Lesen und Schauen
Ich nenne inzwischen eine kleine Sammlung von vorkonziliaren deutschen Bibelübersetzungen mein Eigen: diejenigen von Riessler/Storr und von Pius Parsch, die „Pattloch“-Bibel (Hamp/Stenzel/Kürzinger) und die alte Herder-Bibel. Die viertausend Seiten starke Allioli-Übersetzung habe ich nur in digitaler Form aufgrund des stolzen Preises.
Alexander Zwettlers Übersetzung des Neuen Testaments taugte mir bisher haptisch am meisten: auch von der Einbandfarbe her ein echter Ziegel, 60-er-Jahre-Schrifttype und kluge Fußnoten. Doch auch dieses gute Stück krankt trotz knapp vorkonziliarem Erscheinungsdatum leicht an Modernismus.
Und nun hat der Sarto-Verlag im letzten Jahr etwas Wunderbares getan: die Schöningh’sche Bibel neu herausgegeben! Diese Übersetzung, die in den 30er und 40er Jahren die kirchliche Druckerlaubnis erhalten hat (1936 für die Übersetzung des AT durch P. Dr. Eugen Henne und 1946 für die Übersetzung des NT durch P. Dr. Konstantin Rösch) und seitdem in mehreren Auflagen im Schöningh-Verlag erschienen ist, war ewig vergriffen.
Der Sarto-Verlag hat alle Mühe walten lassen, das Heilige auch in einer Gestaltung darzubieten, die auf alle drei Seelenvermögen des Lesers wirken kann. Der Verstand (auf der Suche nach dem Wahren) sucht nach Erläuterungen solcher Bibelstellen, die sich ihm – oft ganz alleingelassen, ungeschult und anfällig für aktualisierendes „Beweisstückesammeln“ – nicht von selbst erschließen können. Ihm sind die alten, nun neu durchgesehenen Fußnoten da oft Gold wert.
Ich kann allein noch so sehr „die Bibel lesen wollen“, es geht nicht ohne kundige Führung bei der Suche nach dem Guten. Die Wahl einer geeigneten Ausgabe (möglichst unverfälscht und unmodernisiert, dabei laientauglich und in geschliffenem, nur leicht aus der Zeit gefallenem Deutsch) ist schon einmal das erste Geländer, zu dem der Leser dankbar greifen kann. Sodann benötigt er beim Lesen selbst Gliederung und Struktur, die in der vorliegenden neuen „Schöningh“-Bibel durch kardinalrote Zwischenüberschriften in Großbuchstaben und äußerst übersichtlichem zweispaltigem Satz geboten werden.
Der Wille zum Lesen und „Dranbleiben“ braucht aber bei uns, die wir leicht ablenkbare Sinnenwesen sind, nun einmal noch ein zusätzliches Motiv, und das ist die Suche nach dem Schönen. Und wie die hier belohnt wird! Die 120 Illustrationen sind keine geringeren als die berühmten Stiche von Paul Gustave Doré (1832–1883).
Würde man seinen Kindern erlauben, diese Bibel durchzublättern, sie würden sich wohl für immer diese Bilder merken. Daß man aber ihnen besser liebevoll etwas vorblättert, versteht sich von selbst, sobald man das Dünndruckpapier, den rundumlaufenden Goldschnitt und das Gewicht in Händen hält. Der feste, aber nicht harte Balacron-Umschlag ist weinrot und zeigt vorn ein eingeprägtes stilisiertes Kreuz.
In jedem Fall lehrt mich diese gleichermaßen wahre, gute und schöne Bibel eines: wirklich ehrfürchtiges Lesen.
Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Sarto 2022, 2.240 Seiten, 59€ – hier einsehen und erwerben.
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Lernen
Mein ganzes Jahr stand im Zeichen Rußlands. Die Tagespolitik des Krieges war mir dabei stets nur Symptom von etwas Größerem, Älterem, Schwierigerem. Geopolitik und Geschichte liegen so dazwischen, ich lernte, Konturen abzustecken, maßzunehmen an nur scheinbar Überwundenem, die Zukunft Europas probehalber „russisch“ zu denken.
Innehalten lassen hat mein tastendes Denken dabei ein eigenartiges, fast kauziges Buch: Konstantin Leontjews Der Durchschnittseuropäer: Ideal und Werkzeug universaler Zerstörung. Zack, der Titel saß. Genauso wie sein terminus technicus „sekundäre simplifizierende Vermischung“ – dieser klingt vielleicht erstmal recht soziologisch, gibt aber messerscharf an, was das Urübel des seit zwei Jahren in den alternativen Medien so genannten „kollektiven Westens“ ist. Der „egalitär liberale Prozeß“ der Nivellierung ist auf einer abschüssigen Zeitachse unterwegs seit der Französischen Revolution.
