Lucien Chardon ist der Protagonist in Honoré de Balzacs dreiteiligem Roman Verlorene Illusionen (1837 – 1843). Als er sich nach einem Komplott, das seine bürgerliche Existenz gänzlich vernichtet zu haben scheint, das Leben nehmen will, wird er von einem mysteriösen Spanier, dem Abbé Carlos Herrera, gerettet.
Der Wohltäter erklärt dem lebensmüden Lucien, daß dessen Situation – es fehlen ihm rund zwölftausend Francs – in Wahrheit gar nicht so schlimm sei. Lucien müsse lediglich den kindlichen Blick auf die Realität abstreifen und lernen, hinter den Vorhang zu blicken, denn: »Es gibt zwei Arten von Geschichte: die offizielle lügenhafte Geschichte, die unterrichtet wird, die Geschichte ad usum delphini, und die geheime Geschichte, in der man die wahren Gründe der Ereignisse findet, eine Geschichte der Schande.« (1)
Der Abbé, der sich übrigens im Nachfolgeroman wie zum Beweis seiner Worte als Hochstapler entpuppt, liefert gewissermaßen das Motto aller Verschwörungstheorien: Nur der ungebildete Naivling traut kritiklos seinen Augen und Ohren, denn in Wahrheit sind die Dinge anders, als sie scheinen. Für den Zeitgeist ist das allerdings zu viel der Skepsis.
Konsequenterweise dient der Ausdruck »Verschwörungstheorie« heute vornehmlich zur Feindmarkierung: Wer Zweifel an den jüngsten Verlautbarungen öffentlich anerkannter »Experten« oder an den neuesten Ergebnissen »der Wissenschaft« anmeldet, wer laut überlegt, ob die Dinge nicht anders sein könnten, als man uns glauben machen möchte, läuft Gefahr, als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt und damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus dem öffentlichen Diskurs verbannt zu werden. Wenn es nach den Meinungswächtern geht, ist der Verschwörungstheoretiker als irrationaler Spinner und potentiell gefährlicher Extremist zu kennzeichnen, zu isolieren und aus der bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen.
Nun verhält es sich mit der realen Geschichte aber ganz so, wie es Balzacs Abbé ausspricht: Für jeden, der sich auch nur ein bißchen mit der Historie beschäftigt hat, dürfte klar sein, daß der Geist der Verschwörung in ihr geradezu allgegenwärtig ist. Drei von unzähligen Beispielen mögen dies in aller Kürze illustrieren: Die Cäsarenmörder, die Gaius Julius aus dem Leben und damit vom Herrscherthron beförderten, waren nicht nur Verschwörungstheoretiker, sondern auch höchst erfolgreiche Verschwörungspraktiker. Die Französische Revolution und das Ende des Absolutismus wären ohne die konspirative Maulwurfsarbeit der Freimaurerei undenkbar gewesen. Und auch die Attentäter des 20. Juli 1944 waren freilich Verschwörer, wenn auch gescheiterte.
Es ist nun eine gleichermaßen bemerkens- wie bedenkenswerte Tatsache, daß die Verschwörungen gegen Cäsar und Hitler allgemein als solche akzeptiert werden, wohingegen der Hinweis auf die Machenschaften der Freimaurer beim massenmedial abgerichteten Durchschnittsbürger zu einem Pawlowschen Empörungsreflex führen dürfte. Was ist der Grund für diese ungleiche Reaktion? Es kann nicht daran liegen, daß das klandestine Wirken der Maurerei während der Französischen Revolution historisch nicht hinreichend dokumentiert wäre. Das Gegenteil ist der Fall.
Reinhart Koselleck hat in Kritik und Krise (1959) die Logen im vorrevolutionären Frankreich nicht von ungefähr als »geheimen Innenraum im Staate« bezeichnet. »Unter dem Schutz des Geheimnisses« konnten die Maurer ihre Auffassung bürgerlicher Freiheit innerhalb der Logen verwirklichen, bevor diese Auffassung von dort nach außen diffundierte und schließlich zur politischen Wirklichkeit wurde. (2) Dieses Geheimnis muß inzwischen als gelüftet gelten.
