im Netz“ und ordnet sie ein. Das ist überaus lesenswert, sie eröffnet völlig unbedachte Sichtweiten.
Nur: Sie wäre gewiß keine „öffentliche Intellektuelle“ mit Renommee, wenn sie nicht ihre blinden Flecken hätte. Leider ist sie blindwütige Verteidigerin des Corona-Narrativs. Man kann es lesend kaum glauben, weil sie hier völlig aus der Rolle der kritischen, hochaufmerksamen Beobachterin fällt. Häufig zitiert sie Sloterdijk. Der ist nun auch ein fraglos kluger Denker – aber „Corona“ hat dem Guten offenkundig seltsam den Kopf gewaschen.
Wir müssen lernen, tolerante Leser zu sein. Heftig – bedenkenswert! – äußert Menasse sich auch zum Nahost-Konflikt – wobei das Buch natürlich bereits vor dem 7. Oktober 2023 in den Druck ging. Wir sollten zufrieden sein, wenn eine zu 90% den Punkt trifft. das tut sie. Der Rest geht ins Gebet!
Eva Menasse: Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Kiepenheuer & Witsch 2023, 188 S., 22 € – hier bestellen.
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Schauen
Als Kind hatte ich eine umfängliche Reit- und Pferdebibliothek – hätte es ein solches Buch wie das von Sibylle Luise Binder gegeben, ich hätte es verschlungen! Alles daran ist großartig. Die Bilder, das Fachwissen, der Stil – für Laien eine Fundgrube, aber auch waschechte Pferdemenschen (ich bin ja Schütze, also Zentaur…) lernen dazu.
Binder – die u.a. ein Buch über die legendäre wie dramatische Flucht der Trakehner unter Führung des Hengstes Julmond 1944 aus Ostpreußen geschrieben hat – war (sie ist 2020 verstorben, das Buch erscheint nun in dritter Auflage) eine exzellente Kennerin des weltweiten Zuchtbetriebs.
Zucht heißt verbessern, nicht nur vermehren, und: Zucht bedeutet, in Generationen zu denken. Anhand dieser Leitsätze wird hier unter anderem die Geschichte der deutschen Pferdezucht, auch in den verschiedenen Regionen und Landesgestüten nachgezeichnet – nicht zu vergessen die speziellen Züchterstories aus der DDR, wo das Pferd ein erstklassiger Exportschlager war. Die preußische Kavallerie benötigte einen anderen Typus Pferd als die Ritter des hohen Mittelalters oder die Soldaten der Weltkriege, und ein vollblütiger Araber erfordert eine andere Art Reiter als der österreichische Noriker, dessen Zucht durch EU-Subventionen leider derart auf den Hund gekommen ist, daß die Fohlen oft zum Pferdemetzger wandern.
Ins Buch eingestreut finden sich Porträts exzellenter „Starvererber“ und „Top-Beschäler“ (also Deckhengste), wie das Englische Vollblut „Heraldik“ aus Tschechien, das Bayerische Warmblut „Denario“ und den Westfalen „Rubinstein“, die ihr ausgezeichnetes Blut an hunderte Nachkommen weitervererbt haben. Nur Vollblüter decken heute übrigens noch vorgeschrieben per Natursprung – bei anderen Rassen wird meist künstlich besamt.
Absolut bombige Lektüre!
Sibylle Luise Binder: Pferderassen, Herkunft & Eignung, Temperament & Wesen, Kosmos 2023, 264 Seiten, 34 € – hier bestellen.
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Lesen
Was war für mich nun der Roman des Jahres 2023? Blue Skies von T.C. Boyle? Oder Schönwald von Philipp Oehmke? Beide waren und sind genial und ein Lesegenuß; sie sind einander auch sehr verwandt. In beiden Romanen geht es (grosso modo) um zeitgenössische Familienkonstruktionen, innerhalb derer die eine Fraktion nur „woke“, die andere aber „radikal woke“ ist – ganz verkürzt gesagt.
Gut, ich entscheide mich schmerzhaft für Oehmkes Schönwald: Wir haben hier ein Elternpaar jenseits der siebzig, originär konservativ „mit Brüchen“. Die Frau hatte „damals“ so ihre Ausbruchspläne. Ruth Schönwald ist eine klassisch-konservative Emanze. Wunderbar gezeichnet!
Drei Kinder haben diese Leute. Der Älteste ist renommierter Literaturprofessor in den USA, driftet aber insgeheim nach rechts. Und wie! Höllisch!
Der Jüngste ist hochbegabt, steht aber unter der Fuchtel seiner neurotischen Frau. Jede/r kennt diesen Typus: Ich – wir – die Kinder; es zählt allein meine Vorstellung von „Familie“; der Rest muß draußen bleiben.
Die Mittlere, die Tochter nun ist in furchtbaren „Gendertroubles“ befangen, sie ist eine Möchtegern-Lesbierin, die – das ist die Ausgangssituation – nun im hippen Berliner Kiez eine „queere“ Buchhandlung namens „they/them“ gründen will. Alles daran ist komisch, alles daran ist treffend!
Philipp Oehmke: Schönwald. Piper, 544 Seiten, 26 € – hier bestellen.
RMH
zu.1: Zum Thema "Netz" ist seit vielen Jahren alles gesagt, zu Ende gedacht, es tun sich nur noch laufend weitere Abgründe totaler Überwachung durch Verfeinerung der Auswertungsmöglichkeiten und KI auf. Das liest sich jetzt technikfeindlicher, als ich es eigentlich bin. Nur sollte man sich eben von Anfang an im digitalen Raum so verhalten, wie in einer Öffentlichkeit, bei der dutzende von Augen auf einen gerichtet sind. Ted Kazynski hat grundsätzlich alles damals gesehen. Lutz Dammbeck hat das Thema 2004 bereits mustergültig in einem Dokumentarfilm bearbeitet. Jeder kann also seit fast 20 Jahren von den Möglichkeiten wissen, doch Zensur verfeinerte nicht den Stil beim Verhalten im Netz - nein, es wird immer derber. Sieht man auch in den Debatten hier im Kommentarbereich auf SiN.
zu 2: Pferde --- ok, Punkt 3, hält dann doch noch etwas bereit, was mich mehr interssiert.
zu 3: T.C. Boyle lese ich nicht, da irgendwie den Stallgeruch des widerlichen John Irving auströmend (bei der Masse an Literatur lässt sich so ein selektives Verhalten rechtfertigen). Dann eben Schönwald. Vermutlich haben da aber auch alle Protagonisten tausende an herrlichen Problemen, aber nicht, wie sie sich durch den Druck der Job-Einöde quälen müssen "to make ends meet" ("I got bills"). Gut, so viel Alltag will man meist in der Literatur dann doch nicht lesen.