Leontjews Buch ist auch deshalb eigenartig, weil er im Grunde lauter Bücher referiert, die er gelesen hat. Diese Vorgehensweise läßt schwere akademische Drögheit befürchten, was aber keineswegs der Fall ist, einfach deshalb, weil der Verfasser derartig sarkastisch über all jenen Zeitgenossen steht, die „überaus zufrieden mit der Tatsache (sind), daß alles in eine Richtung geht, zum Mittelmaß“.
Solche Lektüren müssen wir westlichen Gegenwartsbewohner ja auch dauernd ertragen, gesteigert noch durch denselben Tenor in den sozialen und asozialen Massenmedien. Leontjew dazu passend: „Ich wiege mich in der Hoffnung, daß neue Gesellschaften zu dem Zweck entstehen werden, die geistige Atmosphäre zu reinigen, einer Art philosophisch-ästhetischer Zensur, die eher ein grausames Buch (zur streng begrenzten Verbreitung) erlauben wird, als ein farb- und charakterloses.“
Wir stehen nun zwischen diesen beiden asiatischen Welten, zwischen den grausam-etatistischen Riesen China und dem tief mystischen Ungeheuer Indien einerseits und der wachsenden Hydra der kommunistischen Rebellion im Westen, jenem zweifelsohne ‚verfaulten‘ Westen, der allerdings noch überaus imstande ist, uns anzustecken und vieles mit seinen Konvulsionen der Agonie kaputtzumachen…
Diese Zeitdiagnose stellte Konstantin Nikolajewitsch Leontjew im Jahre 1912. Woher nahm er die prophetische Gabe? Ich denke, er brauchte überhaupt kein Prophet zu sein, denn er hatte die Gabe, Linien gedanklich zu verlängern – Linien, deren Ursprungspunkt er in allen Werken westlich-liberaler Denker, deren er irgendwie habhaft werden konnte, aufgespürt hat. Intuitiv verlängert er die Linien weit über seine Gegenwart hinaus, und wir Heutigen sehen, wohin sie führen sollten: und können sie beim Lesen wieder zurückgehen bis zu Leontjews punktgenauer Diagnose des „Durchschnittseuropäers als Ideal und Werkzeug universaler Zerstörung“.
Der Karolinger Verlag hatte den Durchschnittseuropäer bereits 2001 auf Deutsch in der Übersetzung von Jurij Archipow herausgebracht. Damals wurde das Buch noch in der NZZ und in der FAZ besprochen. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler regte diese Neuerscheinung zu dem unvergessenen Verdikt an, Karolinger sei ein „Verlag für Dunkelmänner“. In Zeiten der cancel culture werden solche „Dokumente ungezügelten reaktionären Denkens, das jegliche politische Korrektheit vermissen läßt“ (Felix Philipp Ingold in der NZZ) wohlweislich totgeschwiegen.
Die aktuelle, durchgesehene Ausgabe ist erweitert um einen zweiten Essay Leontjews, nämlich „Nationalpolitik als Werkzeug der Weltrevolution“ (in einer hundert Jahre alten Übersetzung von Hans von Ehrenberg), den sich die Verteidiger des Nationalstaats einmal nebenbei zu Gemüte führen sollten, um wenigstens zu ahnen, wem sie als Werkzeug dienen könnten. Vielleicht etwas Größerem, Älterem, Schwierigerem …
Konstantin Nikolajewitsch Leontjew: Der Durchschnittseuropäer. Ideal und Werkzeug universaler Zerstörung. Karolinger 2023, 168 Seiten, 18 € – hier bestellen.
Gracchus
Wie der Zufall will, schaue ich mich derzeit auch nach Bibel-Übersetzungen um, speziell der Psalmen, und hatte just vorgestern nach der Allioli-Übersetzung gesucht, welche Robert Spaemann als unvergleichlich bezeichnet. Ich nutze ehrlich gesagt derzeit hauptsächlich die Luther-Übersetzung. Ob Modernismus ein Kriterium ist? Empörend finde ich jedenfalls, dass für das Stundengebet die Psalmen von den Gewaltphantasien bereinigt wurden, so in einem Kloster erlebt.
Kommentar Sommerfeld: Modernismus ist ein Kriterium, wenn man veranschlagt, daß nicht erst eklatante revolutionäre Eingriffe wie "Gendersprache", "gerechte" oder "einfache" Sprache usw.hier zu Buche schlagen, sondern beispielsweise die "Einheitsübersetzung" den Hl. Paulus an "Brüder und Schwestern" schreiben läßt, Christus "Machttaten" statt "Wunder" vollbringt und die Evangelien laut Vorwort lange nach dem Jahre 70 n. Chr. von irgendwelchen Unbekannten niedergeschrieben und erst später den vier Evangelisten zugesprochen worden sind. Die auffälligste Veränderung in der neuen Einheitsübersetzung ist wohl, daß Gott nicht mehr "Jahwe" genannt wird, sondern "HERR" aus Respekt davor, daß im Judentum der Name Gottes nicht ausgesprochen werden darf.
Solche scheinbaren Details entgehen selbst vielen gläubigen Lesern, weil man logischerweise nicht ständig nur am Textvergleichen ist bei der Erbauungslektüre.