Die Ungleichbehandlung der genannten Fälle dürfte vielmehr damit zu tun haben, daß die wenigsten in der Lage sind, sich eine Verschwörung anders vorzustellen als das ganz handfeste Komplott einer kleinen Gruppe, die, in einem Raum versammelt, gemeinsam einen konkreten Plan ausheckt. Dagegen verweist die Verschwörung im Wortsinne der Kon-Spiration auf ein geistiges Band, das auch zwischen Unbekannten gespannt sein kann und in der Lage ist, Raum und Zeit zu überbrücken.
Auf diesen Punkt haben jüngst die anonymen Verfasser des ursprünglich auf französisch erschienenen Konspirationistischen Manifests hingewiesen. »Die Verschwörung«, so schreiben sie, »benötigt ihrerseits kein Zusammenkommen ihrer Beteiligten. Sie schwebt. Ihr Element ist die Luft. Die Übereinkunft kann stillschweigend, unbestimmt bleiben, auch unfaßbar, wie eine Idee. Das ist übrigens das, was sie so gefährlich macht.« (3)
An der begrifflichen Verengung der abstrakten Verschwörung auf das konkrete Komplott hat vielleicht niemand so großen Anteil wie der österreichische Philosoph Karl Popper. In seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945), aus dem bezeichnenderweise George Soros seine Vision einer »Open Society« gewonnen hat, polemisiert Popper gegen die von ihm so genannte »Verschwörungstheorie der Gesellschaft«. (4)
Zweifellos, so Popper, gebe es vereinzelt Verschwörungen. Die Steuerung der Gesellschaft durch eine kleine Gruppe von Verschwörern sei dagegen völlig abwegig. Die Welt sei schlicht zu komplex, zu sehr von Zufall durchzogen sowie von konfligierenden Interessen und Absichten geprägt, als daß irgend jemand den Weltenlauf einfach so planen könnte. Daß Verschwörungstheorien Unsinn seien, zeige sich vor allem auch daran, daß die allermeisten realen Verschwörungen scheiterten. »Verschwörer«, so Popper, »genießen nur selten die Früchte ihrer Verschwörung«. (5)
Ganz abgesehen davon, daß es selbstredend ein Merkmal der gelungenen Verschwörung ist, nicht als solche enttarnt zu werden, ist Poppers Argumentation wenig überzeugend. Sie übersieht nämlich den bereits angesprochenen geistig-ätherischen Charakter der Konspiration, dank dem sie sich auf vielfältige, sogar scheinbar widersprüchliche Weise in der Wirklichkeit niederschlagen kann, ohne mit einem bestimmen Plan einer klar umrissenen Gruppe identisch sein zu müssen.
In diesem Sinne ist auch die Freimaurerei ein höchst undurchsichtiges Geflecht verschiedenster Gruppierungen, aus deren Tun sich aber zuweilen selbst für die Handelnden unerwartete Verschwörungssynergien ergeben. Dem konspirativen Wesen der Freimaurerei tut es daher keinen Abbruch, daß sich die Logen in ihren »Riten« (wie etwa dem Schottischen Ritus und dem Misraïm-Ritus) unterscheiden oder daß sie sich im Laufe der Geschichte sowohl mit republikanischen als auch mit kommunistischen Revolutionsbewegungen verbunden haben. (6) Worauf es statt dessen ankommt, ist – mit den Worten des Historikers Gustave Bord – »der freimaurerische Gedanke, der, sich ausbreitend, diese ganze Welt lenkt, ohne daß die meisten Freimaurer auch nur etwas davon wissen.« (7)
Lorenz Jäger hat diese freimaurerische Leitidee treffend als die der »völlig autonom gewordenen Menschheit« identifiziert. (8) Was die Logen demnach verbindet, ist der Wunschtraum einer schrankenlosen Selbstermächtigung des Menschen. Ihr Hauptfeind ist jede höhere Macht (sei es Gott, die Natur oder das Gesetz der Ahnen), die dem eignen Tun Grenzen auferlegt. Die Vorstellung jedoch, die Gesamtheit der welthistorischen Umbrüche sei durch eine freimaurerische Zentralinstanz wie am Reißbrett geplant und dann umgesetzt worden, ist eine Idiotie, die vom Wesentlichen ablenkt.
Ganz ähnliches läßt sich mit Blick auf die verschwörungstheoretische Kritik der Corona-Maßnahmen sagen. Die Vorstellung, daß ein kleiner Zirkel an Ultramächtigen – naheliegende Kandidaten, die im Netz diskutiert wurden, waren neben anderen Bill Gates, Georg Soros und Klaus Schwab – die (Inszenierung der) Pandemie von langer Hand geplant habe, um die globalistische Neugestaltung der Welt in Form eines »Great Reset« herbeizuführen, hält einer kritischen Überprüfung nicht stand.
Der Blogger Eugyppius, von dem die vielleicht klügsten Analysen zum weltweiten Maßnahmenirrsinn stammen, schrieb diesbezüglich in erfrischender Nüchternheit: »Die Lockdowns waren auf jeder Ebene exakt das, als was sie uns erschienen sind: irrsinnige, unlogische, sinnlose und chaotische politische Maßnahmen. Sie sind Kopfgeburten unbedeutender Regierungsfunktionäre mit einem Planungshorizont von höchstens zwei Wochen, die ihren eigenen Erfolg oder Mißerfolg anhand der Presseberichterstattung beurteilen und die die Öffentlichkeit als dummes Vieh betrachten, das in zweckdienliche Bahnen gelenkt werden muß.« (9)
Die Corona-Maßnahmen waren demnach wohl nicht das Resultat eines globalen Komplotts. Das zu akzeptieren schließt jedoch nicht aus, daß es sehr wohl eine geistig-ideologische Konspiration gegeben hat. Eine solche scheint man sogar annehmen zu müssen, will man erklären, warum sich so viele freiwillig der staatlichen Gängelei unterworfen haben, offenbar in der Überzeugung, daß Politiker, Presse und Pharmaunternehmen für alle stets das Beste wollen. Ein derartiges Verhalten ist nur begreiflich, wenn man berücksichtigt, daß die Menschen schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten durch eine schleichende Veränderung des Denkens, Sprechens und Fühlens für biopolitische Repressionen im Namen der Gesundheit empfänglich gemacht worden sind.
Zweifellos lief diese Verschwörung in weiten Teilen unpersönlich, systemisch ab. Mit anderen Worten: Offenbar ist es einer bestimmten Weltanschauung gelungen, die ideologischen Schaltstellen der Gesellschaft, das heißt vor allem Kultur, Presse und Universitäten, zu kapern. Wollten wir diese herrschende Ideologie auf einen Begriff bringen, fiele es schwer, etwas Treffenderes als die bereits im Zusammenhang mit der Maurerei erwähnte Vision einer völlig autonom gewordenen Menschheit anzuführen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei sowohl mit Blick auf Corona als auch auf Verschwörungen im allgemeinen betont, daß die ideologisch-systemische Konspiration keineswegs ausschließt, daß sie von handgreiflichen Verschwörungen einiger weniger Mächtiger flankiert wird. Schließlich sind es Figuren wie Soros und Schwab nebst Organisationen wie den Open Society Foundations und dem Weltwirtschaftsforum, die vor allem durch den Einsatz finanzieller Mittel entscheidend zum ideologischen Wandel der letzten Dekaden beigetragen haben.
Auf alle Fälle ist die Verschwörung in all ihren Varianten, vom handfesten Komplott bis hin zur ätherischen Konspiration, nicht denkbar ohne das Geheimnis, das Verschleiern, das Verbergen. So ist es nur natürlich, daß die herrschende Ideologie ihr konspiratives Wesen zu verheimlichen versucht, indem sie das öffentliche Nachdenken über Verschwörungen mit einem Tabu belegt.
Erstaunlich ist dagegen, daß sie andererseits die Wahrheit über sich selbst durchaus öffentlich ausspricht – allerdings nur im Modus der Fiktion. Als Thema popkultureller Imagination nämlich sind Verschwörungen geradezu allgegenwärtig. Man denke etwa an Dan Browns unfaßbar erfolgreichen Schundroman The Da Vinci Code (2003), in dem die gesamte Kirchengeschichte als das Resultat einer Fälschung entlarvt wird. Auch Computerspiele, Filme und Serien sind voller kleiner und großer Verschwörungen. So wird beispielsweise im Serienhit House of Cards (2013 – 2018) mit Kevin Spacey die US-Politik als ein einziges zynisches Spiel aus Korruption, Komplott und Intrige gezeigt.
Indem nun aber die Unterhaltungsindustrie die Wahrheit über den Verschwörungscharakter der Realität verkündet, verhüllt sie diesen zugleich. Denn die fiktionale Dauerinszenierung sorgt gerade dafür, daß Verschwörungen den Menschen als etwas bloß Erfundenes und damit Unwirkliches erscheinen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, daß Hollywood und Konsorten dem Publikum vor allem maßlos übertriebene Komplotte sinistrer Hintermänner präsentieren. Das wiederum trägt dazu bei, die unpersönliche, systemische Natur der Konspiration aus dem Reich des überhaupt Vorstellbaren zu verdrängen.
Im grandiosen Verschwörungsthriller Die üblichen Verdächtigen (1995) – auch hier spielt, sicher Zufall statt Verschwörung, Kevin Spacey eine der Hauptrollen – fällt der für den Plot im ganzen emblematische Satz: »Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.« Analog dazu besteht der vielleicht größte Erfolg der konspirativen Kräfte unserer Zeit darin, die Welt glauben zu lassen, es gäbe keine Verschwörungen.
Bleibt noch die Frage, wie Dissidenten mit der beschriebenen Situation umgehen sollten. Zu hüten gilt es sich vor allem vor hollywoodesken Verschwörungstheorien, die hinter jeder Ecke ein globales Komplott einer kleinen Machtelite vermuten. So zu denken hieße gerade, den herrschenden Mächten auf den Leim zu gehen. Außerdem sollte – soviel Popper muß dann doch sein – jeder intellektuell integre Verschwörungstheoretiker angeben können, unter welchen Bedingungen er seine Theorie als falsifiziert ansehen würde. Wer jeden Gegenbeweis selbst wieder zum Produkt einer Verschwörung erklärt, verbarrikadiert sich geistig und ist in der Tat nicht ernst zu nehmen.
Dagegen scheint es ausnehmend wichtig, einen seriösen Begriff der Verschwörung zurückzuerobern. Zu diesem Zweck sollte man gegenüber den historisch Ahnungslosen ebenso nüchtern wie kenntnisreich auf die zahllosen Verschwörungen hinweisen, die historisch bestens dokumentiert sind. Andererseits sollte man sich selbst und anderen den Unterschied zwischen konkreten Komplotten und ätherischen Verschwörungen klarmachen. Bei letzteren handelt es sich, wie wir am Beispiel der Freimaurerei gesehen haben, im Grunde um metapolitische Projekte, an denen Menschen zusammenarbeiten können, die sich weder begegnet sind noch jemals direkt miteinander gesprochen haben. Man bedenke, daß auch die Freimaurer einmal Dissidenten waren – und zwar äußerst erfolgreiche, wenn man den Gang der Geschichte betrachtet. Warum also nicht von ihnen lernen?
– –
(1) – Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen, übers. von Melanie Walz, München 2014, S. 789.
(2) – Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 21976, S. 60.
(3) – Anonym: Das Konspirationistische Manifest, Berlin 2022.
(4) – Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, Tübingen 71992, S. 111.
(5) – Ebd., S. 112.
(6) – Vgl. Lorenz Jäger: Hinter dem Großen Orient. Freimaurerei und Revolutionsbewegungen, Wien 32018.
(7) – Zit. nach Jacques Ploncard d’Assac: Das Geheimnis der Freimaurer, Stuttgart 1990, S. 48.
(8) – Jäger: Hinter dem Großen Orient, S. 136.
(9) – Zit. nach Martin Lichtmesz: »System und Pandemie«, in: Sezession 113 (2023), S. 16 – 19, hier S. 19.